6556744-1948_26_03.jpg
Digital In Arbeit

Unrecht in Gesetzesform?

19451960198020002020

In der Bevölkerung sind kritische Erörterungen im Gange, in deren Mittelpunkt das Dritte Rückstellungsgesetz und die in vielen hunderten Prozeßfällen sich aus- sprechende Judikatur stehen. Auch in der „Furche” haben diese Debatten schon Niederschlag in Form von Zuschriften aus dem Leserkreis gefunden. Es erscheint jetzt als wichtig, daß in dem Widerstreit der Meinungen und Interessen die Stimme des unabhängigen und erfahrenen, über den Parteien stehenden Rechtspflegers gehört werde. Einer solchen Aufklärung soll die Veröffentlichung des nachstehenden Aufsatzes dienen.

19451960198020002020

In der Bevölkerung sind kritische Erörterungen im Gange, in deren Mittelpunkt das Dritte Rückstellungsgesetz und die in vielen hunderten Prozeßfällen sich aus- sprechende Judikatur stehen. Auch in der „Furche” haben diese Debatten schon Niederschlag in Form von Zuschriften aus dem Leserkreis gefunden. Es erscheint jetzt als wichtig, daß in dem Widerstreit der Meinungen und Interessen die Stimme des unabhängigen und erfahrenen, über den Parteien stehenden Rechtspflegers gehört werde. Einer solchen Aufklärung soll die Veröffentlichung des nachstehenden Aufsatzes dienen.

Werbung
Werbung
Werbung

,,Die Furche”

Die Begriffe „Recht” und „Gesetz” decken sich nur in der Vorstellungswelt des F o r- maljuristen. Diesem ist jede Norm „Recht”, die der Gesetzgeber in der ver- fassungsgemäß vorgesehenen Form erläßt; ob sie auch „gerecht” ist, das heißt der sittlichen Ordnung entspricht, darüber maßt er sich kein Urteil an. Denn die Beantwortung dieser Frage fällt seiner Auffassung nach nicht mehr in den Aufgabenkreis des Juristen, sondern des Ethikers. Wer dagegen auf dem Standpunkt der Naturrechtslehre steht, dem ist der Gegensatz von Recht und Gesetz wohl vertraut. Für ihn stellt das positive Recht, das „Gesetz”, jeweils nur den mehr oder minder geglückten Versuch dar, die Idee des Rechts, die Gerechtigkeit, zu verwirklichen; letztere aber bildet den Maßstab für die Güte der positiven Normen.

Leider hat die Rechtswissenschaft des letzten Jahrhunderts in weiten Kreisen die Vorstellung des Gegensatzes von Gesetz und Gerechtigkeit völlig zerstört, indem sie das Bestehen einer über allen menschlichen Satzungen stehenden Norm der Gerechtigkeit leugnete. Damit wurden aber zugleich auch die Menschenrechte verleugnet und der staatlichen Willkür preisgegeben und so konnte schließlich der totale Staat das Zerrbild einer Rechtsordnung errichten, wo im Namen des Rechts systematisch Unrecht getan, ja, wo das Unrecht zur proklamierten Staatsordnung wurde.

Diese Entartung des Rechtslebens bietet wohl einen überzeugenden Beweis dafür, daß eine Rechtsordnung ohne Metaphysik nicht bestehen kann und daß jedes Recht, das nicht in der Gerechtigkeit gegründet ist, früher oder später in Gewalttätigkeit und Willkür endet. Seltsamerweise ist diese Erkenntnis trotz der Erfahrungen der letzten Jahre derzeit noch keine allgemeine. Zahlreich ist auch heute noch das Bestreben, Unrecht in Gesetzesform zu kleiden, und viele glauben, daß die rechtlosen Methoden des totalen Staates schon dadurch gerecht werden, daß man sie gegen die ehemaligen Machthaber und Nutznießer jenes Systems anwendet.

Es ist daher nur zu begrüßen, wenn heute bereits vielfach an der Gesetzgebung vom Standpunkt einer höheren Sittenordnung aus Kritik geübt wird. Denn solche Prüfung bewirkt die richtige Weiterbildung des Rechts; sie beseitigt Unrecht und mildert die Härten der Gesetze.

Dagegen nVuß nacbdrücklichsc vor jener Kritik gewarnt werden, die unter Anrufung der göttlichen Gerechtigkeit scheinbar gegen ein ungerechtes Gesetz ankämpft, in Wahrheit jedoch nur eigensüchtige Interessen verfolgt.

Augenblicklich steht gerade das Dritte Rückstellungsgesetz im Brennpunkt schärfster Kritik, und es ist für unser materialistisches Zeitalter bezeichnend, daß sich die Geister gerade an diesem Gesetze so gewaltig erhitzen, welches ja letzten Endes bloß die Rückstellung von Vermögenschaften zum Gegenstand hat,’ also keineswegs an die Grundrechte menschlichen Daseins rührt.

Der Grundgedanke des Gesetzes ist die entschiedene Verurteilung aller durch das nationalsozialistische System verursachten Zwangsenteignungen und die Nichtigkeitserklärung aller im Zusammenhänge mit der nationalsozialistischen Machtübernahme erfolgten Vermögen sentzie- h u n g e n. Es handelt sich dabei um einen Akt der Gesetzgebung, der auch in allen übrigen vom Terror des Nationalsozialismus heimgesuchten Ländern Europas (wie zum Beispiel Holland, Frankreich und andere) vollzogen wurde.

Tatsächlich wird auch im allgemeinen gegen eine derartige legislatorische Maßnahme an sich nicht angekämpft, sondern lediglich die Anwendbarkeit des Gesetzes auf den Einzelfall bestritten. Es ist dies begreiflich, wenn man bedenkt, wie tief das Gesetz in manchen Fällen in das Vermögen des einzelnen eingreift, ja dessen wirtschaftliche Existenz geradezu bedroht. Handelt es sich doch dabei oft um Personen, welche das nunmehr vom Rückstellungsgesetz erfaßte Vermögen nicht nur in formalrechtlich einwandfreier Weise erwarben, sondern um Erwerbe, die vielfach auch vom moralischen Standpunkt durchaus zu billigen waren. So haben zum Beispiel seinerzeit die in ihrer persönlichen Existenz bedrohten Juden sich nicht selten an Freunde oder Nachbarn gewendet und sie dringend gebeten, Vermögenschaften zu erwerben, damit sie in die Lage versetzt würden, ihre Steuern zu zahlen und auswandern zu können und somit ihr Vermögen zu retten. Für diese Erwerber bedeutet das Rückstellungsgesetz mit seiner bedingungslosen Rüc k g abe v er p f 1 i ch tung ‘t a t- sächlich eine unverdiente Härte und Grausamkeit, welche einer legislatorischen Korrektur bedarf.

Bezeichnenderweise sind es aber nicht allein Erwerber dieser Art, welche gegen das Rückstellungsgesetz Stellung nehmen, sondern vielmehr noch die große Zahl von enttäuschten Spekulanten, welche die von den nationalsozialistischen Stellen veranlaßte Massenenteignung der jüdischen Bevölkerung als günstige Gelegenheit nutzten, ihr Vermögen vorteilhaft anzulegen und vor allem durch Ankauf von Liegenschaften durch eine „Flucht in die Sachwerte” gegen Entwertung nach Möglichkeit zu sichern.

Solche Hoffnungen macht nun das Dritte Rückstellungsgesetz zunichte. Begreiflicherweise empören sich deshalb die Gemüter der Betroffenen in heftigster Entrüstung. Am lautesten aber rufen die, welche vor wenigen Jahren gefühllos die völlige Entrechtung, ja sogar die gänzliche Vernichtung ihrer Mitmenschen mitangesehen und sich an deren Elend vielfach noch bereichert haben.

Es sind jedoch nicht nur die Rückstellungspflichtigen allein. Auch die geschädigten Eigentümer zeigen nur in seltenen Fällen charakterliche Größe. So erweist sich in zahlreichen Verfahren als Gegenstück zu dem sturen Widerstand zahlreicher Erwerber das widrige Verhalten der von verbissenem Haß erfüllten Antragsteller, deren ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet ist, dem Prozeßgegner durch möglichst nachteiliges Vorbringen soviel als möglich zu schaden. Da werden auch dem harmlosesten und anständigsten Käufer verwerfliche Äußerungen und schandbare Handlungen angedichtet, trotz Vorliegen einwandfreier Schätzungen Phantasiepreise als „wahre Werte” des Verkaufsobjekts angegeben und die Behauptung aufgestellt, „nicht einen Heller” vom Kaufpreis erhalten zu haben, obschon dann durch das Verfahren erwiesen wird, daß namhafte Teile des Kaufschillings zum offenkundigen Vorteil der Verkäufer verwendet wurden.

Dieses Verhalten hat vielfach in der falschen Vorstellungswelt von Menschenseinen geistigen Ursprung, welche die österreichischen Verhältnisse noch immer ausschließlich nach ihren Erlebnissen in den Jahren 1938 und 1939 beurteilen und von der seither eingetretenen tiefgehenden Wandlung der Anschauungen keine Kenntnis genommen haben. Sie reißen durch ihr Benehmen Wunden auf, die eben erst geheilt sind, und sichaden damit nicht nur sich selbst, sondern auch der Sache ihrer Leidensgenossen aufs schwerste. Sie verkennen dabei, daß das Dritte Rückstellungsgesetz kein Instrument der Rache ist, sondern eine Einrichtung des billigen Ausgleichs im Rahmen des Möglichen.

Diesem Gesichtspunkt trägt vor allem der S 6, Abs. 1, des Dritten Rückstellungsgesetzes Rechnung, und es ist daher begreiflich, daß gerade dieser Paragraph in der Rechtsprechung der Rückstellungskommissionen überragende Bedeutung erlangt hat, ein Umstand, der übrigens nach den vorliegenden Kritiken in der Öffentlichkeit viel zuwenig beachtet wurde. Nach dieser Gesetzstelle kann nämlich die Rückstellungskommission in den Fällen, wo die Regeln des redlichen Verkehrs vom Erwerber eingehalten wurden, in Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und gegenseitigen Beziehungen der Parteien nach billigem Ermessen bestimmen, ob und welcher Teil des vom Erwerber bezahlten, vom Eigentümer aber nicht zur freien Verfügung erhaltenen Kaufpreises dem Erwerber vom geschädigten Eigentümer zu ersetzen ist. Auf diese Weise findet in beschränktem Umfang eine gewisse Aufteilung des von dem nationalsozialistischen Staate zugefügten Schadens auf alle an der Vermögenstransaktion Beteiligten statt.

Dieser Gedanke einer verhältnismäßigen Schadensaufteilung vermag auf eine sehr lange Tradition zurückzublicken. Er war bereits dem griechischen Handelsrecht geläufig: danach hatten für den Fall, als ein Schiff in Seenot geriet und zur Abwehr der drohenden Gefahr ein Teil der Ladung geopfert werden mußte, alle, deren Güter gefährdet waren, den Schaden (Havarie) gemeinsam zu tragen. Dieser Rechtssatz ging dann unter dem Namen „lex Rhodia de jactu” auch in das römische Recht ein und wurde später in das mittelalterliche und neuzeitliche Seerecht übernommen. Schließlich hat auch das ABGB im § 1043 den gleichen Ausgleichsgedanken ausgesprochen.

Die Heranziehung dieses Rechtssatzes bei Gutmachung des durch das nationalsozialistische Regime verursachten Schadens kg nahe. Handelt es sich doch auch hier in den weitaus meisten Fällen um Schädigungen, die nicht sosehr durch das konkrete Handeln eines an dem Rechtsgeschäft unmittelbar Beteiligten verursacht wurden als durch die allgemeinen Folgen der nationalsozialistischen Machtergreifung, die sich gleich einem schweren Elementarereignis auswirkte. Wir alle befanden uns damals gewissermaßen in äußerBombenkratern, Konzentrationslagern oder Luftschutzkellern um ihr nacktes Leben zitterten, heute um nichtige materielle Güter mit einer Erbitterung streiten, als ob von deren Besitz das ewige Seelenheil abhinge. Es ist eine unglückselige Einstellung der heutigen Menschen, daß sie allen Dingen des Lebens gegenüber vorwiegend als Fordernde und Heischende gegenübertreten. Verharren sie in dieser Haltung, so werden sie kaum jemals befriedigt werden, da das geringe irdische Gut, das heute zur Verteilung steht, ihnen auf keinen Fall genügen wird. Die wahre Gerechtigkeit vermag aber weder Shylock durch sein beharrliches Pochen auf den starren Buchstaben des Gesetzes heraufzubeschwören noch auch Michael Kohlhaas durch starrsinnige Obstruktion zu erzwingen.

Wenn nämlich ein Gesetz auch dem einzelnen oft bedeutende Opfer auferlegt, muß es sich deshalb noch lange nicht um Unrecht handeln, mag es auch den Betroffenen als solches erscheinen, die sich heute ängstlich an die letzten Reichtümer dieser Welt klammern. Ausschließlich von ihren eigenen Wünschen erfüllt, haben sie jeden objektiven Maßstab für Recht und Unrecht verloren. Sie wissen nur um ihre Forderungen und ihre Leiden und kennen weder die Beschränkungen ihrer Rechte durch das Dasein der Mitmenschen noch auch ein Mitleid mit dem Schicksal des Nächsten. So finden sie nie den Weg zur wahren Gerechtigkeit, die ja niemals bloß den einzelnen sieht und sein Sonderrecht, sondern immer den Blick auf alle Menschen richtet und nur dem sich gnädig erweist, der sich stets bewußt ist, daß er nur ein einziger Mensch ist unter vielen Millionen, ein Bruder in einer Welt von Brüdern, ein einzelnes von den zahllosen Kindern Gottes, die alle wie er teilhaben sollen an den Gütern dieser Erde.

Es waren Jahre, da wir alle in gewissem Sinne Tag für Tag gestorben, zumindest fast schon im Vorfeld des Todes gestanden sind. Doch die vielen Schreckensnächte und die vom Tode überschatteten Tage vermochten noch immer nicht, die Seelen der Menschen uatnzupräjgen. Noch sind ihre Augen blind, und nicht von Tränen allein, sondern geblendet von Eigennutz und Gier nach irdischen Gütern. So müssen die Richter des Rückstellungsverfahrens mit Staunen feststellen, daß Menschen, die gestern noch in

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung