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Richter des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen in Wien

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Seit es wieder eigene österreichische Gerichte gibt, ist die Justizpflege wiederholt das Ziel scharfer Kritik in der Öffentlichkeit gewesen. Zweifellos bestanden und bestehen manche Übelstände. Nach sieben Jahren nationalsozialistischer Herrschaft, also nach einer praktisch rechtlosen Zeit, war binnen kurzem ein tadelloses und einwandfrei arbeitendes Gerichtswesen nicht zu erwarten. Man kann aus einem in Schutt und Asche gesunkenen . Gebäude über Nacht nicht einen Palast hervorzaubern. Oft aber war die Kritik auch unberechtigt, die im Mißverstehen der gesetzlichen Vorschriften und des Wesens aller Rechtsprechung andere Voraussetzungen und Absichten der Justiz unterschieben wollte. Doch soll nicht bestritten werden, daß eine mitunter zu ängstlich am Buchstaben klebende Gesetzesauslegung so manche richterliche Entscheidung entwertet hat. Der Richterberuf ist kein leichter, schon gar nicht heute, da oft Gesetze von einer geradezu erstaunlichen Unvollkommenheit und voll der Widersprüche und der Lebensfremdheit dem Richter zur Anwendung übergeben werden. Solche Lücken müssen heute vom Geiste des Richters ausgefüllt werden. Und diesfe Arbeit -des Richters darf sich nicht in rein juristisch akademischer Betrachtung von einer dem praktischen Leben fernen Warte aus erschöpfen, sondern sie muß geführt sein von dem heißen Bestreben, wirkliches Recht zu schaffen und der Gerechtigkeit zu dienen. Es ist zweifellos manchmal weitaus einfacher und bequemer, ein Gesetz bloß nach seinem knappen Wortlaut und seiner mehr oder weniger unglücklich gefaßten Phraseologie auszulegen, statt seinen eigentlichen Sinn und Zweck zu erforschen und danach zu handeln, dann aber allfälligen Vorhalten, die Gesetzesaüslegung sei mit dem Rechtsempfinden nicht ganz vereinbar, mit einem bedauernden Achselzucken zu begegnen, daß man leider dagegen nichts machen könne, der Wortlaut des Gesetzes schreibe es so vor. Das hieße der hohen Aufgabe des Richters nicht gerecht werden. Das wäre dasselbe — um einen Vergleich zu geben —, wie wenn jemand ein literarisches Werk in eine andere Sprache übersetzte und sklavisch jedes Wort übertragen würde. Wie primitiv und unbefriedigend wäre das Ergebnis! Die Aufgabe des Richters bei Findung des Urteilsspruches nach den Bestimmungen des Gesetzes ist es: dem Sinn getreu und nicht nur dem buchstäblichen Worte, hat er das aus dem Gesetz auszulegende Recht zu schöpfen und in seinem Urteilsspruch anzuwenden.

Für den juristischen Laien mögen die bisherigen Ausführungen nicht ganz klar genug sein. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung von heute soll dies verständlicher machen.

In diesen Tagen ist ein juristischer Streit zwischen einem Strafsenat der 1. Instanz und einem Senat der letzten Instanz im Rahmen der noch immer anhängigen Wahlbetrugsstrafverfahren entbrannt; es handelt sich dabei um folgende rechtliche Meinungsverschiedenheit:

Es gibt eine Anzahl meist Minderbelasteter, die das Wahlrecht zwar nicht ausgeübt haben, aber in den seinerzeit aufgelegten Wähleranlageblättern sich bloß als Parteianwärter oder -mitglieder bezeichneten, obwohl sie etwa auch kurze Zeit, sagen wir zwei oder drei Monate, bei der SA Dienst versahen. Oder sie verschwiegen sonst einen, wenn auch nicht sehr erheblichen Teil ihrer politischen Belastung. Durch seine gemachten Angaben verlor er ohnehin das Wahlrecht, es lag die Annahme nahe, daß damit weitere Angaben überflüssig geworden seien. Tatsächlich ist der Mann auch nicht zur Wahl gegangen. Was sollte er denn auch vor dem Hausmeister, dem ja die Wähleranlageblätter zur Weitergabe in die Kartenstelle offen übergeben wurden, weitere Angaben machen, die für die Wahl ohnehin nichts mehr änderten? Wie ich schon in einer meiner früheren Aufsätze („Furche“ vom 31. Oktober 1947, „Der Fragebogen") ausführte, widerspricht übrigens ein Zwang, sich durch Ausfüllung eines solchen Fragebogens selbst belasten zu müssen und bei nicht ganz richtiger Beantwortung deswegen noch mit Strafe bedroht zu werden, unserer gesamten Rechtsordnung (vergl. unter anderem §§ 245, Abs. 2, 202, 203, 152, 153 StPO).

So manches einfache Parteimitglied hat sich solcherart zum Beispiel als „Anwärter“ im Wähleranlageblatt bezeichnet. Ein Schaden für die Öffentlichkeit und für den Staat (Wahlbehörde) konnte aber dadurch keineswegs entstehen, weil eben auch Parteianwärter vom Wahlrecht ausgeschlossen waren und sohin nicht in die Wählerliste aufgenommen werden durften. Der Zweck des Wähleranlageblattes war also durch die Angaben, die der Mann gemacht hatte, vollkommen erreicht; sein Zweck war kein strafrechtlicher, sondern nur gerichtet auf die Feststellung, ob dem Manne das Wahlrecht gebühre oder nicht.

Die erste Instanz hatte daher solche Leute grundsätzlich freigesprochen, weil ihnen kein böse Absicht, keine Schä,di- gungsabsicht nachzuweisen war. Das Wähler veranlagungsverfahren konnte nur den Zweck haben, die Nichtwahlberechtigten festzustellen. Diesem Zwecke genügte es, wenn der Minderbelastete wenigstens eine seiner Belastungen wahrheitsgemäß angab. Der Erforschung seiner wirklichen politischen Stellung in allen Einzelheiten und Details diente ja ohnedies das R e g i s t r i e- rungsverfahren. Diese Rechtsansicht entspricht zweifellos der inneren Tendenz des Gesetzes und bezeichnenderweise wurde sie auch von den aus den verschiedensten sozialen Schichten der Bevölkerung stammenden und ständig wechselnden Schöffen stets vertreten.

Der Oberste Gerichtshof hingegen verfocht den gegenteiligen Standpunkt und sprach aus, daß der Zweck des Wählererfassungsverfahrens hier ohne Bedeutung sei. Jede nicht ganz richtige Behauptung im Wähleranlageblatt lasse die diesen Fragebogen ausfüllende Person schon des Verbrechens des Wahlbetruges schuldig erscheinen und sei daher nach dem Gesetz mit Kerker von I bis 5 Jahren zu bestrafen.

Mit Rücksicht darauf, daß die 1. Instanz, wie es in einem demokratischen Lande ihr gutes Recht ist und wie es nach dem Ge setz ausdrücklich gewährleistet ist, sich durch diese oberstgerichtliche Judikatur nicht beeinflussen ließ, vielmehr bei ihrer Rechtsansicht blieb, hat der Oberste Gerichtshof noch in seinen letzten einschlägigen Entscheidungen eine weiter ausholende Begründung seiner - Rechtsmeinung gegeben und sich hiebei unter anderem auf die „lex Cornelia de falsis (crimen stellionatus)“ sowie auch auf die Gesetzgebung Kaiser Josephs II. berufen. Diese Ausführungen mögen zweifellos sehr klug und, rechtshistorisch gesehen, auch höchst interessant sein, es fragt sich nur, ob den Nöten der geplagten Menschen des 20. Jahrhunderts und unserem heutigen Rechtsempfinden sehr gedient ist, wenn auf altrömische Gesetzartikeln, auf Pandektenrecht und auf Stellen des Josephinischen Strafgesetzbuches zu- riickgegriffeo wird, wenn dadurch Minderbelasteten, die heute vielfach auch schon entregistriert wurden, ja jetzt sogar auf jeden Fall völlig amnestiert werden sollen, dadurch zu Verbre'chern gestempelt werden, die eine 1- bis 5jährige Kerkerstrafe zu erwarten haben.

Soweit die beiden gegensätzlichen Rechtsansichten. Ein guter Jurist ist selbstverständlich imstande, beide Ansichten im Rahmen der Gesetzesauslegung erklären und bs ründen zu können. Dem Leser kann ohne weiteres die Beurteilung überlassen werden, welche der beiden Lehrmeinungen er dem allgemeinen natürlichen Rechtsempfinden entsprechender erachtet.

Wir sind heute beim Wiederaufbau der österreichischen Justiz. Eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Gewinnung einer die allgemeine Gerechtigkeitsidee und das Rechtsempfinden des Volkes befriedigenden Rechtsprechung ist die Schaffung eines Richternachwuchses, der den hohen Anforderungen an die Persönlichkeit und Autorität der Richtęr entsprich tt Ein Richter muß ein gutes Fachwissen sein eigen nennen. Aber beinahe noch viel maßgebender und wichtiger ist es, daß er bei Verwaltung der Gerechtigkeit, bei Ausübung seines Berufes immer das richtige Erfassungsvermögen für die Zusammenhänge eines juristischen Tatbestandes mit dem praktischen Leben zeigt oder, noch einfacher und primitiver gesägt, daß er das Herz am rechten Fleck habe. Ein in Wien sehr bekannter hervorragender Jurist hat einmal den Ausspruch getan, ein guter Richter müsse einen Rechtsfall vorerst in seinem Inneren nach der Stimme seines Herzens entscheiden, erst dann werde er im Geiste im Gesetzbuch nachblättern, ob sein vorerst rein gefühlsmäßig erstelltes Urteil auch nach dem Gesetz haltbar sein und richtig begründet werden könne. Es gibt kaum ein Wort, welches das eigentliche Wesen einer guten richterlichen Entscheidung besser zeigen könnte. Der Richter, der nicht nur die Rechtswissenschaft und den nüchternen kühlen Verstand, sondern auch sein Herz befragt, bevor er sein Urteil „im Namen der Republik“ fällt, der wird selten eine Entscheidung verkünden, die mit dem allgemeinen Rechtsempfinden in krassem Widerspruch steht.

Es wird daher das dringendste Gebot der Stunde sein müssen, einen solchen Ansprüchen gerecht werdenden Richternachwuchs zu bekommen, junge Menschen, die nicht nur der Staatsanstellung oder einer erhofften Karriere wegen sich zum Richterberuf drängen, sondern auch tatsächlich die innere Berufung zu diesem Amt in sich fühlen, die wahrhaft sozial denken und für die es keine Standesunterschiede unter den Personen gibt, die vor ihrem Verhandlungstisch stehen. Sie werden die manchmal leider so schlecht gemachten Gesetzesparagraphen mit ihrem Herzblut zu erfüllen haben, so daß sogar alte, verstaubte Gesetzartikel durch ihre moderne, lebensnahe Auslegung wie durch ein Zauberwort lebendige Gerechtigkeit werden.

Ein großer Österreicher, Anton Wildgans, hat in einem Gedicht „Einem jungen Richter zur Beeidigung“ folgende herrliche Worte in seinen Beruf mitgegeben. Man sollte dieses Gedicht jedem neu aufgenommenen österreichischen Richter auf einem künstlerisch ausgeführten Blatt überreichen, damit er es durch seine ganze Dienstzeit in seinem Amtszimmer unter goldenem Rahmen halte und immer wieder es sich Vorhalte:

Sei auch nicht

Büttel und Sklave am geschriebenen Wort!

Denn alles, was geschrieben steht, verdorrt, Wenn es gedankenlos ein stumpfer Knecht Betreut. Den Gärtner braucht das Recht,

Den selbstlos-weisen, der rriit seinem Blut Den Weinberg düngt. Denn ohne dies Wird das Gesetz zum Hohn und die Gerechtigkeit Ein eitel Haschen nach dem Wind!

So gib auch du dein warmes Blut,

Und all dein Herz! Denn dieses will dein Eid.

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