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Der Mensch in seiner Welt

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Gedanken zum zehnten Band des Großen Herder. Freiburg, Verlag Herder, 1953. Groß 8 XXIV Seiten, 1488 Spalten, 24 Seiten. Preis 56 DM

Der vor kurzem erschienene zehnte Band des altbewährten Herderschen Lexikons -wirft eine Frage auf, die nur den wenigsten Benutzern der üblichen Nachschlagewerke bewußt wird, die aber jeden angeht. Fügen wir sofort hinzu, daß diese Frage vom Verlag durch die gefundene Lösung beantwortet ist, und -zwar in der, unserer Ansicht nach, besten Weise. Es handelt sich darum, ob der Wissensstoff, über den eine allgemeine Enzyklopädie Aufschluß gewähren soll, in der bei den deutschen Konversationslexiken und bei Nachschlagebüchern verwandten Typs gewohnten alphabetischen Anordnung nach Stichworten dargeboten werden muß oder ob man nicht lieber die bei fach-gelehrten Gesamtdarstellungen angewandte Zusammenfassung in größere Stoffgebiete bevorzugen wird. Die zweite Eventualität ist in den letzten Jahrzehnten für ein allseitiges Repertorium unserer Kenntnisse zum Beispiel auf französischer Seite gewählt worden. Anatole de Monzie, der bekannte Politiker, geistreiche Einzelgänger und Autor der „hors serie“, hat vor dem zweiten Weltkrieg eine „Encyclop£die Francaise“ geleitet. Sie ist unvollendet geblieben und man geht jetzt daran, den Plan des verstorbenen Staatsmanns wiederaufzunehmen, eine Neuausgabe gemäß seinen Grundsätzen, doch in verbesserter Form zu publizieren. In de Monzies „Unvollendeter“ finden sich mehrere ausgezeichnete Bände, andere sind weniger gelungen, doch der Hauptvorwurf, den man gegen das schön ausgestattete Monumentalwerk erheben darf, ist ein doppelter: es mangelt die einheitliche Linie; die Autoren schreiben nach eigenem Gutdünken und das wirkte sich schädlich in Durchschneidungen aus, die Leser wurden über dasselbe Problem durch mehrere Verfasser mitunter in einander widersprechendem Sinne belehrt. Vor allem aber, die weltanschauliche Geschlossenheit fehlte. Katholiken und Atheisten, faschistische und kommunistische Mitläufer, Liberale und Linksdemokraten fanden sich da zu einer Gemeinschaft, die keine war. Außerdem wurden nebensächliche Gesichtspunkte, je nach dem Gutdünken der Einzelautoren, hervorgehoben, Probleme von überragender Bedeutsamkeit aber blieben unbeachtet. Dennoch zwang die „Encyclopedie Francaise“ zum Nachdenken über den Wert ihrer Existenzgrundlage. Besaß sie nicht trotzdem manche Ueberlegenheit gegenüber den Lexiken, die alles von A bis Z erörterten, doch notwendigerweise für kein einziges Stoffgebiet den Platz aufbrachten, um es mit nötiger Gründlichkeit darzustellen? Wollte man bei der alphabetischen Anordnung beharren und dennoch voll Befriedigendes leisten, dann müßten die räumlichen Dimensionen zur Verfügung stehen, über die einst das gute alte Zedlersche Universallexikon mit seinen 68 Folianten oder das gigantische Unternehmen der Enzyklopädie von Ersch und Gruber verfügten; dabei ist das zweite dieser Mammutlexika mit 167 Bänden in der Hälfte stecken geblieben und nie fertig geworden.

Der Große Herder hat nun einen Ausweg entdeckt, den wir für den einzigen heute gangbaren ansehen. Da man vom Wirtschaftlichen her einem Lexikon allgemeiner Art höchstens zehn bis zwölf Bände zumuten kann, hat der Große Herder den alphabetisch angeordneten Stoff auf neun Bände zusammengedrängt, die zum jeweiligen Schlagwort die knappste Information, sozusagen den Liebig-Extrakt der zu berichtenden Tatsachen geben. Ein zehnter Band — der, von dem die Anregung zu diesem Erwägen ausging — faßt in systematischer Gliederung das gesamte Wissensgebiet unserer Epoche zusammen und wird damit zur stützenden Grundlage für alle Einzelartikel der Stichwortreihe. Dies ermöglicht, über die Fachdisziplinen ausreichende Gesamtüberblicke zu bescheren. Meisterhaft, vortrefflich, sehr gute und gute: unter das Niveau einer gediegenen Leistung Berufener sinkt „Der Mensch in seiner Welt“ nie hinab, und manche Abhandlungen gehören in ihrer großartigen, prallen Stoffbewältigung zum Schönsten, Gehältigsten, das Forscher dem wißbegierigen Laien bieten können. Nicht geringeres Lob als diesen formalen und wissenschaftlichen Eigenschaften des Bandes gebührt seiner weltanschaulichen Einheitlichkeit. Da gibt es kein wüstes Durcheinander, in dem unzünftigen Lesern der Kopf so wirr brummt, wie den Besuchern der Hexenküche oder einer literarischen Walpurgisnacht.

Und damit sind wir bei der Zeitverbundenheit, bei der Zeitgemäßheit des Herderschen, so wohlgelungenen Experiments angelangt. Die Konversationslexika mit ihrer scheinbar farblos-unparteiischen, in Wahrheit jedoch agnostischen szien-tistischen Gesinnung entsprachen dem neunzehnten Jahrhundert, das man weniger „stupid“ schelten soll — wie das Leon Daudet tat —, denn überklug, altklug: einem Enfant terrible gleich, das dem Himmelvater jeweils die gescheiteren Lösungen vorschnatterte. Dem bösen Fin de sihde und den noch schlimmeren Dezennien hernach war die atomistische Zersplitterung in zusammenhanglose disiecta membra auf den seelenlosen Leib geschrieben. Nun erstrebt man wieder die Synthese, die Harmonie, die Ordnung, die Unterordnung unter ein sanftes Gesetz, unter das der ewigen Wahrheit des Christentums. Daß sich „Der Mensch in seiner Welt“ zu dieser Wahrheit bekennt, verleiht dem Werk eine Geschlossenheit und eine Leuchtkraft, deren andere Lexika darben. Dieses offene, lautere Bekenntnis sollte aber auch von Andersdenkenden dem Großen Herder nicht verübelt werden. Jeder, der zu ihm greift, weiß, oder sollte wissen, aus

welcher Quelle da geschöpft wird. Man findet eben die Erörterung aller Fragen, die Schilderung aller Tatsachen vom christlichen Standort aus.

Daß dabei dem wissenschaftlichen Wert keinerlei Abbruch droht, dies gegenüber dem Aberunglauben von der Notwendigkeit einer „voraussetzungslosen Forschung“ zu erhärten, rühmen wir • als drittes Verdienst des gewaltigen Vorhabens. Die neueste Forschung wird beachtet, Polemik geschieht, wenn überhaupt, nur sparsam und in vornehmer Zurückhaltung. Und die Qualität der einzelnen Abschnitte beweist, daß katholische Gelehrte auf allen Gebieten Glänzendes zu bezeigen haben. Schade, daß die Verfasser der Sonderkapitel nicht mit Namen angegeben sind. Wir sind auf Vermutungen über die Urheberschaft angewiesen.

Aus der von uns nachgeprüften Gediegenheit der Teile, für die wir zum Urteil kompetent sind, dürfen wir wohl auch auf den Wert der anderen Beiträge schließen, denen gegenüber wir nur als dankbarer Leser laienhafte Bewunderung für die in leichtverständlicher Form geschenkte Belehrung hegen. Nirgends haben wir noch so einprägsame und erschütternde Uebersicht der modernen Physik empfangen, so großartigen Einblick in die Gesetze der Biologie. Obzwar die Ergebnisse der Abstammungslehre, die Untersuchungen über Ursprung und Wesen des Lebens an keiner LTntiefe scheu vorbeihasten, erkennen wir froh und stolz, daß kein Widerspruch zwischen Glauben und Wissen klafft. Hervorragende Darlegungen enthüllen Mechanismus und geistige Durchdringung der Volkswirtschaft. Dem Recht und der organischen Gemeinschaft sind sehr weise und bei aller Unbefangenheit aufrecht den demokratischen Standpunkt verfechtende Ausführungen gewidmet. Der Schatz unserer auf dem alten

Orient, auf der Antike und der mittelalterlichen Christenheit beruhenden Bildung wird in seinem funkelnden Reichtum erhellt. Nichts bleibt dabei im Schatten; auch Dinge, von denen man sonst in derlei Zusammenhang weniger spricht — Kleidung, Nahrung, Tanz —, werden betrachtet.

Vor allem aber: der Mensch erscheint nicht nur gestellt in seine sieht bare Welt, sondern auch in seine sittliche Atmosphäre; als Wesen, das der Natur und der Uebernatur eingefügt ist. Er wird seinem Schöpfer gegenübergestellt, dem lebendigen Gott und nicht dem der deistischen Philosophen, und die Freiheil, die hier gemeint und die für alle Bereiche des Seins verfochten wird, ist die des Christen. In diesem Geist werden Literatur, Kunst und Weltanschauung beschaut; in ihm ist hier die Weltgeschichte betrachtet. Den Historiker freut es, sagen zu können, daß ihm keine zweite gedrängte Darstellung des Wegs der Gesamtmenschheit so viel Genugtuung bereitet hat. Da erscheint Geschichte wirklich nicht als Sinngebung des Sinnlosen, sondern als Bericht vom Ablauf eines Werdens und Vergehens, dessen Stadien und dessen ursächliche Zusammenhänge wir im Forschen nach Dem erkunden, „w i e es eigentlich gewesen ist“ und warum alles das so gekommen ist, doch von dem wir den letzten Urgrund nur erahnen, weil er in der unerforschbaren Weisheit der Vorsehung geborgen ist. Wenn wir noch anmerken, daß der Bildschmuck im zehnten Herder-Band sich als integrierender Bestandteil des Textes erweist, den er harmonisch ergänzt und mit sinnfälligem Leben erfüllt, wenn wir die Schönheit der Illustrationen, des Drucks und überhaupt der Ausstattung des Werks preisen, dann haben wir die Hauptvorzüge eines angenehmen und nie versagenden Beraters vielleicht nicht vollzählig erwähnt, doch genug Gründe gesammelt, um von diesem Handbuch mit Fug zu rühmen: ein wohlgeratenes Vollbringen aus christlicher, universeller Weltoffenheit.

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