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Lexikon aus der Zeit

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Kaum in einem anderen Werk spiegelt sich eine Epoche so getreu wie in einem Lexikon, kaum ein anderes geistiges Unternehmen bezeugt so sehr den Geist eines Lebensraumes wie eine Enzyklopädie. Die sorgsamen, schwerfälligen Konversationslexika aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trugen gewissermaßen Brillen, sie hatten gelehrte Spitzbärte, sie waren voll und ganz, ob sie nun bei jedem Fürsten oder Feldherrn aufs genaueste die Regimenter verzeichneten, die nach diesen Großen benannt waren, oder ob sie von jedem Dichter, Künstler, Gelehrten die Denkmäler anführten, die ihnen errichtet waren. Daß dabei der Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen war, daß wir von einem Poeten auch dann noch nichts über dessen Wesen erahnen, wenn wir alle seine Bücher mitsamt deren bibliographischen Daten kennen: den Lexikographen des allzu bürgerlichen schuldet man die im Wesen wurzelnde Harmonie zwischen Text und Bild; ihm auch die ausgezeichneten allgemeinen, über weite Gebiete zusammenfassend orientierenden Artikel. Dieser erfahrene Meister seines Faches hat, in seine Schweizer Heimat zurückgekehrt, den Gedanken gehegt und binnen kurzer Frist mit bewundernswerter Energie verwirklicht, auf eidgenössischem Boden ein neues Lexikon zu schaffen, das sich von den zur Zeit des Dritten Reiches in Deutschland verpflichtenden Bindungen freihielt und sich größter Unparteilichkeit befleißigte. Keckeis, der jetzt maßgebend im Verlag Benziger tätig ist, fand an vier anderen altbekannten Schweizer Verlegern gleichgestimmte Partner: Herbert Lang, Eugen Rentsch, Sauerländer und Huber nahmen gemeinsam mit Keckeis das finanzielle Wagnis auf sich. Derlei hätte ohnedies zu diesem Zeitpunkt nur in der Schweiz eitalters wollte das nicht in den Sinn. Dem französischen Larousse haftet immer etwas von jener Definition de Franzosen an, als eines Herrn, der dekoriert ist und nichts von Geographie versteht: da waren nämlich die herrlichsten Uniformen und alle Ordensabzeichen abgebildet, die eigenen Größen sahen sich in langen Artikeln verewigt; jenseits der französischen Grenzpfähle aber machte man etwa ein Jahrhundert vor der eigenen Epoche halt. Als die „große Zeit“ herrannahte, da dröhnten auch die deutschen Lexika vom Tritt der Bataillone, und man langte schließlich bei jener letzten Auflage des einst so biederen Meyer an, der ein betrübliches Zeugnis der Anpassungsfähigkeit bleiben wird, wie andererseits die vorläufig jüngsten Auflagen des Brockhaus und des Herder noch rasch vor der Katastrophe den hohen Stand der deutschen Bildung und der technischen Möglichkeiten der deutschen Buchdruckerkunst bewährten.

Gustav Keck eis, bis zur „Machtergreifung“ Leiter des Herderschen Verlags, hat die Leistung vollbracht, die in den zwölf Bänden des „Großen Herder“ geborgen ist. Er hat dieses universale Handbuch des Wissens in allem bestimmt; ihm ist jene entschiedene Art der Charakteristiken zu danken, durch die sich der Große Herder so vorteilhaft von den verbindlichen Bewertungen anderer Lexika unterschied. Ihm geschehen können. Denn das Lexikon forderte die Investition von mehreren Millionen Schweizer Franken. Es wendet sich zunächst an die deutschsprachigen Schweizer, und es stellt ihnen, die kaum drei Millionen Köpfe zählen, ein vortreffliches Zeugnis aus, daß sie etwa zehntausend Subskribenten für das über dreihundert Schweizer Franken kostende Sammelwerk aufbrachten.

Das Ergebnis dieses Wagnisses der Verleger und der ihm entsprechenden Hilfe der lesenden Öffentlichkeit wird aber weit hinaus über die eidgenössischen Grenzen dem gesamten deutschen Sprachraum und allen deutsch Lesenden zugute kommen. Auf längere Zukunft hinaus dürfte kaum ein Verleger im Reich imstande sein, ein anderes Lexikon in Angriff zu nehmen. Besonders für Österreich besitzt das Schweizer Lexikon hohen Wert, und es ist zu hoffen, daß es, auf Grund eines Abkommens der zuständigen Stellen, wenigstens im beschränkten Ausmaß, hiesigen Bibliotheken und Privaten zugänglich gemacht wird.

Das Schweizer Lexikon hat alle Vorzüge, die man von ihm erwarten konnte. Es ist leidenschaftslos, gerecht, unparteiisch, ohne deshalb in ideologische Farblosigkeit zu „Schweizer Lexikon in sieben Bänden“. Encyclios-Verlag, Zürich 1945—1948. Bisher sechs Bände: „A“ bis „Straßburg“, verfallen. Der christliche Standpunkt leuchtet oft durch, er wird nirgends verletzt. Die politischen Urteile entsprechen der Schweizer Neutralität; dort, wo mißbilligende Worte stehen, meiden sie die Beschimpfung und Beifall, Begeisterung artet nie zu Liebedienerei aus. Die Auswahl der Artikel ist ein~Muster von Einsicht und von Umsicht. Das Technische überwiegt vielleicht allzusehr über das Geisteswissenschaftliche, besonders die Geschichtsübersichten sind oft zu knapp, doch derlei liegt im Geiste der Zeit, den ja jedes Lexikon widerspiegelt. Sehr viel Lob gebührt den biographischen Notizen, die — mitunter in wenigen Zeilen — ein allseitiges Bild der Persönlichkeiten geben. Wie schon beim Großen Herder finden sich auch im Schweizer Lexikon hervorragende Gesamtartikel über wichtige Themen. Uneingeschränkter Beifall gebührt den Illustrationen. Nur dem Zünftigen aber wird bewußt, welche Summe von nützlicher Arbeit in einem ingeniösen System von Abkürzungen und Sigeln liegt, dank welchen auf engem Raum eine Fülle von Nachrichten dargeboten werden kann. Sehr zu begrüßen ist das Bemühen, fremde Namen, auch aus slawischen, ja aus exotischen Sprachen, richtig wiederzugeben, beziehungsweise zu transkribieren und ihre annähernd korrekte Aussprache zu ermöglichen. Einen der wenigen schwachen Punkte im Programm des Lexikons bilden die Literaturangaben. Zwar sind auch da grundsätzlich richtige Absichten zu spüren, doch haben es die in der Schweiz herrschenden Bibliotheksverhältnisse der Kriegs- und der Nachkriegszeit mit sich gebracht, daß Werke, die nicht in einer der europäischen Hauptsprachen erschienen sind, nur unregelmäßig angeführt werden. Allein sogar bei deutschen Büchern aus der Zeit des Dritten Reiches und bei angelsächsischen Schriften sind Lücken zu beobachten. Der positive Gesamteindruck wird aber durch diesen Schönheitsfehler nicht gemindert.

Besonders zu würdigen sind die Schlagworte Schweiz und Österreich; das eine, weil man kaum an einem zweiten Ort in gedrängter Form so reiche und so zuverlässige Belehrung über die Eidgenossenschaft antrifft wie in diesem Schweizer Lexikon, das andere Schlagwort, weil es naturgemäß in dem Lande, dem es gewidmet ist, stärkstem Interesse begegnet. Die Behandlung Österreichs dürfen wir als gültigsten Prüfstein für den Wert dieser Enzyklopädie be- t rächt en. Und der Artikel Österreich hält dem kritischen Urteil stand. Sein Umfang bezeugt die Aufmerksamkeit, die man in der Schweiz dem östlichen Nachbarn widmet. 19 Spalten, gegenüber zum Beispiel 7 für Belgien, 13 für Polen, 11 für Schweden und 38, das Maximum, für die Eidgenossenschaft selbst. Die Literaturangaben zu den einzelnen Abschnitten sind gut ausgewählt; höchstens, daß zum Beispiel das „österreichische Jahrbuch“ für 194546 und 1947 fehlt, daß man zur Geschichte gern etwas mehr erwähnt gesehen hätte. Tatsachen und ihre Darstellung sind sparsam und gut geboten, sowohl für das rein Geographische als auch für die politische Geschichte, für Recht und Kunst, zumal für die Musik. Weniger befriedigt der Abschnitt über Literatur. Es gibt da bedauerliche Lücken — das gesamte Theater vor Raimund, dann den „Lanzknecht“ Schwarzenberg, Kürnberger, Pyrker, Seidl, Halm, Handel-Mazzetti, an Neueren unentschuldbar Weinheber und Brehm, Bruckner und Csokor, Paula v. Preradovid und Rudolf Kassner. Es stören Fehlurteile, wie zum Beispiel die Gleichsetzung eines Nestroy mit Bauernfeld, der Ebner-Eschenbach mit Franzos.

Bei einer flüchtigen Durchsicht der biographischen Artikel vermissen wir zum Beispiel Otto Bauer, Geßmann, Goluchowski, Herbst, beide Plener, Koerber, aus der Gegenwart Figl, von Schriftstellern etwa Sebastian Brunner, Daniel Spitzer, Kürnberger, eine Erwähnung des „Brenner"- Kreises. Recht unsorgsam sind die Nachrichten über Leben oder Tod zeitgenössischer Autoren. So weilen, gemäß dem Lexikon, Karl Kraus, Richard v. Schaukai und Rudolf Borchardt noch unter uns.

Nach diesen Einwendungen möchte ich zuletzt die Charakteristiken als den größten Vorzug des Werks nennen. Hier zum Beispiel die Schilderung Adalbert Stifters: „Als Schulrat, Landeskonservator und Dichter suchte er den Gefahren des Zeitgeistes entgegenzutreten. Die Zeitgenossen sahen in S.s Erzählungen die beschauliche Idyllik des Biedermeiers. Die Gegenwart verehrt in S. einen der bedeutendsten Naturschilderer und einen der edelsten Erzieher. Einzig durch die dichterische Auslese der Worte, Dinge und Gestalten übte er Kritik und setzte die Geduld gegen die Unrast, die Stille gegen das Lärmige, die Ehrfurcht vor dem .sanften Gesetz gegen den Kult des Kolossalen, das Einfache gegen das Problematische, das Ungebrochene gegen das Psychologische, das dauernd Gültige gegen das Tendenziöse. Seine Sprache ist Zeugnis strenger Selbsterziehung, indem sie mit der Ausdrucksseligkeit J.ean Pauls anhebt und mit der Schmucklosigkeit Xenophons endet.“

Wie weit sind wir bei dieser tief ins Wesen eindringenden Schau, mit dieser am Gegenstand sich erhebenden Sprachkunst von jenem langweilig-langwierigen Ungeist entfernt, der uns aus den Lexika eines sich in flacher Aufklärichtbildung gebenden Zeitalters entgegengähnte. Es dünkt uns vielleicht der größte Gewinn, den wir dem Schweizer Lexikon danken, daß wir aus ihm den Stil unserer Zeit und aus jenem wieder die tröstende Gewißheit erfahren: wir sind weder am Ende, noch geht unser Weg abwärts; wir haben zwar viel von den einstigen Gütern einer untergegangenen Welt verloren, aber an unserer Seele manchen Gewinn zu erspielen vermocht!

Die Sonne war und blieb das Lieblingsgestirn des Priestergelehrten — doch bei weitem nicht sein ausschließliches Forschungsgebiet. Was P. Secchi über den physikalischen Zustand der Sterne und die Erklärung der Naturkräfte geleistet, füllt allein schon ein Leben aus. Durch seine Untersuchungen und seine Verbesserung der Instrumente wurde er Mitbegründer der Spektralanalyse und der Astrophysik. An die 4000 Sterne untersuchte er nach ihrer chemischen Zusammensetzung. Das Ergebnis war die bedeutungsvolle Einteilung der Sterne in vier Typen: weiße, gelbe, rötliche und rote Sterne. Mehr noch! Der größte Erfolg war die Erkenntnis: die ganze Schöpfung ist „aus einem Stoff gebaut, nach ein und denselben Plan geordnet, von denselben Gesetzen regiert…“. Die Einheit des Schöpfers und der Schöpfung war somit zum erstenmal empirisch bewiesen. Die Verschiedenheit der Farben beruht lediglich auf der verschiedenen Entwicklungsstufe der einzelnen Sterne. Aber nicht nur die Astronomie und die Physik auch die Meteorologie Wetterkunde hatte in Secchi einen Pionier- allerersten Ranges. Weltberühmt war schon sein „Meteorograph“, der Luftdruck, Temperatur, Windrichtung, Windstärke, Feuchtigkeitsgehalt und Regen selbsttätig aufzeichnete. Auf der Pariser Weltausstellung 1867 erhielt er dafür unter 47.000 Kunstausstellern die große goldene Medaille. Napoleon III. überreichte ihm damals vor den österreichischen, russischen, belgischen Majestäten die Abzeichen eines Offiziers der französischen Ehrenlegion. Die Vielseitigkeit dieses bewunderten Meteorographen ist geradezu ein Sinnbild für seinen Erbauer. Unerschöpflich an Ideen, alles sogleich mit seinem gewaltigen Geist tief erfassend und von unverwüstlicher Arbeitskraft — das ist P. Secchi.

Mit vollem Recht konnte Secchi auf dem Sterbebett immer wieder betonen, wie glücklich er sei, da er nur für Gottes Ehre und für Gottes Kirche gearbeitet habe. Auch Pius IX. sagte kurz vor seinem Tod: „Pater Secchi war meinem Herzen stets teuer; er ist ein würdiger Sohn de heiligen Ignatius. — Ein wahrer Ordensmann, ein echter Jesuit; so gelehrt und doch so demütig!“ — Über seinem Katafalk stand in großen Lettern als die sonnenklare Signatur seines Lebens; „Gott, Du Quelle der Weisheit und Urheber der Wissenschaft! Von Dir kommt Anfang und Ende!“

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