"... und noch einmal weit hinausfahren"

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Unsere Zeit ist keine Zeit der Sicherheit. Das merkt allmählich auch die ältere Generation. Sie braucht neue Ideale und (christliche) Zielvorstellungen für ihre Lebensführung.

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Unsere Zeit ist keine Zeit der Sicherheit. Das merkt allmählich auch die ältere Generation. Sie braucht neue Ideale und (christliche) Zielvorstellungen für ihre Lebensführung.

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Bei einer in den EU-Mitgliedstaaten kürzlich vergleichend durchgeführten Umfrage ergaben sich hinsichtlich der Bewertung der älteren Generationen überraschende Ergebnisse. 70 Prozent der im Eurobarometer Befragten sind der Auffassung, daß ältere Menschen in ihren Ideen und Verhaltensweisen zu sehr festgelegt seien. Nur ein Drittel der im europäischen Vergleich Untersuchten äußerten sich auf die Frage, ob ältere Menschen von den Jungen auch respektiert würden, positiv. Die europäischen Daten scheinen zu sagen: sozial und ökonomisch solle man die älteren Generationen weiterhin sichern. Das sei eigentlich die Pflicht der Jungen. Aber einstellungsmäßig klafft ein Graben auf. Die älteren Generationen werden - aus welchen Gründen auch immer - als Versorgungsgruppe respektiert, zumindest zur Zeit noch, da das System "hält" und nicht zerreißt. Aber als intergenerative Partner oder als ganz voll und ernst zu nehmende Bürger sind sie keineswegs gesichert. Da steht noch viel intellektuelle und politische Arbeit bevor, und gesellschaftliche Durchsetzung. Man muß also hinter die schönfärberischen Aussagen über die Stellung der Alten in unserer Gesellschaft leuchten, und da ergibt sich die Frage nach dem Bewußtsein und Selbstbewußtsein der älteren und alten Generationen. Welche Ideale gibt es für sie in unserer Gesellschaft?

Angesichts der gesellschaftlichen Einstellungsbefunde ist es wichtig, sich mit Altersidealen - alten (!) und neuen - auseinanderzusetzen: Um rund 2000 vor Christi Geburt schrieb etwa der Wesir Ptahotep, dessen Grabkammer in Sakkara bei Kairo heute noch zu besichtigen ist, an seinen Pharao: "Jetzt bin ich alt und möchte mich endlich von den Regierungsaufgaben zurückziehen". Der Pharao antwortete: "Hast Du Dich schon um einen Nachfolger gekümmert?" Das Wichtigste im Alter sei, daß man sich um Menschen bemüht, die man heranzieht und heranbildet. "Es ist Deine Aufgabe, daß Du, ehe Du zurücktrittst, Leute nominieren kannst, die Dich vertreten werden", lautete die Botschaft des Pharao.

In seiner Theorie der Lebensphasen stellte der vor einigen Jahren verstorbene amerikanische Tiefenpsychologe Erik Erikson als ein zentrales Alters-Ideal jenes der Generativität heraus. Er meinte damit, daß es die Aufgabe der Alten und Älteren sei, aus den Jungen etwas herauszulocken, ihnen etwas zu übertragen, sich also nicht nur generös zu ihnen zu verhalten, sondern mit der Übertragung von Verantwortung an die Jungen zu deren "Hervorbringung" beizutragen.

Der Psychologe Erikson bestätigt die Auffassung des Pharao. Es gibt also geschichtsübergreifende Alters-Ideale der Hochkulturen.

Wie stellt sich im Vergleich zum ägyptischen Beispiel das Generationenverhältnis, die Chance einer Generativität, in der Kulminationsphase der Antike, im Zeitalter des Augustus dar? Der Imperator Augustus ist der Herr eines - historisch unangemessen ausgedrückt - multikulturellen Reichs, in das nicht nur die Herrschaftsformen, sondern auch Gott und die Götter aus dem Osten einwandern und auf den römischen Altären Platz nehmen. Der Dichter und Freund des Imperators Augustus ist Vergil, der Verfasser der Äneis. Sein Held, ein adeliger Flüchtling, der diesem größten römischen Epos seinen Namen gab, ist Äneas. Auch dieser Held kommt, wie die Götter, aus dem Osten, aus dem von den Griechen eroberten und in Brand gesteckten Troja. Äneas führt seinen kleinen Sohn Julus an der Hand und trägt bei der Flucht den alten Vater Anchises auf dem Rücken.

Dieses in der bildenden Kunst besonders eindrucksvoll durch Gian Lorenzo Bernini vergegenwärtigte Geschehen der Rettung von Alt und Jung durch die mittlere Generation ist mit Hilfe einer späteren Szene in Vergils Äneis zu ergänzen: der auf dem Weg zur Gründung Roms verstorbene Vater Anchises wird in der Unterwelt, wo ihm der Sohn Äneas, um sich Rat auf dem Weg zur politischen Gründung zu holen, aufsucht, zum geistigen Ahnherrn der Ewigen Stadt und der friedensbringenden Herrschaft des Divus Augustus, des gotthaften Kaisers. Rom, Stadt und Reich, werden so geistig im Generationenbündnis begründet. Über die Brücke aus der Unterwelt ins Irdische holt sich Äneas vom "Schatten" des Vaters Verheißung und Segen.

Das Alter allein ist bei den Römern keine sozial tragfähige Kategorie. Die Generationen sind es. Alter ist für die Römer, anders als für die Stammesgesellschaften, die Frühformen der Menschheitsentwicklung abbildeten und das Alter als Führungskompetenz brauchten, Symbol der Vergänglichkeit und der Trauer über den Verlust von Erotik und Lebensgenuß.

"Sie sind nicht lang, die Tage des Weins und der Rosen.

Aus einem nebligen Traum steigt unser Pfad für eineWeile hervor und endet dort wieder."

So paraphrasierte Ernest Dowson Horaz, der im Jahr 8 n. Chr. verstarb.

"Fange, erfasse, nutze, ernte den Tag", war Horazens Gegenformel zum traurigen Alter: "Neidisch entflieht, während du sprichst, die Zeit: Ja nie trauernd, ob du morgen noch kannst, koste den Augenblick."

Rom bildete allerdings auch eine Alternative zu dieser Botschaft Horazens, des ersten Zeit-Philosophen Europas, durch das Altersideal der Lehre der Stoa aus. Dieses fußt in der aristotelischen Konzeption der Autarkia, der Fähigkeit des Menschen, sich selber eine Lebensordnung zu geben und daraus auch Unabhängigkeit zu beziehen. Wer sich selbst zu steuern vermag, kann nicht so leicht den Außeneinwirkungen und Impulsen des eigenen Biogramms unterworfen werden. Er bleibt souverän.

Die Römer brachten zu dieser Vorstellung des Aristoteles eine andere hinzu, die ihrer patriarchalischen und vom Administrationsgedanken geprägten Kultur besser entsprach. Es war das die "cura", die Sorge. Die neue Botschaft der Selbstsorge, die Verantwortlichkeit dem eigenen Leben, der Gesunderhaltung und Autarkie gegenüber, ist Ergebnis der römisch-griechischen Kultursynthese. Der Römer Hyginus hat durch seine Fabel von der Sorge, die das Wesen des Menschen begründet, indem sie ihn aus Lehm formt, auch die Konzeption des Daseins bei Martin Heidegger in seinem frühen Hauptwerk "Sein und Zeit" (1926) angeregt. Die antike Idee der Sorge, die der Gebrechlichkeit des Menschen gegenüber angebracht ist, wird durch die Zunahme der Lebenserwartung zu einer ganz entscheidenden Grundhaltung: als Stützungsbereitschaft und als anteilnehmende Haltung, sich und den anderen gegenüber.

Marcus Aurelius hat in seinem zu einem guten Teil im Feldlager bei Carnuntum geschriebenen Buch "Selbstbetrachtungen" im 2. nachchristlichen Jahrhundert die Position der Selbstsorge vertreten. Der Redner und Politiker Cicero hatte zu Cäsars Zeiten in seiner Gelegenheitsschrift "De senectute", worin auch er die Tugenden der Selbstgestaltung preist, die Notwendigkeit einer Bemühung der Alten um eine gewisse Annäherung an die Jungen betont. Aber es blieb bei Cicero im Grunde bei einer relativ undifferenzierten platonisierenden Aktivierungskonzeption als Altersideal. Ein neuer Generationenbegriff entstand nicht.

Welche Altersbotschaft vermittelte dem gegenüber das frühe Christentum? Im Unterschied zur Idee der Selbstsorge der Stoa, aber auch zu den Grundhaltungen des Genusses des Augenblicks bei Horaz, wurde die Sorglosigkeit gegenüber dem Irdischen in den Vordergrund gestellt: Die Lilien sorgen sich nicht und sind doch wundervoll gekleidet in ihrer Pracht. Diesen Primat der Hoffnung, den Vorrang des Himmels für alle zentralen Lebensfragen, hat das Christentum in unsere Welt eingepflanzt. Hat es auch die für den "langlebigen Menschen", der - so der Gerontologe Jim Birren - auf den Homo sapiens folgt, nötigen Impulse für Selbstsorge, Lebensplanung, wozu die klassische Philosophie der Griechen und Römer dezidierte Vorstellungen entwarf, aufgenommen und vermittelt? Die Antwort ist Nein.

Die Botschaft des Christentums brachte zwei wichtige Elemente für das Alter: Erneuerung in jeder Lebensphase und ausdrücklich auch im späten Leben, wie Jesus dem alten Pharisäer Nikodemus im dritten Kapitel des Johannes-Evangeliums erklärt, daß er neu geboren werden müsse. Worauf der alte Mann sagt: ich kann doch nicht in den Schoß meiner Mutter zurückkehren und neu geboren werden. Jesus hält ihm entgegen: Du willst ein großer Lehrer in Jerusalem sein und verstehst das nicht? Ich habe etwas anderes gemeint: Die Neugeburt aus dem Geist, die Dir das Andere des Menschseins, das erlöste Dasein und dessen Zugang zum Himmelreich erschließt.

Die Erneuerungsbotschaft des Christentums ist vielleicht ein Aufgreifen von Mysterien-Traditionen und setzt sie in Verbindung mit Gestalt und Botschaft Jesu. Nach dem Vierten Evangelium ist die Botschaft der Neugeburt ausdrücklich an einen alten Menschen gerichtet, wenngleich sie auch für die Jungen gelten soll. Aber die eben am Beispiel des Hyginus beschriebene Sorge, die Nachhaltigkeit, sich mit der Daseinsform des Körperlichen und der Veränderung als mühsamer Höherentwicklung zu beschäftigen, das hat das frühe Christentum, das endzeitlich gestimmt war, und das sich dem Alter nicht besonders zuwandte, uns nicht vererbt. Das Christentum förderte eine generelle Haltung der "Alters-Irrelevanz". Es hatte kein Interesse an irdischer Lebensentwicklung. Es wandte sich nicht dem zu, was in der zeitgenössischen Sozialphilosophie als eine ihrer Grundlagen "vernunftgeleitete Eigenvertretung" genannt wird. Schon Nietzsche wähnte, daß uns das Christentum um die "Ernte der antiken Kultur gebracht" habe.

Vielleicht machen östliche Religionen auch deswegen im Westen heute Karriere, weil sie eine kombiniert körperlich-spirituelle Lebensführung samt Regeln vorgeben. So konzipierte der Taoismus die Langlebigkeit als Entwicklungschance für Unsterblichkeit, indem der Mensch sich im Alter - wie das Metall in der Alchemie - zu einem immer mehr und mehr veredelten Wesen herausbildet. Aus dem minderen Metall des Berufslebens, der Alltagssorge unserer mittleren Lebenszeit, müsse sich, können wir folgern, das höhere Metall eines späten Lebens herausbilden.

Unsere Zeit ist keine Zeit der Sicherheit, aber sie erlaubt schon von der Arbeitssituation aus, von der Selbstbestimmung her mehr Alternativen: Sabbaticals, Bildungsurlaub, Phasen des Rückzuges aus dem Beruf, um zu lernen und neue Kompetenzen zu erwerben, sind Beispiele hierfür. Aber hiezu muß sich schrittweise auch Selbstsorge herausbilden. Kann sie die Alchemie der Verwandlung leisten?

Vielleicht ist der Bau einer Architektur des Muts für neue Altersideale ein Weg. Die Freiheit ist dem Menschen, dem alten Menschen, dann zumutbar, wenn er über Quellen des Vertrauens und des Sich-Anvertrauens verfügt. Woher kann das Vertrauen der Älteren zu sich und zu den anderen Generationen kommen? Die französische Philosophie, wie sie durch Emmanuel Levinas ausgedrückt wurde, enthält einen Schlüssel dazu. Vertrauen und sich anvertrauen kann der, der den anderen Menschen als einzigartig, als ganz besonders sieht, was zum Beispiel in einer alternden Ehe nicht so leicht ist. Was in langjährigen Beziehungen große "archäologische" Arbeit bedeutet, um immer wieder das Eigene und das Besondere des anderen auszugraben, und um nicht am Alltäglichen zu ersticken und an den stets wiederholten Fehlern. Das ist der Fund dieser "Grabungen", was Levinas das Antlitz nennt, das Antlitz des anderen, wodurch Mut zum Fremden und damit zu sich selbst gefaßt werden kann.

Es ist sehr paradox, durch den Ausweg und Umweg aus dem Gewohnten Nähe zum Fremden zu finden. Im Alter müßte der Mensch, befreit von den Zwecken der Selbstdurchsetzung im Beruf, Kraft für die Nähe zum Fremden finden. Waren die Sichten auf den Anderen durch diese Zwecke der Selbstdurchsetzung und den Kampf mit sich selbst, sie zu erreichen, verdeckt, so könnten sie jetzt freier werden. Die Chancen der Individualisierung werden nur durch eine verbesserte, befreite Sicht auf den anderen ergriffen werden können, sonst bleibt es bei blind-stumpfer Ego-Sucht.

Sind solcherlei Lebensklugheit, Selbstkontrolle und Reifungsbereitschaft alles, was die neuen alten Generationen im Behauptungs- und Festigungsprozeß einer pluralistischen Gesellschaft, in der man sich um Positionen verstärkt bewerben und abkämpfen muß, erlangen können?

Gibt es noch etwas jenseits von Lebensklugheit als Steuerungsinstanz für die Gestaltungsfähigkeit des Alterns? Gibt es etwas jenseits der geglückten Reflexivität und Risikobereitschaft im späten Leben?

Kann der immer bewußter werdende ältere Mensch, sofern er durch Bildung, eigene Bemühung und gute finanzielle Ressourcen zum Nachdenken begünstigt ist, sich Antworten geben auf die Fragen nach den sogenannten letzten Dingen? Warum er leidet, sterblich ist? "Kann der Mensch leben", fragte Franz Kafka, "ohne das dauernde Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem?" Vertrauen ist eine zwar nicht unvernünftige, aber die Vernunft überschreitende Haltung.

Was kann ein vertrauenerweckendes, in der Ungewißheit einer postkulturellen Daseinssituation stützendes Altersmodell sein? Wenn wir um etwas mehr als 200 Jahre zurückblättern, finden wir in einem Brief von Wolfgang Amadeus Mozart eine klare Bestimmung eines hohen Maßes von Vertrauen: "Da der Tod das Ziel unseres Lebens ist, so habe ich mich mit diesem wahren Freund des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern Beruhigendes und Tröstendes. Und ich danke meinem Gott, daß er mir das Glück gegönnt hat, ihn als Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennenzulernen. Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, daß ich vielleicht den anderen Tag nicht mehr sein werde, und es wird doch kein Mensch sagen, daß ich im Umgang mürrisch und traurig wäre. Für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer."

Wie denn umgehen mit dem heutigen weitgehenden Verlust eines solchen tiefen Vertrauens in ein Aufgehoben-Sein nach dem Tode? Denn nach dem düsteren Kyrie, das er für sein eigenes Requiem schrieb, läßt Mozart auch andere Töne, solche der Erlöstheit erklingen. Heißt nicht Alterskultur, heißt nicht auch dieses späte Sich-selber-Finden, ein Verhältnis zur eigenen Endlichkeit gewinnen? In Gelöstheit?

Vielleicht können wir Soren Kierkegaard verstehen, der uns empfahl, im späten Leben, nach der ethischen Phase, etwas lockerer, freundlicher, verzeihender zu sein. Er fand, daß zwei Dinge das hohe Alter formen könnten: Erstens - das mag paradox erscheinen - Humor und zweitens Religiosität. Diese aber bestimmt er so, daß ihre Grundhaltung sich nicht auf die Unendlichkeit, sondern auf die Endlichkeit richtet. Es ist ein paradoxer Gedanke, sich mit der eigenen Endlichkeit als religiöser, als geistiger Aufgabe auseinanderzusetzen.

Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus den hier versuchten Vergegenwärtigungen von zum Teil historischen Idealen für das späte Leben ziehen? Die großen Bilder für das Alter in der europäischen Tradition enthalten neben stark resignativen Tendenzen, welche schon die Antike entwarf, die wiederholte Einmahnung von Selbstsorge als Leitempfehlung für die Lebensführung. Spätes Leben, so kann man daraus für unsere Gegenwart folgern, wird nur im Kampf um die eigene individuelle Souveränität erträglich. Dieses späte Leben kann als passives oder sich unterwerfendes Ausruhen weder zu Glück noch zu Erfüllung führen. Die in der allgemeinen Alters-Resignation in der Antike aufblitzenden Mahnungen, den Augenblick, den Moment, in dem eine Erweiterung des Daseins möglich wird, zu nutzen, müßten dieser Selbstsorge beigeschlossen werden. Der Augenblick, in seiner Wurzel gelebt, enthält die Ewigkeit.

Lebensglück ist eine Erfüllung, die beides zur Voraussetzung hat: Selbstbegrenzung einerseits und Ausweitung in die Tiefe des Augenblicks. Als Alternative zur mittelalterlichen "ars moriendi", der auf Rückzug bedachten Kunst, das Leben zu beschließen, wäre eine "ars viviendi" als eine "Lebenskunst angesichts der Endlichkeit" für das Alter zu empfehlen. Das aber bedeutet bei kritischer Selbstreflexion einen - so Gesundheitseinbußen ihn nicht erdrücken - auch im Alter ungebrochenen Lebens- und Entfaltungswillen. "Des Todes sicher, nicht der Stunde wann" (Michelangelo Bounaroti) wäre so im Alter auch als lebensintensivierende Hintergrundsfolie aufzufassen.

Der Wert der christlichen Botschaft der Alters-Irrelevanz - nur die Kinder verdienen nach den Evangelien gesonderte Zuwendung - ist dann positiv zu sehen, wenn die Gleichbewertung aller Teilgruppen und Rollen der Gesellschaft als Diskriminierungs-Verbot aufzufassen ist. Jung darf demnach nicht alt und alt nicht jung diskriminieren und benachteiligen. Das sagte schon der Stoiker Paulus. Der Mensch, auch im Alter, ist nach der Botschaft des Johannes-Evangeliums spirituell erneuerungsfähig. Dem Christentum und seiner (impliziten) Lebensvorstellung fehlen Elemente einer körperbezogenen Dauer-Intervention zwecks Ermöglichung von geistigen und psychischen Veränderungen im späten Leben. Wenn die kirchliche Seite des Christentums hier für eine gleichsam nachträgliche Rehabilitation des Körperlichen sich freimachen kann, wäre es nötig, diese auch formell als neue christliche Zielvorstellung für den langlebigen Menschen zu integrieren.

Noch etwas kommt als Altersideal hinzu: eine neue Risiko-Bereitschaft. In seiner Novelle "Der alte Mann und das Meer" beschrieb Ernest Hemingway einen alten Fischer, der spät im Leben die große Beute eines mit letzter Kraft gefangenen, respektablen Fisches heimbringen will. Aber auf der Heimfahrt, nachdem ihm endlich der Sieg über den mächtigen Fisch gelungen war, wird er von Haien bedrängt, welche den neben dem Boot mitgeschleppten, getöteten Fisch bis auf die Knochen abnagen. So kehrt der Alte nur mit einem Skelett in den Hafen heim: "Ich bin zu weit hinausgefahren" sagt der alte Mann, aber er scheint es ohne Bedauern zu sagen. Mit letzter Kraft willigt er in die Bilanz von Gewinn und Verlust ein.

Das Alter ist in diesem Sinn als Risiko-Unternehmen in einer Risiko-Gesellschaft (Ulrich Beck) zu verstehen. Die Lehre wäre, den Verlust der Beute, nämlich die Lebenssicherheit zu riskieren, also weit hinauszufahren und nur mit dem Beweis seines Kampfes, also ohne (vermarktbaren) Gewinn in den Hafen zurückzufinden, und so sein Ende zu leben.

Wagen und Ertragen sind wohl die Tugenden, die in einem Altersideal der neuen Langlebigkeit werden enthalten sein müssen: Sie müßten auch den Blick, den versuchten, auf das "Antlitz des Anderen" (Emmanuel Levinas) einschließen. Durch die Generationenvielfalt der altersbunten Gesellschaft und durch die Ungewißheit aller Ordnungen entstanden unabschätzbar gewordene Verantwortlichkeiten. Es gilt, sie im einzelnen sowohl sozial, als auch politisch und ökonomisch zu bearbeiten, für sie zu kämpfen.

Der Autor ist Professor für Soziologie und Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung in Wien.

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