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Gibt es christliche Dichtung?

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„Gegen Prinzen und Päpste zu kämpfen ist leicht, verglichen mit dem Kampf gegen die Massen, gegen die Tyrannei der Gleichheit, gegen die Fratze der Oberflächlichkeit, des Unsinns, der Niedrigkeit und Bestialität...Die Nivellierung ist nicht eines Einzelnen Handlung, sondern ein Reflexionsspiel einer abstrakten Macht. Wie man die Diagonale im Parallelogramm der Kräfte berechnet, so kann man das Gesetz des Nivellements berechnen. Denn der Einzelne, der einige nivelliert, wird selber wieder mitgenommen und so weiter. Während deshalb der Einzelne selbstsüchtig zu wissen scheint, was er tut, muß man von ihnen allen zusammen sagen: sie wissen nicht, was sie tun...Man beschwört einen Dämon herauf, den kein Einzelner bewältigen kann; und während der Einzelne im kurzen Augenblick der Nivellierungssucht selbstisch die Abstraktion genießt, unterschreibt er zugleich seinen eigenen Untergang. Das Vorwärtsstürmen der Begeisterten kann mit Untergang enden, aber der Sieg des Nivellierenden ist eo ipso sein Untergang. Kein Zeitalter, und darum auch das unsere nicht, kann die Skepsis der Nivellierung hemmen, denn in dem Augenblick, wo sie ihr Einhalt tun will, wird diese wieder ihr Gesetz entwickeln. Sie kann nur dadurch aufgehalten werden, daß das Individuum in individueller Aussonderung die Unerschrockenheit der Religiosität gewinnt.“ Sören Kierkegaard

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„Gegen Prinzen und Päpste zu kämpfen ist leicht, verglichen mit dem Kampf gegen die Massen, gegen die Tyrannei der Gleichheit, gegen die Fratze der Oberflächlichkeit, des Unsinns, der Niedrigkeit und Bestialität...Die Nivellierung ist nicht eines Einzelnen Handlung, sondern ein Reflexionsspiel einer abstrakten Macht. Wie man die Diagonale im Parallelogramm der Kräfte berechnet, so kann man das Gesetz des Nivellements berechnen. Denn der Einzelne, der einige nivelliert, wird selber wieder mitgenommen und so weiter. Während deshalb der Einzelne selbstsüchtig zu wissen scheint, was er tut, muß man von ihnen allen zusammen sagen: sie wissen nicht, was sie tun...Man beschwört einen Dämon herauf, den kein Einzelner bewältigen kann; und während der Einzelne im kurzen Augenblick der Nivellierungssucht selbstisch die Abstraktion genießt, unterschreibt er zugleich seinen eigenen Untergang. Das Vorwärtsstürmen der Begeisterten kann mit Untergang enden, aber der Sieg des Nivellierenden ist eo ipso sein Untergang. Kein Zeitalter, und darum auch das unsere nicht, kann die Skepsis der Nivellierung hemmen, denn in dem Augenblick, wo sie ihr Einhalt tun will, wird diese wieder ihr Gesetz entwickeln. Sie kann nur dadurch aufgehalten werden, daß das Individuum in individueller Aussonderung die Unerschrockenheit der Religiosität gewinnt.“ Sören Kierkegaard

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In Ihrem Buch mit dem nachdenkenswerten Titel: „Bürger in Zeit und Eurigkeit“, in dem Sie über Ihren Werdegang berichtet haben, steht der Satz: „Ich kann schriftstellerische Arbeit nur im Rahmen einer gesamtmenschlichen Verpflichtung gelten lassen und halte sie für fragwürdig, wo sie zugunsten einer internen Problematik ihre selbstverständlich sittliche und religiöse Ausrichtung verliert.“ In diesem Satz liegt für mich die Quintessenz dessen, was Sie in der langen Reihe Ihrer Bücher, was Ihre Gestalten — die Priester, die Offiziere, die Mächtigen und die Ohnmächtigen — ausgesagt haben, was sie getan haben und was ihnen widerfahren ist.

Wenn Sie nach der Quintessenz in der Vergangenheit, die da aufgereiht Ist, fragen, sage ich: ja. Denn was sind sie alle, die Offiziere, die Priester, die Traufigen und die Hoffnungsvollen, die dem Bösen Verfallenen, die dem Guten Verpflichteten? Doch nichts anderes als Kundschafter des eigenen Ichs, einmal ausgesandt in immer neue Welten, Zeiten, Erfahrungen, um immer das gleiche Geheimnis bemüht: „wie es im geistigen Sinne noch zu leben möglich ist“, so hat es Hugo von Hofmanins-thal ausgedrückt. Ich würde hinzufügen: wie das Leben, auch das banalste, und die Offenbarung in Einklang zu bringen wären.

Sie haben von der „Quintessenz in der Vergangenheit“ gesprochen. Und die Gegenwart? Ist es nicht das gleiche?

Mir ist keine andere bewußt. Das heißt, wenn ich überhaupt etwas über die Essenzen meiner Arbeiten weiß. Das ist bestimmt nicht viel, denn ich habe immer nur gearbeitet und es anderen überlassen, eine Theorie darüber aufzustellen.

Das Zitat, von dem wir eben ausgegangen sind, weist doch auf den Begriff des „christlichen Schriftstellers“ hin. Mit dieser — verzeihen Sie — „Spezies“ bringt mon Ihr Werk doch immer in Verbindung.

Nun, ich mag es nicht, wenn man mich mit der Schnellfertigkeit, die der heutigen Kritik eigen ist, als christlichen Schriftsteller abtut. Man sollte es tun... man könnte es tun, wenn man das Christentum ernst nähme, denn dann nähme man auch den christlichen Schriftsteller ernst. Aber man hat nichts dagegen unternommen, daß dieser Begriff längst zur Schablone geworden ist. Was will er anderes bedeuten als die Kennzeichnung eines Autors, dessen Werk die Beziehung zur Transzendenz und die Verantwortung vor der Transzendenz nicht verliert? So gesehen — bin ich ein christlicher Schriftsteller. Aber ich bin kein christlicher Apologet, kein Katechet, kein verlängerter Arm aus einer Sakristei, kein Lautsprecher der Kanzeln, gleich welcher Bekenntnisse. Julien Green, von dem ein kluger Mann gesagt hat, man sollte manches von ihm — aus Bewunderung, nicht aus Anbetung! — „auf den Knien lesen“, hat in einem seiner Tagebücher einmal gesagt: so wie ein Tisch aus Holz gemacht wird, so werde ein Roman mit Sünde geschaffen. Das ist richtig. Und ich habe nach meiner Lebenserfahrung keinen Anlaß, Julien Green zu widersprechen.

Es .gibt, so scheint es mir jedenfalls, zwei Möglichkeiten, christlicher Autor zu sein. Inhalt und Wesen seiner Dichtungen können sich mit dem Glaubensgut der christlichen Offenbarungsreligion decken, oder der Autor „ist“ Christ, was dann aus allem, was immer er tut, hervorleuchtet.

Damit rühren Sie an die wesentliche Spannung in dem, was gemeinhin „christliche Dichtung“ genannt wird, oder — meinetwegen — „christliche Kunst“ überhaupt. Ihr Wesen, ihre Einzigartigkeit ist, daß sie einmal überhaupt nicht im Sinne des „l'art pour l'art“ für sich da ist, sondern nur im Spannupgsverhältnis mit dem „außer ihr“; und daß sie anderseits die höchsten normativen Qualitäten des Könnens, der Kunst, des Ästhetisch-Meßbaren wie anderseits der dem Glauben vorgestellten Offenbarungsinhalte wiederzugeben hat. Christliche Kunst befindet sich unaufhörlich im Totalaspekt zwischen dem transzendenten Schöpfer und dem Geschöpflichen und Geschaffenen. Kein einziger Teilaspekt bleibt ihr erspart oder ist ihr verwehrt und liegt für sie unter einem Tabu. Weder das Soziale noch das Soziologische, das Erotische, das Sexuelle, das Kri*--' minelle.

Also die ganze Weltfülle!

Ja, natürlich. Denn wie sollte dieser Autor den Einbruch der Transzendenz in das irdische Leben — um den es gegebenenfalls ja geht — überhaupt darstellen können, wenn er zunächst nicht die reale Welt in ihrer Beschränktheit, ihrer Niedertracht, ihrer Jämmerlichkeit dargestellt hat? Es gibt heute natürlich eine gewisse Richtung von Literaten, die — ich nenne sie „Bekehrungsliteraten“, einzig von dem Schlamm ausgehen und über dem Schlamm dann die Sonne der Offenbarung autgehen lassen. Oder jene Autoren, die in der „litterature noire“ wohl die ganze Heillosigkeit ausbreiten, aber im Grunde genommen das nicht darstellen können, was tatsächlich darzustellen sehr schwer ist: den Einbruch der Gnade in eine verrottete, in eine heillose Welt. Ich betone: eine Beschränkung wird nicht auferlegt. Solange die Darstellung ihre Fixierung am Übernatürlichen nicht verliert, ist jede — dafür sind Geschmacksmaßstäbe gültig — Schilderung des Natürlichen möglich, ja sogar erforderlich. Denn das Übernatürliche — im Sinne des alten Luther-Wortes „Gott liebt nicht die Reinen, die meisten zieht Er aus dem Schlamm empor“ — ist eigentlich das, was man als die fortwirkende Erlöisungstat Gottes an der Menschheit, die auch geschichtlich sichtbar wird, darstellen kann. Ob das die — ich möchte sagen — beinahe rabiate „christliche“ Literatur leistet, möchte ich zumindest in Frage stellen. Ich denke an manche französische, auch englische Romanciers, am Katholiken, und auf evangelischer Seite etwa an die Schweden — die, um ja nichts auszulassen, mit den drastischsten Mitteln des Naturalismus sexuelle Sachverhältnisse darstellen und ihnen auf der letzten Seite eine christliche Deutung geben, mit der sie die „Rechtfertigung aus dem Glauben“ zu erzielen meinen. Zu dieser Art „christlicher“ Schriftsteller zähle ich mich nicht.

Der Mensch, so lautet die tiefsinnigste Definition, ist geschaffen „ad imaginem et similitudinem Dei“: nach Gottes Bilde und zur Gottähnlichkeit hin. Darin liegt seine tiefste eigentliche Pflicht als Mensch und seine größte Freiheit in der Wirklichkeit, auch als Gefangener der eigenen Institutionen, die er selbst geschaffen hat, zum Beispiel den Staat...

Pflicht und Freiheit stehen aber immer in einem gewissen Widersprach zueinander. Ebenso Kunst und Religion. Wenn Green die schöpferische Leistung eine Sünde nennt oder die Sünde für daran beteiligt hält...? Sie kennen die Auffassungen, nach denen rundheraus bestritten wird, daß Religion und Kunst etwas miteinander zu tun haben können.

Ja, hier wird die Kunst in einen Gegensatz zur Offenbarung oder zum Glauben gedrängt. Solcher Purismus ist mir wesensfremd: ich sehe die Kunst auch nur als eine der vielen Emanationen der bildnerischen Ausdruckskraft, die letztlich von Gott ausgeht, und kann mich im Grunde genommen nur glücklich fühlen, für das wirken zu können, was sich Im Glaubensleben abspielt. Den „fünften Evangelisten“, Johann Sebastian Bach, verketzern zu wollen, weil er die Offenbarung mit den Mitteln der Kunst weiterträgt, das ist ein puristischer Calvinismus, der mit der Weltfülle der Dichtung, der Musik, der bildenden Kunst nicht zu tun hat. Sonst könnten Sie ruhig zweitausend Jahre christlicher Kunst ausstreichen! Streichen Sie Michelangelo, streichen Sie Grünewald, streichen Sie Dante, streichen Sie alles, was wir dem modernen christlichen Roman der Franzosen — Peguy, Bernanos —, was wir der christlichen-existenziellen Philosophie eines Seren Kierkegaard verdanken. Kehren wir dann zu den schönen unbeseelten Leibern eines Phidias und seinesgleichen und zu den vorsokratischen Autoren zurück. Eine Kunst, die zum erstenmal an sich selbst und außer sich selbst den Himmel und den tun des Menschen willen gekreuzigten Gott entdeckt — ist in ihrer Menschlichkeit für immer gezeichnet, für immer entehrt und für immer gewürdigt und gerettet. Aber der im göttlichen Vorbild leidende und sterbende und mit der Gewißheit der Auferstehung gestorbene tote Mensch ist eben auch Träger einer neuen Würde, die bis zur Zeitwende nicht vorhanden war und auch gar nicht gewußt worden war.

In einer der vielen Rezensionen Ihrer Bücher fand, ich den Satz: „Hier ist kein Raum für Nihilismus und Verzweiflung...“ Das heißt doch, andersherum ausgedrückt, Sie leben aus einer großen Glaubensgewißheit heraus. Ich zweifle aber, ob das schon immer so gewesen ist. Und Ihr Lebenslauf widerspricht diesem Zweifel nicht. Ich meine, die äußeren Wege müssen doch ihre Spuren hinterlassen im Inneren...

Ich will mich nicht hinter „meinem Heiligen“ — sozusagen — verstecken, wenn ich Ihnen mit Martin Luther antworte: „Dieses Leben ist nicht ein Wesen, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung; wir sind es noch nicht, wir werden es aber; es ist noch nicht alles getan oder geschehen, aber es ist in Gang und Schwang. Es ist nicht das Ende, aber es ist der Weg.“ Das ist... ... eine durchaus umfassende Antwort.

Es ist das „Stirb und Werde der Reformation“, wie mir der greise Romain Rolland einmal aus Ville-neuve begeistert nach Estland geschrieben hat

Im Verlag der „Arche“, Zürich, sind die folgenden Werke von Edzard Schaper erschienen: Untergang und Verwandlung (Betrachtungen und Reden), Die Weihnachtsgeschichte, Finnisches Tagebuch, Vom Sinn des Alters, Nikodemus, Die Heiligen Drei Könige, Einer trage des anderen Last. — Im Verlag der „Arche“ erschien auch das Buch von Lutz Besch „Gespräche mit Edzard Schaper“ (112 Seiten). Es enthält außer einer Chronologie des Schaffens auch ein Verzeichnis der von Schaper besprochenen Schallplatten und Tonbänder sowie der Literatur über Schaper.

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