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Die Kostümierung der Sensation — als Literatur

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Literatur läßt sich schwer verhindern. Am Anfang war nicht nur das Wort, sondern,auch die Sehnsucht danach, es festzuhalten: aus praktischen Gründen, und außerdem, um die magischen Formeln der Beschwörung und des Fluches wiederholen zu können—- Was ja in einem transzendenten Sinn ebenfalls seinen praktischen Nutzen haben sollte, indem es Entfernungen des Baumes und der Zeit überbrückte. Die geschriebene Botschaft, Nachricht, Zauberformel, Mitteilung, das geschriebene Gesetz und Gebet: sie alle richteten sich gegen die Flüchtigkeit und Sterblichkeit des Wortes. Die Schrift ist die Antwort des Menschen auf den Tod. Aus diesem einfachen Grund können die Mitteilungsformen der Flüchtigkeit, also Radio und Fernsehen, das Schrifttum nicht verdrängen und noch wehiger ersetzen: sie sind Verbündete der Vergänglichkeit, nicht ihre Gegner.

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Literatur läßt sich schwer verhindern. Am Anfang war nicht nur das Wort, sondern,auch die Sehnsucht danach, es festzuhalten: aus praktischen Gründen, und außerdem, um die magischen Formeln der Beschwörung und des Fluches wiederholen zu können—- Was ja in einem transzendenten Sinn ebenfalls seinen praktischen Nutzen haben sollte, indem es Entfernungen des Baumes und der Zeit überbrückte. Die geschriebene Botschaft, Nachricht, Zauberformel, Mitteilung, das geschriebene Gesetz und Gebet: sie alle richteten sich gegen die Flüchtigkeit und Sterblichkeit des Wortes. Die Schrift ist die Antwort des Menschen auf den Tod. Aus diesem einfachen Grund können die Mitteilungsformen der Flüchtigkeit, also Radio und Fernsehen, das Schrifttum nicht verdrängen und noch wehiger ersetzen: sie sind Verbündete der Vergänglichkeit, nicht ihre Gegner.

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Daß sich das gesprochene Wort durch die Schrift verändert, ist selbstverständlich. Er verliert Emotionen, Klangfarben, sinnliche Zusammenhänge des Augenblicks und gewinnt zugleich eine allgemein verständliche Bedeutung im Zeichensystem einer Gruppe der Gesellschaft. Die Distanz zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort irritiert, und also werden manche Schreiber durch ihren Anspruch auf Authentizität veranlaßt, etwa in Mundart zu schreiben. Sie üben sich in Aufrichtigkeit und verzichten zugleich auf die Möglichkeit, sich mit einem größeren Kreis der Menschen zu, verständigen. Sie verzichten auch auf Nachdenken in Begriffen, die in der jeweiligen Mundart keinen, jedoch in der größeren menschlichen

Gesellschaft einen wohl begründeten Platz gefunden haben.

Dem antisozialen Aspekt einer solchen Dialektschrift entspricht die genauso gesellschaftspolitische Wirkung der esoterischen Begriffssprache. Hier werden Wörter in Zusammenhang gebracht, die für einen ganz bestimmten kleinen Kreis eine ganz bestimmte Bedeutung haben — eine Bedeutung, über die man nicht mehr diskutiert. Man kann solche hypothetischen Wörter miteinander um so leichter verbinden, als man ja dabei auf jede Kontrolle durch einen Vergleich mit der Wirklichkeit verzichtet. Auf diese Weise können mitunter scheinbare Denksysteme von bemerkenswerter Geschlossenheit entstehen. Ihre Unmenschlichkeit wird in dem Augenblick entlarvt, in dem sie auf die menschliche Realität einzuwirken beginnen.

Im konsequenten Partikularismus des Dialektes liegt nicht nur eine gewisse Treue zum eigenen Schnabel, wie er eben gewachsen ist, sondern auch das Mißtrauen anders gewachsenen Schnäbeln gegenüber. Die Feindschaft gegen eine andere Art erscheint im Bereich des Möglichen. Es zeigt sich hier die Ambivalenz jeher Erbschaft, die uns Rousseau hinterlassen hat; der Weg „zurück iur Natur“ und der Verzicht auf Universalismus und Selbstkontrolle kann auch zum Massenmord führen. Wie im Nationalsozialismus.

Es ist nun gar nicht merkwürdig, daß sich die Gegner der Ratio mit den Gegnern der Realität gut vertragen. Die einen lehnen in ihrer urmenschlichen Ursprünglichkeit die Bewußtheit ab, weil diese mit den unreflektierten Ernotionen nicht übereinstimmt und gar nicht übereinstimmen kann. Die anderen wollen im geschlossenen System ihrer irrealen Begriffssprache verharren und sind also an einer Bewußtheit, wie sie aus der Erfahrung mit den conditions hufnaines täglich gewonnen werden müßte, gar nicht interessiert. Beide verbinden den Anspruch auf geistige Trägheit mit dem Anspruch auf Gewalt.

In einer Welt der zunehmenden

Arbeitsteilung wird die literarische Geheirnsprache notwendigerweise hoch geachtet — gerade, weil sie nicht von der überwiegenden Mehrheit der Leser apperzipiert, das heißt, an der eigenen, erlebten Innen- und Außenwelt gemessen und dadurch überprüft werden kann. Vielmehr haben sich diese Leser damit abgefunden, selbst Spezialisten zu sein, also auf ihrem eigenen Fachgebiet für Spezialisten anderer. Gebiete unverständlich. Sie haben sich an die Aufsplitterung der Gesellschaft in einzelne, schwer erlernbare Fachgebiete so sehr gewöhnt, daß sie auch die Literatur für ein eigenes Fachgebiet halten müssen, das sich nur durch ine spezialisierte Ausbildung begreifen läßt und nur durch den entsprechenden Spezialisten beurteilt werden: kann. Verständlichkeit wird in diesem Sinne ein Zeichen für fragwürdige Qualität. Wenn das Lesen etwa Freude bereitet, kann, die Lektüre nicht viel taugen.

So kommt es, daß sich manche Leser in das als solches begriffene Spezialgebiet der Literatur hineinquälen, während andere sich von der vermeintlichen „hohen Literatur“ gänzlich abwenden. Die Folgen dieses Verzichtes sind im .Straßenbild sichtbar: Geschäfte für „Romane“ entstehen neben den herkömmlichen Buchhandlungen: Kaufläden, die für verhältnismäßig wenig Geld leichte und seichte Unterhaltungsliteratur anbieten.

Durch die Beschaffenheit der sogenannten Marktwirtschaft wird der Vorgang noch weiter beschleunigt. Auf dem Markt ist Neuigkeit ein eigener Wert, folglich konzentriert sich das Angebot auf das jeweils Allerneueste — ohne Rücksicht auf dessen Qualität. So wollen manche große Verlagshäuser immer wieder die ersten sein im Erahnen einer Geschmacksänderung und bemühen sich nun, den kaum noch vorhandenen, jedoch wahrscheinlich anwachsenden Bedarf mit der jeweiligen Novität zu befriedigen, ja, diesen Bedarf selbst anzuheizen, damit das neue Produkt den Markt in den nächsten Monaten nun tatsächlich beherrschen kann. Literatur muß folglich zugleich sensationell sein, um eine weitere Verbreitung zu finden, denn die Leser sollen gar nicht durch den Text selbst, sondern durch die Sensation geködert werden. Diese aber entspringt nur selten der literarischen Qualität. Eine Neuigkeit ist hingegen, wenn bisher tabuisierte Worte aus dem Bereich des Geschlechtslebens nun niedergeschrieben, gedruckt und offen dargeboten werden; eine Neuigkeit ist, wenn jemand die Entstehung alter Kulturen mit dem Eingriff außerirdischer Lehewesen erklären will (wie Däni-ken); eine Neuigkeit ist es auch, wenn die. größten kapitalistischen Verlagshäuser zur unverzüglichen Vernichtung des Kapitalismus aufrufen.

In dieser Atmosphäre der fürwahr profitgierigen Überreizung werden auch manche begabte Autoren dazu verführt, die Szene mit feiner besonders auffallenden Geste zu betreten, um sich — sozusagen als Sensation kostümiert — Gehör zu verschaffen. Der leichtfertige Schritt trägt seine Strafe, in sich, denn nun ist es nicht jedermanns Sache, das Kostüm wieder abzulegen; es wird zur zweiten Haut und zwingt mitunter zur lebenslangen Lüge.

Das Gieren nach Neuem verleitet dazu, neben den großen Sensationen des Buchgeschäftes den Kreis des Irrationalismus und Irrealismus als eine scheinbar feinere Form des Sensationellen hervorzukehren, wobei der Begriff der Neuigkeit mit dem Begriff der Fortschrittlichkeit kurzerhand identifiziert wird. Darin offenbart sich die gleiche Gesinnung, die einen expandierenden Markt als progressiv bezeichnet und etwa das Ersetzen von Baumwolltaschentüchern durch Papiertaschentücher für eine avantgardistische Tat hält.

Die Entmenschlichung von großen Teilen des Schrifttums, die unsinnige, jedoch durch die Deformation der gegenwärtigen Gesellschaft begründete Aufteilung in einen „wertvollen“, jedoch unverständlichen und einen „minderwertigen“, jedoch verständlichen Bereich, hat — als weitere verheerende Folge — die natürliche Verbindung zwischen Literatur und Tagespresse zerstört.

Erstens: Weil die anspruchsvolleren Blätter weder „Minderwertiges“ noch Unverständliches veröffentlichen wollen und können und also auf belletristische Texte weitgehend verzichten. (Man bedenke, als Gegenbeispiel, daß die Erzählungen von Maupassant oder von Tschechow für die Sonntagsbeilagen großer Zeitungen verfaßt worden sind, und zwar regelmäßig, für ein fixes Honorar!) Und zweitens: Weil ein wesentlicher Teil der Buchkritik nicht bereit ist, seine Pflicht zu erfüllen und den Leser über eine Neuerscheinung möglichst ausführlich zu informieren, sondern sich selbst in allerlei ästhetischen und ideologischen Kunststücken üben möchte.

Durch all das wird die an sich selbstverständliche Verbindung zwischen journalistischer und literarischer Arbeit unterbrochen. Dickens war genauso Journalist wie Edgar Allan Poe oder wie Theodor Fontane, um nur einige Namen zu nennen; heute noch übernimmt Saul Bellow ebenso journalistische Aufgaben wie Graham Green. Im deutschen Sprachraum hingegen glauben heute viele Journalisten, „wertloser“ zu sein als die „Literaten“, was freilich auch zur Folge hat, daß sie sich — wenn schon Wertlose — mit rasch, lieblos und schlampig hingetippten Flüchtigkeiiten begnügen. Manche „Literaten“ hingegen verschmähen die Zeitungen und halten es für ihrer Würde abträglich, auf den Boulevard — und dadurch auch zur Wirklichkeit des Boulevards — hinabzusteigen. Taktische Erwägungen mögen dabei eine gewisse Rolle spielen, denn: Was würde der Leser von seinem bisher fiebrig verehrten, da kaum verstandenen Irrationalisien oder Irrealisten halten, wenn sich dieser plötzlich zur Frühstückszeit von den Spalten der Sonntagsbeilage über menschliche Angelegenheiten äußerte?

Vereinsamung ist die Folge, Isolation von Schriftstellern und Lesern. So kann ein für die Gesellschaft lebenswichtiger Prozeß ins Stocken geraten. Denn Literatur ist, gleichlaufend zur wissenschaftlichen Forschung, ein Vorgang zur Gewinnung von Erkenntnissen über den Menschen und seine Welt; durch das Schreiben ins Bewußtsein gehoben erscheinen Vorzeichen von Veränderungen; die dahinströmende Kontinuität der Sprache spiegelt und formt die Gesellschaft. Es kann nun Zeiten geben, in denen dieser Strom gleichsam unterirdisch verläuft, Epochen also, die sich ihrer selbst nicht bewußt werden und dann im Zustand der Abstumpfung und der Lethargie wie in tiefer Ohnmacht untergehen. Alle jene Kräfte, die den Untergang herbeiwünschen, sind an der Aufrechterhaltung dieser Ohnmacht interessiert. Das ist der durchaus logische Grund dafür, daß etwa stalinistische Ideologen die ihnen an sich verhaßte literarische Gehedmsprache in dieser -r- vermeintlichen — Spätphase so gerne loben. Literatur als Bewußtheit möge in diesem Sinne nicht den bestehenden, sondern den neuen Kräften dienen.

Kann also Literatur verhindert werden? Nein, bloß gespalten, zerredet und verdrängt. Sie entsteht jedesmal, wenn ein Mensch sich gegen seine Vergänglichkeit auflehnt und Erkenntnisse oder Vorahnungen, Eindrücke oder spielerischen Unsinn, Berechnungen oder Visionen zur Sprache verdichtet, mitteilt, niederschreibt. Literatur ist eine Lebensfunktion. Sobald eine Gesellschaft diese Funktion im eigenen Organismus nicht fruchtbar verwerten kann, erkrankt sie an Bewußtlosigkeit, Wen die Götter verderben wollen, dem rauben sie den Verstand.

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