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Charakter und Handschrift

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Jedermann, der beruflich mit vielen tausenden fremden Handschriften zu tun hatte — im Zeitalter der Schreibmaschine fließt diese Wissensquelle freilich immer spärlicher —, der entdeckte aus Erfahrung, ohne danach zu suchen, Zusammenhänge zwischen Handschrift und Charakter oder auch physischen Veranlagungen. Manuskripte mit gehäuften Ausrufzeichen und Unterstreichungen, Verwendung von zweierlei Tinte konnten zum Beispiel als erste Warnungen gelten. Abgeri6senheit, auffallende Schwunghaftigkeit, auf6tėigende Schriftzeilen, ebenso wie Plumpheit der Schriftzüge erlaubten’ Schlüsse, die selten unbestätigt blieben. Kein Zweifel konnte also sein, daß der Schriftenkunde ein echter erforschungsbedürftiger Wahrheitsgehalt zugrunde lag. Leider haben geschäftskundige Charlatane und nekromanti6che Zeichendeuter, die der Graphologie eine phantastische Allwissenheit zuschrieben, den Ruf der Graphologie in der öffentlichen Meinung schwer geschädigt. Nicht wenige Veröffentlichungen der einschlägigen Literatur ließen eine befriedigende Grenzziehung zwischen dem Tatsächlichen und der Phantasie in der Handschriftenkunde vermissen. Da schiebt nun der Verfasser die alten Methoden beiseite und legt eine Arbeit auf den Tisch, die neue Wege geht. Zum Unterschied von Ludwig Klages, dem Begründer der „Deutschen graphologischen Gesellschaft“ (1879) und seiner Schule bezieht Muckenschnabel die grundsätzliche Auffassung, auch für die Forschung der Handschriftenkunde stelle die Metaphysik jene Grundlage dar, die „dort fortsetzen hilft, wo das Erklären ein vorzeitiges Ende findet“ und im leiblichen Bestand de6 Menschen sich die Einheit yon Gei6t-Seele offenbart. Auch in der unwillkürlichen Formensprache der Schrift ersieht der Autor die Zeichen der natürlichen Christlichkeit der menschlichen Seele. Manches erscheint fürs erste noch als Theorie, feinsinnige Annahme, Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen, aber doch wertvolle Position. Die Erkundungen des Autors, sorgfältig auch in Schrifttafeln und tabellarischen Übersichten erfaßt, sind viel minuziöser als die vorausgegangenen Versuche. Man kann wohl 6agen, das Buch stellt das ernste aus weitgespanntem Wissen6raume geschöpfte Unternehmen dar, die Schriftenkunde der modernen Wissenschaft einzuordnen. Widerspruch wird nicht ausbleiben, die Arbeit trägt zusehr die Zeichen der Eigenstirnigkeit des Forschers, um nicht mit den marktgängigen Systemen zusammenzustoßen. Die vorliegende Arbeit, die nach einer Darstellung der Problematik des Themas, der Methodik der gewählten graphologischen Erforschung und die Schriftsymptome aus Bewegung und Form behandelt, soll ihre Fortsetzung in einem Bande finden, der „die sittliche Person im Schriftau6druck und ebenso 6eine Stellung in der Gemeinschaft aus seiner Schriftsprache zeigen will.

Handbuch der speziellen Pastoralmedizin. V. Bd. Von DDDr. Albert Niedermeyer. Verlag Herder, Wien 1952. XVI u. 448 Seiten.

Von den bisher erschienenen Bänden des in jeder Hinsicht großen Werkes hat der vorliegende fünfte wohl die schwierigsten Probleme zum Inhalt: die Psychopathologie und Psychotherapie, die ja auch praktisch in jenem Grenzgebiet zwischen Medizin und Seelsorgepraxis, das eben Pastoralmedizin heißt, eine so große Rolle spielen. In jener Problematik aber ist in der Gegenwart alles in Fluß, gibt e6 kaum unbestrittene Tatsachen: die einzelnen „tiefenpsychologischen“ Richtungen stehen in erbittertem Streit gegeneinander und gegen die „Schulpsychiatrie“.

In geradezu meisterhafter Weise setzt sich nun der Verfasser mit den verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen auseinander (Psychoanalyse, Individualpsychologie, der „komplexen Psychologie“ C. G. Jungs, der nationalen deutschen Psychotherapie, V. Frankl, Caruso), Freilich scheint er sich dabei nach Meinung des Referenten noch allzusehr mit wesentlichen Grundbegriffen (zum Beispiel Verdrängung, Ödipuskomplex) zu identifizieren, welche uns keineswegs so 6icher bewiesen, keineswegs mit den Realitäten des Lebens übereinzustimmen scheinen. Schließlich werden Ansätze zu einer „universalistischen Psychotherapie“ gegeben, die von der Anerkennung der Würde und sittlichen Verantwortung des Menschen und von seinem übernatürlichen Lebensziel ausgeht und gerade so der zerrütteten modernen Menschheit am besten zu helfen glaubt. Auch wenn man wissenschaftlich nicht in allen Einzelheiten mit dem Verfasser konform geht (so würden wir kaum die Neurosen und schon gar nicht die Epilepsie zur „Neuropathie“ rechnen), 60 muß man doch nach wie vor, je mehr sich das Werk seiner Vollendung nähert, dessen große Vorzüge bewundern: die ungeheure Belesenheit des Verfassers, seine Gabe, in schwierigsten Fragen ein klärendes Wort zu finden (was gerade in der Problematik dieses Bandes eine besondere Leistung bedeutet), die wahrhaft „universalistische“ Gesinnung, die so weit über einer materialistischen Verengung der Schau vom Leben steht.

Gulseppe Verdi. Aus Briefen und Erinnerungen. Herausgegeben von Willi Reich. Claassen-Verlag, Zürich 1951. 95 Seiten.

Der Alte von Sant’ Agata, dessen Lebensgeleitwort die Inschrift des Apoilotempels zu Delphi war, das „Erkenne dich selbst“: der Mann, dessen dreiundneunzig Lebens- und siebzig Schaffensjahra in den Worten aus Genua zusammengefaßt 6ind: „Tornato all’antico e sarä un progressol“: der Verächter von Titeln und Orden: der unermüdliche, demütige Diener der Kunst: das alles spricht aus dem Büchlein, das manche dickleibige Biographie aufwiegt. Ein Begleiter für Musikhörer und Ausübende (sofern diese Letztgenannten bittere Pillen vertragen). Willi Reich, dem wir eine Reihe feinge6timmter Musikbücher (Wolf, Chopin, Schubert, Johann Strauß) verdanken, schöpft aus der souverän beherrschten Fülle des Stoffes: nur so konnte die Rundung der drei Abschnitte (Kunstauf- fassung — Publikum und Interpreten — Persönliches) gelingen. Ein Anhang mit autobiographischer Briefskizze Verdis und eine Zeittafel ergänzen das Werk.

Zwischenfall in Wien. Roman. Von Karl B e d n a r i k. Heliopolis-Verlag, Tübingen 1951, 320 Seiten.

Schauplatz: Wien 1950. Während einer Abendgesellschaft wird ein bekannter Psychiater ermordet. Jeder einzelne der Gäste — Schauspieler, Maler. Literaten, Studenten und Abenteurer — ist verdächtig. Ein Amateurdetektiv, ein absonderlicher Liebhaber der Kriminalistik, versucht, das Verbrechen aufzuklären. Nun enthüllen sich seltsame Beziehungen und verborgene seelische Konflikte. Nicht um das spannende Element eines Kriminalfalles geht es hier, obwohl dieses vom Autor geschickt genützt wird, sondern um Darstellung und Deutung menschlicher Schicksale in der Atmosphäre der Großstadt. An jeder der Hauptpersonen zeigt sich die seelische Gebrochenheit, vor allem die Überspitzung und die Hybris eines aus den klaren Ordnungen gelösten Intellekts, die nihilistische Verzweiflung am Lebenssinn. Das Leben erscheint diesen Menschen entweder als Labyrinth oder als Chaos. Alles Geschehen wird in seiner Hintergründigkeit dargestellt, die Charaktere werden psychologisch durchleuchtet und die Ebenen der Wirklichkeit und des subjektiven -Erlebens überschneiden sich öfter. In den letzten Kapiteln wird die Wahrscheinlichkeit im Ablauf der Handlung zuwenig berücksichtigt, doch verrät der Roman jedenfalls eine Begabung, die der Beachtung wert ist.

Die erleuchteten Fenster oder die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zlhal. Roman. Von Heimito von Doderer. Biederstein- Verlag, München. 190 Seiten.

Diese Erzählung mit ihrem abseitig-skurrilen Thema muß vor allem als sprachlich- stilistisches Kunststück gewertet werden, obwohl auch die Fabel der tieferen Bedeutung nicht entbehrt. Die ersten Seiten über das K. K. Zentral-Tax- und Gebühren-Bemessungs- amt (dem übrigens das Büchlein gewidmet ist) erinnern an gewisse Stellen in Musil „Mann ohne Eigenschaften“. Dann aber bildet sich ein ganz eigener Stil heraus, der sich von dem anmutig-gelenkigen der Dienstpragmatik, aus der der Autor immer wieder mit sichtlichem Wohlbehagen ganze Absätze zitiert, kaum mehr unterscheidet. Dem Thema entsprechend, entfaltet sich die Kunst des Autors bei der Beschreibung optischer Gegenstände und Vorgänge (im engeren und weiteren Sinn), etwa bei der Schilderung des Tandelmarktes, wo der für den Fortgang der Handlung überaus wichtige Feldstecher, der „Sechsundsechziger“, erstanden wird, die Beschreibung eines Optikergeschäfts (an Jüngers Analyse der Kaufläden in „Das abenteuerliche Herz“ erinnernd) und andere. Was der Amtsrat Zihal nach seiner Pensionierung und vor dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts treibt, bleibe in jenes Dunkel gehüllt, in dem sich seine Tätigkeit abspielt. Um so helleres Licht falle auf die rundliche Postoberoffizialin Fräulein Rosi Oplatek, die dem gefährdeten Amtsrat endgültig zu seiner Menschwerdung zu verhelfen verspricht.

Das andere Iran. Von Edmund Jaroljm e k. Nymphenburger Verlagshandlung, München. 254 Seiten.

„Persien in den Augen eines Europäers“ ist der Untertitel dieses Buche6, dessen Autor jahrzehntelang im Orient und namentlich in Persien gelebt und Land und Leute gründlich kennengelernt hat. Seine Erinnerungen reichen in die Zeit vor und während des ersten Weltkrieges zurück, er hat aber auch die seither eingetretenen Wandlungen beobachten können, und über beides, über das alte wie das neue Iran, weiß er angenehm und interessant zu erzählen. Seine offenbar tiefe Sympathie für das Volk, unter dem er 60 viele Jahre verbracht hat, ist durchaus verständlich, doch verleitet sie ihn dazu, auch die herrschenden Schichten mit einem Optimismus zu beurteilen, der uns, angesichts der sozialen und politischen Zustände in Persien, zumindest als reichlich verfrüht erscheint. Besonders zu erwähnen sind die zahlreichen und gewählten Illustrationen, die den Text ergänzen.

Berliner Kreml. Von Gregory K 1 i m o w. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln und Berlin. 446 Seiten.

Der regierende Bürgermeister von West- Berlin, Ernst Reuter, der ein6t selbst aktiver kommunistischer Politiker in den zwanziger Jahren war, hat diesem Buch eine 6ehr bemerkenswerte Einleitung mit auf den Weg gegeben. Das Problem, welches Klimow aufwirft, ist nämlich nicht nur ein russisches, sondern auch ein europäisches: die Begegnung des russischen Menschen mit der Welt des Westens. Klimow war Major im Wirtschaft6- 6tab der sowjetischen Militäradministration für Deutschland. Der Techniker kam im Lande der Besiegten zum erstenmal in Fühlung mit der westlichen Welt. Die ganze Tragik der Deutschlandpolitik des Kreml, die Hintergründe und Absichten, werden ebenso dargestellt, wie die innere Wandlung vieler russischer Offiziere angesichts der wirtschaftlichen und politischen Realitäten in, Mitteleuropa. Das Buch ist nicht nur ein Abschnitt jüngster Geschichte von dokumentarischem Wert, sondern auch eine Fundgrube wertvollster Hinweise zum Thema Europa und Rußland.

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