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Die Unabhängigkeit des Richters

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Bekanntlich haben die Richter sowohl bei der Ausübung der Gerichtsbarkeit in Zivil- und Strafsachen mit dem Obersten Gerichtshof an der Spitze als auch die zur Kontrolle der Verfassung und der Verwaltung tätigen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs und die Richter des Verwaltungsgerichtshofs die Vollziehung der Gesetze ohne Hilfe von Weisungen der Regierung durchzuführen. Man spricht von der „Unabhängigkeit des Richters“. Der Idee und Möglichkeit nach kann daher das Vorgehen der durch Weisungen beeinflußbaren Verwaltung in viel einheitlicherer Weise erfolgen als die Entscheidungsfällung durch die Gerichte. Dem Ministerialerlaß etwa, der alle Verwaltungsbeamten bei der Behandlung einer bestimmten Frage bindet, steht nur die den einzelnen Richter nicht verpflichtende Gerichtsübung gegenüber, sich bei Auslegung einer Ge- setzesstelle an eine, einmal eingelebte, Spruchpraxis, insbesondere des Obersten Gerichtshofs, zu halten.

Die Gewaltentrennung

Die Trennung von Gerichtsbarkeit und Verwaltung und die Verteilung der rechtsprechenden Gewalt auf drei von- tinander unabhängige Höchstgerichte hat jedoch einen tiefen rechtspolitischen Sinn. Es gibt nämlich unbestreitbar Lebensbereiche, in die der Staat zwar regelnd eingreifen muß, die je- loch mit dem Privatleben des einzel- ren in untrennbarer Gemengelage stehen. Der moderne Staat mit seinen rmfassenden Eingriffsbefugnissen ist tine ständige Versuchung, die natur- •echtlich gesetzten Grenzen der Staatsgewalt zu überschreiten. Diesen Zwiespalt zwischen der Wahrung des Geneinwohls durch den Staat und der nerkennung des einzelnen als einer unverrückbaren Persönlichkeit vor der staatlichen Allmacht sucht nun der die Stund- und Freiheitsrechte anerkennende Staat durch eine Teilung der Sewalten zu überwinden. Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaisung sollen durch voneinander verschiedene, selbst wieder geteilte Drgane ausgeübt werden. Ein derartiger Aufbau des Staates nimmt es in (auf, daß die Staatsgewalt nicht in der -land eines einzelnen Machthabers wie tin Laserstrahl gebündelten Lichts per- :ektionistisch auf ein einzelnes Ziel lusgerichtet werden kann, sondern aus licht weiter zusammengefaßten Teilge- valten besteht und damit den bewußten Verzicht auf eine völlige Koordinierung aller Staatsorgane in ihrer Tätigkeit zum prägenden Wesensmerkmal lat.

Die eben aufgezeigte Problematik iedes Staates mit Gewaltenteilung findet einen besonderen Niederschlag unter anderem bei der Handhabung der Gerichtsbarkeit. Es läßt sich nach dem Gesagten unschwer vorstellen, daß die tinzelnen Richter und Richterkollegien bei der Anwendung einer gesetzlichen Bestimmung zu verschiedenen Auslegungen kommen können. Ebenso unschwer wird jedermann aber einsehen, daß es besser ist, derartige Divergenzen hinzunehmen, als auf den Vorteil zu verzichten, sein Recht bei unabhängigen, das heißt mit den übrigen staatlichen Teilgewalten nicht in Zusammenhang stehenden Richtern suchen zu können. Eine gewissenhafte Erläuterung der in Rede stehenden Regierungsvorlage über die Bereinigung von Widersprüchen in der Rechtsprechung der Höchstgerichte muß an die sem Punkt allerdings auf Entwicklungen hinweisen, die die Grenzen zwischen der Wertschätzung der unabhängig entscheidenden Justiz und der Bereitschaft verschieben, deshalb eine verschiedenartige Auslegung ein und derselben gesetzlichen Bestimmung durch die einzelnen Gerichte hinzunehmen. Man darf sich nicht scheuen, dieses Problem in seiner ganzen Schwere zu sehen.

Verzicht auf Gleichmaß

Jedes Gesetz, eine allgemeine Regelung, die sich an einen unbestimmten Personenkreis richtet, greift bei der heutigen Gestalt des menschlichen Zusammenlebens nachhaltig in das Leben zahlreicher Menschen ein. Ist es gelungen, einen Lebensbereich in einer einheitlichen Weise im Gesetz zu regeln, so kann sich der Staatsbürger auf das voraussichtliche Handeln des Staates auf Grund dieses Gesetzes einstellen. Ohne eine derartige vorausschauende Vorwegnahme der Gesetzesauslegung ist heute in vielen Berufsund Erwerbszweigen ein Fortkommen bereits sehr erschwert. Ist die Rechtsprechung in der Auslegung derartiger gesetzlicher Bestimmungen nicht ein? heitlich oder schwankt sie von Zeit zu Zeit, so kann das für den einzelnen große Nachteile mit sich bringen.

Es ist etwa für den Mieter und den Vermieter von entscheidender Bedeutung, ob sich eine einheitliche Spruchpraxis bildet, wann ein Mietobjekt den Bestimmungen des Mieterschutzes unterliegt. Wonach soll sich ein Geschäftsmann richten, wenn zwei Senate verschiedener Auffassung über die Auslegung einer Steuervorschrift sind? — Eine Änderung der Rechtsprechung in arbeits- und sozialversicherungsrecht lichen Fragen kann dem einzelnen Angestellten oder Arbeiter wie der Entzug eines Rechtes vorkommen. Der einzelne beginnt sich zu fragen, was er von der Unabhängigkeit des Rechts, von der Bewahrung des Rechts vor Eingriffen im Einzelfall hat, wenn er dafür die Eindeutigkeit des Rechtes gefährdet sieht. Es wächst das Gefühl, „daß hier einmal gründlich Ordnung gemacht werden müßte“. Aber das ist eben die fast unlösbare Frage, wer denn hier „Ordnung schaffen“ soll, ohne daß daraus neue Gefährdung des Rechts entsteht.

Der erste Gedanke, wie man widersprechende Auslegungen gesetzlicher Bestimmungen beheben könnte, wäre es wohl, den Gesetzgeber zur Novellierung aller bisher in ihrer Bedeutung zweifelhaft gewordenen Vorschriften zu veranlassen. Dagegen wäre nichts einzuwenden. Doch die Regierungsvorlage will etwas anderes: Alle Meinungen, die bisher über die Bedeutung einer bestimmten Vorschrift in Erkenntnissen der drei Höchstgerichte geäußert wurden, sollen gleichsam versteinert werden. Damit wird den Gerichten die Möglichkeit entzogen, die Vorschrift auf ihre volle oder nur teilweise Verwendbarkeit für den Einzelfall, auf ihre Weitergeltung im Hinblick auf neu beschlossene Gesetze zu prüfen und die Rechtsordnung mit dem ständigen Wechsel der sozialen und kulturellen Grundlagen in Einklang zu erhalten. An Stelle der drei Höchstgerichte soll diese Aufgabe den Volksvertretungen zukommen. Damit würde das Parlament Richter über seine eigenen Gesetze. Die Entscheidung eines Streitfalles hinge von den jeweils sich nach den verschiedenen Interessen bildenden parlamentarischen Mehrheiten ab.

Aus der Einsicht in die Gefährlichkeit dieser Lösung schlägt die Regierungsvorlage wahlweise vor, eines der drei Höchstgerichte oder einen besonderen Senat aus Richtern dieser drei Gerichte zu bilden. Auch dagegen melden sich ernste Bedenken. Zunächst: man kann nur Gleiches mit Gleichem Zusammenlegen, die drei Höchstgerichte erhalten ihre Richter jedoch in sehr unterschiedlicher Weise ernannt. Schließlich: die Tätigkeit eines Supergerichts würde die Erfassung jeder Entscheidung aller drei Höchstgerichte erfordern, denn jede Entscheidung legt Rechtsvorschriften aus. Außerdem müßten bei einer Entscheidung alle irgendwann einmal, in welchem Zusam menhang immer geäußerten Auslegungen einer Vorschrift berücksichtigt werden. Das ist nicht nur zeitlich unmöglich, sondern auch sachlich sinnlos. Die Beweisführungen in jedem richterlichen Urteil sind mit der Perspektive des Einzelfalls untrennbar verbunden. Der Versuch, sie zu verallgemeinern, trägt die Gefahr endloser Verdächtigungen des jeweils in Frage kommenden Höchstgerichts in sich, eine bindende Vorentscheidung übersehen zu haben.

Zu Beginn unserer Überlegungen zur Regierungsvorlage über die Ausschaltung divergierender Rechtsmeinungen der drei Höchstgerichte wiesen wir auf die Gesamtänderung der Verfassung hin, die durch eine Beschließung der Regierungsvorlage über die Beseitigung divergierender Rechtsauffassungen der drei Höchstgerichte bewirkt werden würde. Am Schluß stehe daher ein Vorschlag zur Lösung des Problems, der sich im Rahmen der Verfassung hält und doch dem Gedanken eines erweiterten Rechtsschutzinteresses der Bevölkerung Raum gibt: man räume dem Beschwerdeführer das Recht ein, die Vollversammlung oder einen verstärkten Senat des bereits mit der Sache befaßten Gerichtshofes mit der Behauptung anzurufen, daß die Entscheidung von der bewährten Spruchpraxis oder von der Rechtsauffassung eines anderen Höchstgerichts abweiche. Die Volksvertretung bleibt aufgefordert, durch entsprechende Fassung der Gesetze das Ihre zur Rechtsklarheit und damit zur Rechtssicherheit beizutragen.

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