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Wer rindet da noch durch?

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Unser literarisches Leben ist blühend, geradezu tropisch blühend. Wenigstens gilt das, wenn man auf die Quantität sieht. Bei einem Blick auf die Qualität ist die Fruchtbarkeit auch tropisch, aber in einem anderen Sinne: schnell emporschießend und ebensoschnell dahinwelkend. Diese ständige Zunahme der Produktion auf allen Gebieten der Literatur ist beunruhigend. Sie ist beunruhigend für die Leute vom Metier, für Verleger und Buchhändler, die eben in diese riesige Produktion Gelder investieren, von denen ziemlich gewiß ist, daß sie ganz nie, von denen aber höchst ungewiß ist, ob sie wenigstens zu einem tragbaren Teil wieder zurückfließen. Dieser Zustand ist aber auch beunruhigend für die literarische Kritik, die Massen bewältigen muß, die von den Menschen, die mit der notwendigen Verantwortung, mit der notwendigen Zeit und mit der notwendigen Bildung an dieses Geschäft gehen, nicht bewältigt werden können. Und dieser Zustand ist beunruhigend für das Publikum, dem es immer schwer fällt, aus der Masse der sich als gleichwertig anpreisenden literarischen Neuerscheinungen das Gemäße und das wirklich Gute und Hervorragende herauszusuchen und dem Mittelmäßigen das Interesse zu erhalten, das das Experiment oder der erste Versuch oder der neue Gegenstand verdienen.

Nun, ich habe immer eine besondere Meinung gehabt von der Teilnahme der Literatur an der wirtschaftlichen Konjunktur, unter deren Segnungen sich das „Wirtschaftswunder“ so schön und bestürzend zugleich ausgebreitet hat. Diese besondere Meinung entspringt nicht einer Verachtung dieses Wunders, im Gegenteil, es gibt nicht viele Beispiele in der Geschichte für das, was sich in Deutschland seit 1945 bzw. 1948 vollzogen hat. Sehr viel Hilfe von außen, sehr viel Hilfe von innen — und diese Hilfe von innen bestand und besteht darin, daß sich trotz der hinter uns liegenden Katastrophe die Lebenskraft des Volkes erhalten und in Arbeit umgesetzt hat, in Arbeit, die sichtbare Früchte trug. Trotzdem ist etwas Beunruhigendes an diesem Wunder. Ich meine nicht die Disproportion, die sich daran zeigt, daß der Zahl glänzender Bankgebäude, neuer Unternehmungen, großer Versicherungen, Rathäuser, Theater und Hotels nicht eine mitgewachsene, eine ebenso große Zahl von Volksschulen, überhaupt von Schulen, Büchereien und anderen Gebäuden entspricht, die — ich erlaube mir den etwas sentimentalen Ausdruck — die Fruchtbarkeit des inneren Lebens ausdrücken und ihm zu dienen hätten. Ich spreche nicht von den Wohnungsbauten; ich glaube, daß auf diesem Gebiet außergewöhnlich viel geleistet worden ist, und daß das immer noch anhaltende Un-genügen dieser Leistung nur im Vergleich zu dem fast uferlosen Bedarf entsteht, und daß man nun in zehn Jahren nicht aufbauen kann, was sechs Jahre lang mit allen Mitteln der modernen Kriegstechnik zerstört worden ist. Das Unbehagen hat nicht diesen, sondern einen anderen Ursprung. Es lassen sich einfach gewisse hektische Züge in unserem schönen äußeren Leben nicht verkennen. Es läßt sich nicht verkennen, daß mit erfolgreicher Arbeit bei uns etwas erfolgreich zugedeckt worden ist, was, wenn es offen geblieben wäre, den äußeren Wiederaufbau wahrscheinlich gehemmt, sicher aber anders proportioniert hätte. Und das zielt mit großer Deutlichkeit auf die Frage des inneren Lebens. Dem äußeren Ausweis unserer Tüchtigkeit müßte, wenn sie, die Tüchtigkeit, auf die Dauer verläßlich sein soll, auch ein Ausweis unserer inneren Kraft und Gesundung folgen. Und dies zielt auf die Dinge der Kultur, auf die Dinge der Literatur, auf die Produktivität in diesen Bereichen. Ist unsere Jugenderziehung, die Erziehung unserer Studenten an den Universitäten, sind überhaupt die pädagogischen, die moralischen und die ästhetischen Dinge bei uns so gut und so deujflich unterschieden von ' einer schlechten Vergangenheit, wie sich erfreulicherweise in den äußeren Fakten einer sich regenerierenden Demokratie der Unterschied zu unserer jüngeren Vergangenheit als so positiv erweist? Ich glaube, man wird diese Frage mit nein beantworten müssen. Und so ist auch die literarische Ueberproduktion, wenn wir einmal diesen nicht ganz stimmenden Begriff gebrauchen wollen, mehr ein Zeichen, ich möchte sagen einer hektischen Unsicherheit als Zeichen und Ausdruck einer wirklichen Ueberfülle, einer echten Produktivität in den gelehrten, in den geistigen, in den schönen Sachen. Insofern sind also die Klagen über die literarische Ueberproduktion berechtigt. Aber die Motivierung paßt mir sozusagen nicht. Die Motivierung nämlich, daß man nicht mehr damit fertig würde, daß die Selektion zu schwierig würde, daß es kommerziell nicht zu bewältigen sei, daß die Buchhändler in dieser Ueberfülle erstickten, und daß auch das Publikum, ratlos vor den Regalen stände. Die kommerziellen Folgen irgendeiner Ueberproduktion heilen sich in der normalen Wettbewerbswirtschaft sozusagen von selbst. Sie enden mit Reduzierungen, sie enden mit Verlusten, und die natürlichen Bedürfnisse der Wirtschaft insgesamt erzwingen eine Verlagerung der Produktion von den überflüssigen auf die notwendigen Sachen. Der Buchhandel, die Kunst, die Litefatur aber handeln fast ausschließlich von „überflüssigen Sachen“, überflüssig zum mindesten im Sinne materieller Notwendigkeit, im Sinne berechenbaren Bedarfs. Der Buchhandel muß deshalb notwendigerweise Schutzmaftern um sich errichten, die ihn gegen die üblichen Gesetze der Wettbewerbswirtschaft abschirmen. Dieses Abschirmen bedeutet nicht einen unzulässigen zünftlerischen Schutz normaler materieller Interessen, die sich sonst auf dem bewegten oder stürmischen Meer des Wettbewerbs über Wasser halten müßten. Diese Abschirmung entspricht dein besonderen, gleichsam hilflosen Charakter dieser sonderbaren Wirtschaftsgüter, denn hier wird ja kein materielles Interesse geschützt — es ist sehr fraglich, ob das Wirtschaftliche bei vollem Kurs in die reine Wettbewerbswirtschaft auch im Buchhandel nicht sogar besser wegkäme — hier wird die Freiheit der literarischen Diskussion, die Freiheit des literarischen Wettbewerbs geschützt. Dieser Schutz mag, wenn man die technische Zivilisation bedenkt und ihre unverkennbare Absicht, den Menschen zu kollektivieren, ein Anachronismus sein, anachronistisch im Vergleich zu den vordergründig kräftigen Tendenzen eben dieser technischen Zivilisation. Aber er ist notwendig. Diese Notwendigkeit stellt'Zumutungen. Wir muten allen Leuten zu, die außerhalb des engeren Zirkels dieser Dinge leben, daß sie begreifen, daß dieser Schutz notwendig ist, aber sie begreifen es nur, wenn der Ueberfülle der Quantität auch eine Fülle der Qualität entspricht. Im äußeren Aufbau läßt sich alles überdecken, das Schlechte durch das Gute gewachsener Arbeit. Die Vergangenheit arbeitet mit, und die Zukunft markiert weitgesteckte Ziele, und der allgemeine Optimismus ist großartig! In der Literatur und Kunst aber sind alle eher skeptisch, voller Mißtrauen und sicher nicht sehr großmütig. Und das liegt eben daran, daß man die Sachen der Literatur und Kunst leider für „nicht notwendige Sachen“ ansieht. Und diese nicht notwendigen Sachen sind zudem noch so oft „unangenehme Sachen“. Denn die Literatur hat etwas mit Wahrheit, mit Unverborgenheit, mit Offenheit zu tun; die Literatur hat etwas zu tun mit dem Menschen in seinem Glanz und in seinem Elend, und es ist ein Vorurteil des Konsumenten, daß Literatur vorwiegend etwas mit Unterhaltung zu tun hat. Sie hat schon damit zu tun, aber nicht vorwiegend und nur in bestimmten „Sorten“.

Die Kritiken, die ein Buch findet, sind immer verschieden. Die Klappentexte, das heißt die Empfehlungen des Verlages, bleiben sich gleich. Es wäre gut, wenn wir, die wir Bücher machen, es lernen würden, in der Ankündigung, die wir dem Buch mitgeben, kommerzielle Erwägungen mehr außer acht zu lassen und die Qualitäten eines Buches genauer zu beschreiben und nicht einen Unterhaltungsroman zur Weltliteratur heraufloben. Verfahren, die stattfinden und die das Urteil des Verlages über das, was er selbst tut, oft so unglaubwürdig machen. Die Kritik solle wirklich Kritik sein, auch auf die Gefahr hin, daß sie vernichtet, was nicht wert ist, weiterzuleben, was uns wiederum nicht abhalten darf — sowohl die, die wir Bücher lesen, wie die, die wir Bücher machen —, auch die Kritik kritisch zu nehmen, denn sie ist leider noch nicht so souverän und in der Ausbildung ihres kritischen Instrumentariums — was wieder mit Bildung und Kenntnissen zu tun h*t und mit Moral und Wahrhaftigkeit — so weit, wie sie einmal gewesen ist, zum Beispiel zwischen 1920 und 1930. Aber Bankgebäude lassen sich schneller errichten, technische Laboratorien lassen sich schneller mit Instrumenten versehen, als sich das kritische Instrumentarium und Sensorium wiederaufbauen als das, was uns in vielen lahren verbotener Kritik verlorengegangen ist. Ich meine nicht, daß der Zustand hoffnungslos ist. Man muß die Dinge aber genau ansehen und muß sich vor Flausen und Phrasen hüten und der Wahrheit auch dann die Ehre geben, wenn sie unbequem ist. Die Herausarbeitung der Qualität in der Literatur und Kunst und in der Wissenschaft kann nicht mit den Maßstäben der Bedarfswirtschaft gemessen werden, denn sie bedarf immer einer „Mehr-als-Bedarf'-Produktion. Das ist ein Problem, das so extrem nur die Buchwirtschaft kennt — und nur so lange kennt, wie Bücher etwas mit Freiheit zu tun haben. Um diesen Umstand deutlich zu erkennen, braucht man sich nur einmal vorzustellen, das Wirtschaftsdenken würde auch in diesem Bereich so dominierend, daß nur noch das „Gängige“ gedruckt würde In einer Welt aber, die voller Wolfsgeheul ist, kann das „Gängige“ leicht zu einem Akt der Unterwerfung werden, und die Stimme des Menschen erlischt dann auch in den Büchern, so wie sie in der Literatur der totalitären Staaten erloschen ist.

Wenn das Wort literarische Ueberproduktion fällt, muß bedacht werden, daß es für Bücher nicht einen Markt gibt, wie es einen Markt gibt für Radioapparate, Kühlschränke und Motorräder. ledes Buch muß die Chance haben, seinen Markt zu erzeugen, als Stimme gehört zu werden, und diese Chance kann es selbstverständlich nur dahn wahrnehmen, wenn es auch die Qualität der Chance hat. Es gibt keine Literatur, die nur große Literatur produziert; die Landschaft der Bücher ist durch Täler, durch Ebenen und durch Gipfel gekennzeichnet, wie es nicht nur der Natur, sozusagen der Geographie, sondern wie es auch, ins Menschliche übertragen, der Natur des Geistes und der Kunst entspricht. Das muß man in Kauf nehmen. Die Entscheidung über das, was bleibt, über echt und unecht, über zuviel und über zuwenig, über wahr und unwahr wird durch die Menschen gefällt, die mit Büchern umgehen. Aber zum Menschen werden Personen erst, wenn sie mit Büchern umgehen und wenn sie selbst urteilen und sich nicht vor-urteilen lassen. Die literarische Kritik soll Anleitung zum eigenen Urteil sein und nicht Anweisung.

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