Dann ist es doch MÖGLICH

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Vor 20 Jahren starb der Schriftsteller Michael Ende. Er hinterließ weltberühmte, in viele Sprachen übersetzte und verfilmte Bücher. Sie erzählen auch von der Bedeutung von Phantasie und Literatur.

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Vor 20 Jahren starb der Schriftsteller Michael Ende. Er hinterließ weltberühmte, in viele Sprachen übersetzte und verfilmte Bücher. Sie erzählen auch von der Bedeutung von Phantasie und Literatur.

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Ich habe mich mein Leben lang dagegen gewehrt, das zu werden, was man heutzutage einen richtigen Erwachsenen nennt, nämlich jenes entzauberte, banale, aufgeklärte Krüppelwesen, das in einer entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert", gab Michael Ende gerne zu. Er sei ein Kinderbuchautor, hieß und heißt es über ihn, und eine solche Zuweisung bedeutet womöglich implizit auch: ein Autor "nur" für Kinder, klingt damit also womöglich - fälschlicherweise - irgendwie minderwertig.

Die Frage, warum er für Kinder schreibe, beantwortete Ende einmal sich selbst nur zögernd. Schreibe er denn für Kinder? Nein, im Grunde schreibe er überhaupt nicht für Kinder. Er schreibe Bücher, die er als Kind gerne selbst gelesen hätte. Aber auch das stimme nicht ganz, denn es gehe ja nicht um Vergangenheit. Im Grunde fühle er sich als der gleiche, der er damals war: "Ich glaube, daß in jedem Menschen, der noch nicht ganz banal, noch nicht ganz unschöpferisch geworden ist, dieses Kind lebt. Ich glaube, daß die großen Philosophen und Denker nichts anderes getan haben, als sich die uralten Kinderfragen neu zu stellen: Woher komme ich? Warum bin ich auf der Welt? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Ich glaube, daß die Werke der großen Dichter, Künstler und Musiker dem Spiel des ewigen und göttlichen Kindes in ihnen entstammen - dieses Kind, das ganz unabhängig vom äußeren Alter in uns lebt, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig; dieses Kind, das nie die Fähigkeit verliert zu staunen, zu fragen, sich zu begeistern; dieses Kind in uns, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft; dieses Kind in uns, das bis zu unserem letzten Lebenstag unsere Zukunft bedeutet."

Dieses Kind in uns

Für dieses Kind in ihm selbst und in allen Menschen egal welchen Alters erzählte Michael Ende jene Geschichten, die ihn weltberühmt machen sollten, erfand er Momo und die Zeitdiebe, Jim Knopf, Lukas den Lokomotivführer und die Wilde 13, Bastian und die unendliche Geschichte, die Bastian leidenschaftlich liest - Bücher also, die verfilmt wurden, die auf die Bühne kamen, die neu illustriert immer wieder aufgelegt wurden.

"Ich gestehe es also ohne Scham ein", schrieb Michael Ende einmal. "Die wahre, eigentliche Triebfeder, die mich beim Schreiben bewegt, ist die Lust am freien und absichtslosen Spiel der Phantasie. Für mich ist die Arbeit an einem Buch immer von neuem eine Reise, deren Ziel ich nicht kenne, ein Abenteuer, das mich vor Schwierigkeiten stellt, die ich vorher nicht kannte, durch das Erlebnisse, Gedanken, Einfälle in mir hervorgerufen werden, von denen ich nichts wußte - ein Abenteuer, an dessen Ende ich selbst ein anderer geworden bin als der, der ich zu Anfang war. Ein solches Spiel kann man nur absichtslos betreiben, denn wer vorher schon wissen oder planen will, wohin ein solches Abenteuer einen führt, der verhindert damit schon, daß es dazu kommt."

Spiel der Phantasie

Spiel und Phantasie - zwei Worte, die eine wichtige Rolle in Michael Endes Schreiben einnehmen. Friedrich Schiller hatte in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" festgestellt, dass "gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was" den Menschen "vollständig macht": "der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt". Das sah auch Ende so. Das freie schöpferische Spiel betrachtete er nicht einfach nur als müßigen Zeitvertreib, als "geistigen Luxus", sondern als eine "der tiefsten menschlichen Lebensnotwendigkeiten, als etwas, ohne das der Mensch aufhört, Mensch zu sein". "Selbst der Schöpfer dieser unserer Welt hat gespielt", meinte Ende, "als er die Natur schuf, denn niemand wird mich je davon überzeugen können, daß die unendliche Vielfalt an Formen und Farben in der Welt der Tiere, Pflanzen und Steine nur aus zwingenden Überlebens- und Anpassungsnotwendigkeiten entstanden sei."

Das Spiel wird jedoch gerne als Gegensatz verstanden: etwa als Gegensatz zum "Ernst" des Lebens. Für das Spiel stehen dann Kinder, denen noch zugestanden wird, dass sie spielen, und für den Ernst des Lebens müssen die Erwachsenen herhalten, denen eingetrichtert wurde, dass ihr Leben unter dem Postulat der Nützlichkeit steht und stehen muss. Obwohl der Blick in die Kulturgeschichte zeigt, dass sich auch Erwachsene keineswegs immer dem Nützlichkeitspostulat unterwerfen wollen, auch sie erfanden mit Schauspiel, Tanz, Musik und vielem mehr Spielfelder der Kultur, Bereiche der Unabhängigkeit von alltäglichen Zwängen. Johan Huizinga bezeichnete in "Homo ludens", einer der wichtigsten theoretischen Schriften über das Spiel, das Spiel deswegen auch als "eine Grundlage und einen Faktor der Kultur".

Auch Literatur befreit von Zweckmäßigkeit. Und doch stand selbst das Lesen von Literatur immer wieder unter dem Postulat der Nützlichkeit, war Kunst nicht immer so zweckfrei und autonom, wie manche sie gern sehen wollen. Der pädagogisierende Anspruch etwa war und ist deutlich in jenen Kinder- und Jugendbüchern zu erkennen, die dazu dienen sollten, den Jugendlichen die Werte der Gesellschaft beizubringen. Unterhaltung wird sozusagen in Kauf genommen, als Mittel zum Zweck.

Das ist eine Auffassung, die Michael Ende als Schriftsteller ablehnte, auch wenn Werke wie "Momo" vielleicht anders wirken. "Das Spiel kann nämlich", schrieb er einmal, "wenn es wirklich Spiel bleibt, niemals moralisieren." Und Lesen sei nicht dazu da, eine Botschaft aus der Literatur auszuquetschen. Das wäre ein Missverständnis, das bei der Musik seltener auftrete als bei der Literatur, denn bei der Musik könne man nicht anders, als die Gestalt wahrnehmen. Da aber Literatur aus Worten bestehe, fiele es manchen besonders schwer, "die Gestalt-Idee wahrzunehmen, eben weil sie sich von ihrer Suche nach einer 'Aussage' den Blick verstellen lassen."

Keine Aussage mitteilen

Michael Ende wollte eben keine "Aussage" mitteilen, keine Weltanschauung lehren - dann höre ein Künstler auf Künstler zu sein. Als Dichter und Schriftsteller wollte er dem Leben Zauber und Geheimnis verleihen, gerade nicht als Propagandist einer Botschaft. Humor war ihm wichtig, eine Bewusstseinshaltung, die es ermöglicht, eigene Unzulänglichkeiten einzugestehen und jene der anderen "mit einem Lächeln zur Kenntnis zu nehmen".

Auch wenn Ende keine Aussage mitteilen wollte, so sind seine Geschichten alles andere als unpolitisch, sind seine Literaturwelten keine Flucht aus der Welt der Wirklichkeit, sondern eine Erinnerung daran, dass diese unserer Phantasie bedarf. "Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen", sagt etwa Herr Koreander in Endes Buch "Die unendliche Geschichte", "und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund."

In seiner Geschichte aus dem Buch "Der Spiegel im Spiegel" trifft ein Magier und Gaukler, der am Anfang Ende heißt, in einer verwüsteten Welt "auf das Kind", dem er den Namen Michael gibt. "Man kann nirgends mehr wohnen", stellt das Kind fest. Daraufhin fragt der Mann: "Was machen wir da?"

Da schlägt das Kind vor: "Wir könnten zusammen losgehen ... und eine neue Welt suchen, wo wir beide wohnen können." Der Mann findet das eine gute Idee und ergänzt: "Und wenn wir keine finden, dann zaubern wir uns eine."

Das beschreibt, was Michael Ende in seinen Büchern macht, was die Kraft der Literatur sein kann und woran sie möglicherweise erinnert: Die Welt nicht einfach hinzunehmen, so wie sie ist, sondern sie als Aufgabe und Erfindung zu betrachten.

Dabei ist es nicht unbedingt immer der Erwachsene, der weiß, wo es langgeht. "Unter dem schwarzen Himmel gehen sie", heißt es in Michael Endes Geschichte über den Mann und das Kind, "auf den Horizont zu und werden kleiner und kleiner. Sie halten sich gegenseitig an der Hand, und man weiß nicht genau: Wer führt wen?"

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