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Auch Höchstgericht muß begründen

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Um den in Arbeit erstik-kenden Obersten Gerichtshof zu entlasten, wurde durch Neuregelung seine Pflicht, Entscheidungen begründen zu müssen, für ganz bestimmte Fälle aufgehoben. Ist das ein erster Schritt in eine gefährliche Richtung?

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Um den in Arbeit erstik-kenden Obersten Gerichtshof zu entlasten, wurde durch Neuregelung seine Pflicht, Entscheidungen begründen zu müssen, für ganz bestimmte Fälle aufgehoben. Ist das ein erster Schritt in eine gefährliche Richtung?

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Niemand wird ernstlich bezweifeln, daß Österreich ein Rechtsstaat ist. Auch wird kaum jemand in Frage stellen, daß es bei fundamentalen Fragen der Rechtsstaatlichkeit keinen Kompromiß geben darf.

Neben der Freiheit des einzelnen, der Gewaltentrennung im Obrigkeitsbereich, neben der Rechtmäßigkeit der Verwaltung, der Unabhängigkeit der Richter und der allgemeinen Rechtssicherheit nimmt der Schutz des Menschen vor Ermessensmißbrauch, Willkür und rechtswidriger Gewalt der Staatsorgane eine beherrschende Stellung ein.

Sieht man bei uns in Österreich einmal von der problematischen Polizeihaft und der polizeitechnisehen Ausländerbehandlung ab als einem höchst unseligen Relikt menschenrechtswidriger Bestimmungen aus der Zeit unumschränkter Diktatur eines nationalsozialistischen Cäsarismus und untersucht man einen wesentlichen Bereich bürgerlichrechtlicher Verfahrensnormen der allerjüngsten Zeit, überfällt auch .den Robustesten ein beklemmendes Unbehagen.

Die Zivilprozeßnovelle 1983 enthält viel Neues und gewiß auch manch Gutes. Nur ist das Gute nicht neu und das Neue nicht gut.

Ungeachtet dieses überzeichnenden Bonmots, das vornehmlich den idealtypischen Kern aus der (Papier-)Hülle schälen soll: eine neue Regelung ist nachweisbar nicht nur nicht gut — sie ist abgrundtief schlecht! Sie ist ein (Tief-)Schlag gegen die unverzichtbaren Voraussetzungen einer praktizierten Rechtsstaatlichkeit bei Gericht.

Bisher war es so, daß auch die letzte Instanz für ihre Entscheidung in jedem Falle eine Begründung geben mußte. Wenn ein solcher Behördenakt auch (in der Regel) endgültig und unabänderlich ist, so dient die Begründung mehrfachen rechtsstaatlichen Bedürfnissen.

Sie bedeutet Nachvollziehbarkeit für den Betroffenen, Hinweis und Anhalt für Interessierte und für Parteien in gleich- oder ähnlich gelagerten Fällen. Die Begründung ist zudem ein Verhütungsmittel gegen Willkür, ein Schutzmittel vor ausufernder Fehlerhaftigkeit, vor Irrtümern bei zukünftigen Vorgängen.

Die Kritikmöglichkeit an jeder Art oberstgerichtlicher Entscheidungen dient im Rahmen der Fachblätter, Kommentare, Hörsäle und überhaupt durch die Öffentlichkeitsinformation den Grundsätzen der Rechtseinheit, Rechtsentwicklung und Rechtssicherheit.

Wird aber auch nur einer einzigen Behörde, einem Gericht oder Amt gestattet, einen rechtserheblichen Akt ohne Begründung zu setzen, fehlt jede Möglichkeit der Prüfung und Kontrolle, ob überhaupt dem Gesetze gemäß vorgegangen wurde: damit wird der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Genau das aber bedeutet die neue Bestimmung (sect; 502(4)1, 510(3) der Zivilprozeßordnung), wonach der Oberste Gerichtshof ohne jede Begründung sagen kann, er habe geprüft, ob Fragen der Rechtssicherheit, Rechtsein-heit und Rechtsentwicklung im konkreten Fall betroffen sind oder nicht, punktum.

Gewiß war auf Grund der unzumutbaren Belastung des OGH während der letzten Jahre eine Maßnahme zu seiner „Entsorgung" dringend nötig. Die hier in Rede stehende Norm ist aber nicht nur anormal, unangemessen radikal und dem rechtsstaatlichen Denken völlig fremd, sie ist der erste Einschleichdieb aus dem Lager totalitären Gedankengutes.

Wer kann wirklich die Hand dafür ins Feuer legen, daß ganz allein die unantastbare fachliche und menschliche Qualität der Richter beim Höchstgericht für immerwährende Zeiten eine Sicherheitsgarantie vor Willkürakten bietet?

Es wäre grotesker Zynismus, einer bestimmten Kategorie von Staatsbürgern jegliche menschliche Schwäche abzusprechen und ihnen gleich Heiligen eine Verantwortung aufzubürden, die selbst für weltferne Priester unerträglich wäre. Noch dazu aus reinen Nützlichkeitsgründen, die durch andere Maßnahmen leicht und sicher für den Rechtsstaat die fühlbare Entlastung des Höchstgerichtes ermöglichen.

Dazu kommt auch noch ein Aspekt für die Entscheidungsstelle selbst: Das zu so wichtigen Fragen ohne Begründungspflicht aufgerufene Forum kann wahrscheinlich schon nach kurzer Zeit selbst die Erwägungen und Prüfungsergebnisse nicht mehr rekonstruieren; etwa um für einen Rechtsfall ähnlicher Art Anhaltspunkte und Entscheidungshilfen zu haben.

Nun zu einem (von Tausenden möglichen) praktischen Beispiel: Ein (weiblicher) Friseurlehrling dreht in der Wohnung seiner Eltern im Zuge einer bevorstehenden Hochzeitsfeier unzähligen verschönerungsbedürftigen Gästen mit einem elektrischen Frisierstab Fönwellen und gefällige Locken, gefälligkeitshalber. Begreiflich, daß eine gewisse Hektik im beständigem Kommen und Gehen von Freunden und Verwandten unvermeidbar war, zerknitterte Hosen und Kleider weithergereister Hochzeitsgäste wurden im selben Raum gebügelt ... Kurzum, die in letzter Minute erreichte Zeremonie bringt die erste Verschnaufpause für den Lehrling.

Sein Frisierstab dürfte die Ursache für den nach etlichen Stunden zufällig entdeckten Zimmerbrand gewesen sein. Die Gemeinde als Hauseigentümer erhielt von der Feuerversicherung den Schaden ersetzt; den bösen Brandver-ursacher klagt die Versicherungsgesellschaft im Regreßweg auf Zahlung von rund 58.000 Schilling.

Der Gerichtshof erster Instanz führt ein sorgfältiges Beweisverfahren durch und weist schließlich mit ausführlicher tatsächlicher und rechtlicher Begründung das Klagebegehren ab.

Die Versicherung erhebt Berufung. Die zweite Instanz kommt (ohne Beweisaufnahme) aus rechtlichen Überlegungen zur Ansicht, der Lehrling habe der Versicherung die Klagsforderung zu zahlen.

Nach den neuen Bestimmungen der Zivilprozeßordnung gibt es trotz der divergierenden Rechtsansichten der beiden Bereiche kein ordentliches Rechtsmittel zur Anrufung der dritten Instanz.

Für eine „außerordentliche" Revision ist Voraussetzung, daß Fragen der Rechtssicherheit, Rechtseinheit oder Rechtsentwicklung zur Entscheidung anstehen. Wahrlich große und in seltensten Fällen einheitlich in der Lehre und Rechtssprechung behandelte Gebiete!

Der Anwalt des Lehrlings arbeitet die uneinheitliche Judikatur in den Kernfragen heraus, legt die Zulässigkeitsgründe dar und hofft, entweder die Ansicht des Erstgerichtes vom Obersten bestätigt, oder die Uberzeugung vermittelt zu bekommen, daß und weshalb die zweite Instanz doch im Recht sei.

Zurück kommt („Herablangen" ist früher das obrigkeitsgewichtige Wort gewesen) ohne Begründung, daß der OGH die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die außerordentliche Revision geprüft, das Vorliegen solcher aber verneint habe.

Vielleicht ist in 99 von 100 derartigen Fällen die Entscheidung richtig, obwohl gerade das Rechtsleben keiner mathematischen Exaktheit zugänglich ist. Sollte aber auch nur eine einzige Unrecht besiegeln, dann gnade Gott allen weiteren Rechtssuchenden.

Selbstredend muß es in allen Ordnungsprinzipien, so auch bei Rechtsproblemen eine letzte Instanz geben, bei der endgültig Schluß ist, ausgenommen die begrenzten Möglichkeiten einer Wiederaufnahme unter streng kodifizierten Voraussetzungen. Das war früher ja auch so. Nur der begründungslose Handstreich ist neu und bedroht die Grundsätze unseres Rechtssystems.

Das, was die Bestimmung vorgibt: Rechtssicherheit, Rechtseinheit und Rechtsentwicklung zu wahren, gefährdet und verletzt sie in Wirklichkeit.

Tausende denkbare Irrtümei und Fehler, allfällige reine Willkürakte entziehen sich auf diese Weise total jeder Uberprüfungsund Kritikmöglichkeit, die die erprobte Gewähr für gesetzmäßiges Handeln und die hart genug erkämpfte Garantie für den Weiterbestand der praktizierten Rechtsstaatlichkeit sind.

„Wehret den Anfängen", ist wahrscheinlich eine pathetische Sentenz; dennoch enthält sie in dieser Stunde keineswegs mehr einen unangebracht beschwörenden Ton.

Schleunigst und kompromißlos wird die mit heißem Herzen kritisierte und in höchstem Maß gefährliche Bestimmung zu streichen sein.

Der Autor ist Rechtsanwalt.

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