6642015-1957_51_18.jpg
Digital In Arbeit

Amor; ergo sum

Werbung
Werbung
Werbung

Die Wirklichkeit des Lebens hält für den Menschen, der ein Fragender geblieben ist, die verschiedensten Zugänge zu einer tieferen Todeserfahrung offen. Daran ändert im Grunde auch nichts die offenbare Tendenz der modernen

Zivilisation, sowohl den Geruch der Armut als auch die strengen Bilder des Todes, wie sie noch das Mittelalter kannte, aus ihrem neonerleuchteten Bereich zu verbannen; denn kaum ein Sterben kann einsamer sein als jenes, das in den mit allem hygienischen Komfort ausgestatteten Krankenhäusern durchlitten Werden muß, und keine Form des Begräbnisses hat etwas Trostloseres als jenes schäbig-bürgerliche. Zeremoniell auf den großstädtischen'Friedhöfen,.das' sich kaum mehr die Mühe nimmt, den Charakter einer Massenabfertigung zu verbergen. Ja, die tausend Vorkehrungen, die so viele moderne Menschen getroffen haben, um das eigene Leben gegen jede Bedrohung durch Armut, Krankheit, Schmerz und Reue abzusichern, rufen im unvoreingenommenen Betrachter den Verdacht wach, daß so vieles an der zur Schau getragenen Lebenssicherheit, an der Ueberschätzung der bloßen Lebenswerte — eines der Kennzeichen der Stunde — nichts anderes ist als mühsam verhehlte Todesangst. Dieses Zeitalter, das durch eine internationale Gesundheitsorganisation gegen den Massentod durch Infektion — die Pest früherer Zeiten — und gegen die Kindersterblichkeit ankämpft, hält für den Durchschnittsmenschen eine andere Form der Todeserfahrung bereit: die des plötzlichen, heimtückischen, mechanischen Massentodes, wenn man das Unglück hat, etwa im Planquadrat eines Atombombenangriffes zu wohnen. Der letzte technisch geführte Großkrieg hat unsere Vorstellungen der auf diese Weise erwartbaren Wirklichkeit des Todes beträchtlich angenähert. Die willkürliche Handhabung des technisch perfekten Todes durch ein paar Politiker und Militärs hat unleugbar zwei Einengungen des geistigen Sehvermögens zur Folge: einmal, man will die lautlose, aber darum nicht minder grausame Aus- mordung des ungeborenen Lebens, die sich fast unverhüllt bei einem Großteil der zivilisierten Völker vollzieht, in ihrer düsteren Massenhaftigkeit als dem totalen Krieg ebenbürtiges Phänomen nicht zur Kenntnis nehmen. Zum anderen: der flächenhaft betriebene Massentod, für den es keine Fronten mehr gibt, scheint jener Denkrichtung recht zu geben, für die der Tod die restlose Vernichtung des höchsten Lebenswertes, nämlich des innerweltlich aufgefaßten Lebens darstellt. Dazu kommt noch, daß für den modernen Menschen der Tod bildlos geworden ist. Er lehnt es ab, sich ihn als der Knochenmann mit Sense und Stundenglas vorzustellen; weiß er doch aus einer wissenschaftlich unterbauten Körpererfahrung, daß der Tot mit uns geboren wird, daß wir unseren 'e eigenen Tod mit uns herumtragen. Sowohl die Verdrängung des Todes ins Private und in die unbegangene Grenzzone des Lebens, wie sie um eine ungerechtfertigt optimistische Zivilisatior mit ihren Lebensillusionen nahelegen möchte wie auch die ungeheuerliche Verdichtung des Todes, welcher der metaphysisch ertaubte Mensch von heute auf den Schlachtfeldern des totalen Krieges und in den politischen Vernichtungslagern ausgesetzt ist: Jede dieser extremen Situationen reicht für sich nicht aus, dem Menschen die eigentümliche Tiefe dieses beunruhigenden Phänomens erfahrbar zu machen. Selbst der allmähliche Verlust der Gleichaltrigen, mit denen man aufgewachsen ist, die unaufhaltsame Dezimierung der Generation, der man angehört, birgt für den todverschlossenen wie todübermächtigten Menschen von heute noch nicht den Stachel der Erkenntnis.

Wann also gerät der Mensch in die Zone echter Todeserfahrung? Nur dann, wenn er einen geliebten Menschen verliert, das Wort in dem weiten Sinne genommen, den die deutsche Sprache erlaubt. Gewiß, es ist jedesmal eine andere Qualität des Schmerzes, ob der Mensch nun seinen Vater, seine Mutter, seinen Sohn, seine Tochter, seinen Bruder, seine Schwester, seinen Gatten, seine Gattin, seinen Freund, seine Geliebte, seinen Kameraden verliert. Jedesmal sind wir im Wurzelgrund unseres Personseins getroffen. Jedesmal ist uns ein menschliches' DŲ unanspęechbar geworden. Wieder ist ein Flammenbogen der Liebe, der allein die Dunkelheit dieser Welt erhellt, erloschen, weil der Gegenpol ausgefallen ist; denn was heißt dies: ich liebe dich, anders als: du sollst immer bei mir sein, immer. Du, mein Du, sollst nie sterben. Beide Sätze gelten: amo te; ergo sum. Ich liebe dich; darum bin ich, und noch mehr die selige Umkehrung: amor; ergo sum. Ich werde geliebt; darum lebe ich noch einmal. Daß du mich liebst, stellt meine Daseinsrechtfertigung dar. Ich bin nicht allein, du bist nicht alleingelassen. Wir geben einander Zutritt in unsere Herzen. Wir beide sind einander. Wir sind an ein geheimnisvolles Stromnetz der Liebe angeschlossen. Diese Wahrnehmung der Geistperson im anderen — und nichts anderes meint das innerlich angetragene und angenommene Du- Wort — kann nicht einmal durch die Begierde und Lust des Geschlechtes verdunkelt werden. Wenn wir daher einen wahrhaft geliebten Menschen in den Tod hinein verlieren, dann ist damit jedesmal unser eigenes Sein, der Sinn unse res eigenen Lebens, mehr: der Sinn des Daseins überhaupt in Frage gestellt. Und wir begreifen schon an dieser Stelle, daß nur jene Philosophie, jene Religion die Wirklichkeit aussagt, die uns in der Stunde der äußersten Trostbedürftigkeit eine Antwort zu geben weiß, welche die Tränen stillt, welche die Schmerzerstarrtheit löst; denn darin besteht die andere Verschärfung der Todeserfahrung des modernen Menschen, daß wir Bescheid wissen über die Unmitteilbarkeit des Sterbens durch den, der es erleidet, über die Unmitteilbarkeit an den, der es mit-leidet. Wie soll sich der eine Teil der Wir-Gemeinschaft, die jede echte Liebe darstellt, jener Teil, der doch am Leben bleibt, rechtfertigen gegenüber dem Vorwurf der Treulosigkeit, gegenüber der Anklage, dės. Preisgegeb.enseins,. die der Sterbende zu erheben scheint? Erhebt sich da njcht an jedem Sterbebett und vor jedem offenen Grab das Gespenst der Vergeblichkeit jeder Liebe? Wie kann der liebende und bisher der Gegenliebe gewisse Mensch diese äußerste Prüfung seiner Liebeskraft bestehen? Muß er nicht verzweifeln? Enden nicht alle Pfade der Liebe in schwarzer Hoffnungslosigkeit? Stürzt doch scheinbar das, was bisher unserem Dasein die letzte, sicherste Stütze bot, die Liebe zum anderen Menschen, zusammen.

Versuchen wir, ehe wir zu einer Antwort ansetzen, noch einmal und tiefer das Wesen des Aktes der Liebe zu fassen! Dies weiß jeder, daß wir uns nicht ständig auf der Höhe der Liebe halten, nicht in jedem Liebesaugenblick der Innigkeit des Gefühles sicher sind. Noch mehr: zu jeder echt menschlichen Liebe gehört die Erfahrung, daß unsere Liebe noch mehr meint als das menschliche Antlitz, das sich uns liebend entgegenneigt, daß in uns allen eine Liebe grundgelegt ist, die ihr jeweiliges personenhaftes

Gegenüber überschreiten muß. Sagen wir es offen: im Menschen brennt ein Liebeshunger, der durch den anderen noch so geliebten Menschen /lie gestillt werden kann. Kann es sein, daß dieser unendlichen Liebeserwartung keine Erfüllung winkt? Daß es für den Menschen kein letztes, höchstes Du gibt, während doch die übrige Schöpfung als ein System sinnvoller Entsprechungen aufgebaut ist? Es ist sehr unwahrscheinlich. Ist vielmehr nicht jeder wahrhaft Liebende von der Gewißheit erfüllt, daß sich zwischen ihm und dem geliebten Menschen etwas Göttliches begibt? Daß sich über die ineinander verschlungenen Hände unsichtbar eine dritte legt? Daß der geliebte andere mir von einem anderen, uns beide Liebenden geschickt ist? Daß mein Du mir nur so weit gehört, als es ein anderes, höheres, geistigeres, liebenderés Du durchscheinen läßt? Daß wir, wenn wir wahrhaft lieben, in einem reicheren, wärmeren, stärkeren, dauernden Du geborgen sind? Daß alle menschliche Liebe mehr meint als atipendes Fleisch, als körperhafte Seele? Sie reicht offenbar hinüber, streckt sich über das irdische Leben hinaus. Diese Liebe ist stärker als der Tod. Sie ist getragen von der Hoffnung auf Unsterblichkeit. Für sie besteht der Tod nicht in der Vernichtung des geliebten Lebens, sondern er stellt für sie nur ein Tor dar, jenseits dessen eine andere Wirklichkeit beginnt. In den Aufgipfelungen des menschlichen Daseins — und dazu gehört die personhafte Liebe — ist der Mensch bereit, die Stufenleiter der Liebe und des Opfers, als welche die Schöpfung gesehen werden kann, über die sichtbare Welt hinaus fortgesetzt zu denken; denn dies meint noch als Letztes die wahre menschliche Liebe: ich will nicht nur, daß du nicht stirbst, sondern ich bin auch, wenn es notwendig ist, bereit, für dich zu sterben, damit du leben kannst.

Wie aber, wenn es eine solche unendliche Liebe gegeben hat, die dem Tode unser aller Leben durch ihren Opfertod bereits abgekauft hat? „Strahlender Arme Erbarmen" nennt sie der Dichter des Todes und der Auferstehung, Georg Trakl. „Und leise rührt Dich an ein alter Stein: Ich werde immer bei Euch ein!", sag', er ein anderes Mal. Erst wenn ein liebender Gott, ein in unseren verweslichen Leib gleichsam eingepflanzter Gott für uns alle gestorben ist und auch den Leib in Seiner Auferstehung mit in den Himmel gerissen hat, erst wenn diese unendliche Liebe — Christus Jesus — jeden Tag in der unblutigen Wiederholung des Kreuzesopfers uns sich selbst als leibhaftes Unterpfand der Unsterblichkeit zu essen gibt — welch unausdenkbare Garantie der Liebe! —, erst dann ist für uns der Satz wahr und wirklich geworden: Amor; ergo sum.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung