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Beim Wiederlesen von Mauriac

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Ich lese zur Zeit Korrektur für die Auflage meiner gesammelten Werke. Das zwingt mich dazu, mich selber wieder zu lesen, und da fällt mir manch eine Stelle auf, die non der Gnade handelt — je älter ich wurde, desto seltener freilich. Noch in „Sagouin“ ist von ihr, wenn auch spärlich, auf den letzten Seiten die Rede. In „Galigai“ aber muß man bis zum letzten Satz, ja bis zum letzten Wort ausharren, um zu ahnen, daß das Schicksal einer meiner Personen auf Gott hinzielt.

Von christlicher Seite höre ich immer wieder den Einwand, wozu und wem es denn diene, dieses entstellte, grimassenschneidende Bild vom Menschen, der an der Gnade nicht teilhat; was es den Seelen denn nütze, und wie ich eine solche Vision von der menschlichen Kreatur vereinbaren könne mit meinem Glauben an ihre Berufung zur Heiligkeit. Es wäre nicht schwer, sich mit dem Hinweis darauf aus der Affäre zu ziehen (ich habe es übrigens vierzig Jahre lang getan), daß es das Böse nun einmal gebe; daß ich den gefallenen und von Geburt an geschändeten Menschen darstellen wolle; daß ich nur illustrierte, was ein Bossuet oder Bourdaloue verkündet hat; daß ein Schriftsteller, wenn es Heilige gibt auf der Welt, seinem Talent nicht zuiHel zumuten solle, und daß das meine für einen so erhabenen Gegenstand nicht ausreiche.

Dies alles aber wäre keine Antwort auf den Vorwurf des Priesters oder des Gläubigen. Sie würden mir sogleich erwidern, ich hätte, auch auf die Gefahr hin, meinem Talent zuviel zuzumuten, ein letztes Kapitel dem Sieg der Gnade in der Gestalt des Nicolas widmen sollen; daß sie niemand zwingen könne, mir aufs Wort zu glauben; daß es abwegig sei, die menschlichen Laster dadurch bekämpfen zu wollen, daß man sie breit darlegt in einem Buch, damit ein Kunstwerk entstehe.

Meiner Ansicht nach begeht der christliche Künstler nur dann eine wirkliche Sünde, wenn er sich weigert, seine Kunst in den Dienst seines Glaubens zu stellen. Das Werk, das keinem anderen Zweck dient als sich selbst, wird zum Idol: ja, zu unserem Idol, dem alles sich unterordnet — im Falle Marcel Prousts bis zur Hingabe des Lebens.

Dienen jedoch, so habe ich mir wohl hundertmal gesagt, dienen tut das Kunstwerk immer — auch oder gerade dann, wenn es das nicht möchte. Doch glaube ich wirklich daran? Geben wir es getrost zu: das Kunstwerk deformiert mehr als es aufklärt. Es ist ein heuchlerischer Vorwand, zu behaupten, durch so niederdrückende und übertriebene Darstellungen trügen wir zur Kenntnis des Menschen bei. Die Lebenden gleichen niemals unseren erfundenen Gestalten. Das Volk der Romane und des Theaters ist ein Geschlecht für sich. Wir alle haben im Leben mit Geizigen und Heuchlern zu tun, aber noch nie ist uns Tartuffe, Harpagon oder Pere Grandet begegnet. Wenn man von einer Dame aus der Provinz sagt, sie sei eine Bovary, so meint man damit einen bestimmten abstrakten Typus, es ist eine bequeme Redensart — selbstverständlich weiß man, daß es zwischen der Bovary und einem Geschöpf aus Fleisch und Blut keine reale Beziehung gibt, die einem moralischen Zweck nutzbar gemacht werden könnte.

Gewiß sind alle Westfiszüge, die der Künstler seiner trüben und unbeständigen Vision vom Menschen gibt, der Realität entlehnt. Aber diese Bestandteile sind abgeändert, retuschiert, um ein präzises Bild zu gewinnen; kein Roman ist so vage und unbestimmt wie die Realität selbst.

Ein Christ, der Romane schreibt, hat keine andere Entschuldigung für sicįh als die, daß er sich dazu berufen fühle. Er produziert Romane, weil er Gründe hat, anzunehmen, daß er auf die Welt gekommen sei, um welche zu schreiben. Von Kindheit an hat er sich mit dem Schreiben befaßt, wie jener mir bekannte Tänzer, der schon mit sechs Jahren Entrechats und Spitze tanzte, oder wie mein Bruder, der Abbe, der im selben Alter mich zwang, vor seinem kleinen Altar betend niederzuknien.

Ich höre den Vorwurf, es sei vermessen, daraus zu folgern, alles in uns sei vorherbestimmt, von Gott so gewollt; denn genau so zeige sich ja die Berufung zum Bösen bei jungen Menschen. Nun ja, eben drum! Vielleicht bin ich nur deshalb auf die Welt gekommen (in einer Epoche, da die Auflehnung gegen Gott das große Thema ist, an dem sich die höchsten Geister üben), um die Straffälligkeit des Menschen vor der unendlichen Unschuld Gottes zu bezeugen — um, wie ein katholischer Priester von meinem Roman „Sagouin“ meinte, „dem philosophischen Schrifttum, darin der Mensch sich über alles beklagt, eine psychologische Literatur entgegenzustellen, darin er nur über sich selber klagt“.

Das gab für mich den Ausschlag. An einem Septembertag brachte ich meine kleine Tochter iii dieses Heim. Ich ging mit ihr durch den Garten Uhd durch das Hau , um sie an die neue Umgebung zu gewöhhen, und stellte sie der Aufseherin und ihren Gefährtinnen vor.

Am Nachmittag dieses Tages, der für midi zu den schlimmsten meines Lebens zählte, hatte ich mit dem Anstaltsleiter eine lange, ernste Aussprache. Ich weiß seine Worte noch heute: „Sie dürfen niemals vergessen“, so sagte er, „daß diese Kinder alle glückliche Menschen sind. Sie befinden sich hier in vollkommener Sicherheit und kennen keine Sorgen und Kümmernisse. Die Freuden, für die sie aufnahmefähig sind, werden ihnen hier geboten. Natürlich ist es unmöglich, Ihrem Kind alles das zu geben, was es bei Ihnen zu Hause bekam, denn hier wird es stets nur eines unter vielen sein, aber wir sind stets bemüht, jedes Kind individuell zu behandeln.“

Viele Jahre sind seit jenem Tag vergangen, Jahre, in denen ich meine Tochter oft besucht habe und in denen sie sich in ihre neue Heimat einleben konnte. In diesen Jahren kam es mir auch immer stärker zum Bewußtsein, daß ihr Leben nicht völlig sinnlos ist, sondern daß es unter anderem für die wissenschaftliche Erkenntnis von Nutzen ist. Und heute schon wissen wir, daß mehr als die Hälfte aller geistig Zurückgebliebenen bei richtiger Erziehung innerhalb der menschlichen Gesellschaft durchaus leben und arbeiten können.

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