90 Jahre Baustelle Bundes-Verfassung

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Die Grundwerte fanden sich anderswo, das Bundesverfassungsgesetz entstand als Regelwerk. Zum 90. Jahrestag stellt ein Symposium im Parlament „Neue Fragen an eine alte Verfasung“.

In Festakten, Tagungen und Ansprachen wird in den nächsten Wochen an den Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) vom 1. Oktober 1920 erinnert. Verglichen mit Jahrestagen der Unterzeichnung des Staatsvertrages findet das Jubiläum des B-VG eher wenig Aufmerksamkeit oder patriotischen Zuspruch. Die Verfassung ist kein Element österreichischer Identität, sondern steht meist für Expertendiskussionen oder verhinderte Staatsreformen. Während die Verfassungsurkunde der USA in einem prachtvollen Raum hinter Panzerglas ausgestellt und jährlich von Tausenden besichtigt wird, ruht das Original des B-VG unbehelligt im Archiv.

Dieses Gesetz war von Beginn an keine typische Verfassungsurkunde, sondern – gemessen daran – ein Torso. Es beinhaltet keine durchgängige Werteordnung oder gar Ewigkeitsklausel wie das deutsche Grundgesetz, sondern ist als unpathetische „Rechtswegeverfassung“ (Adolf Merkl) konzipiert und letztlich aus politischer Not geboren – mehr war schlicht nicht möglich. Die österreichische Verfassung ist in vieler Hinsicht bloßes Verfahrens- und Organisationsrecht des politischen Prozesses und taugt damit offenbar wenig zum symbolischen Identifikationsmoment.

Dabei könnte die Republik auf die Verfassung (zumindest in der Fassung von 1920) durchaus stolz sein: Als Regelkatalog für politisches Handeln entworfen, ist das ihr zugrunde liegende Demokratiekonzept inhaltsneutral und mit diesem Pluralitätsbekenntnis auch heute äußerst zeitgemäß. Denn nach dem maßgeblichen Mitautor des Bundes-Verfassungsgesetzes, Hans Kelsen, ist Demokratie nur ein Verfahren: Nur so bestehe die Möglichkeit, alle Interessensgegensätze – und derer gab es 1920 zur Genüge – in Form von Kompromissen zu verhandeln und einem Ausgleich zuzuführen. Allein so könne sozialer Frieden gestiftet und erhalten werden.

Das Bundes-Verfassungsgesetz offenbarte damit ein höchst modernes Demokratieverständnis: Um der Vielfalt gesellschaftlicher Realität am ehesten gerecht zu werden, darf sich eine Verfassung inhaltlich nicht auf diese oder jene politische Werthaltung, nicht auf links oder rechts festlegen, sondern muss allen Meinungen und Ideen die Möglichkeit einräumen, artikuliert zu werden, Mehrheiten zu finden und somit politikgestaltend tätig werden zu können.

Alle Rechtsunterworfenen bilden das Volk

Demokratie, so verstanden, ist quantitativ und qualitativ höchst inklusiv. Das Volk, von dem laut Artikel 1 B-VG das Recht der Republik – und nicht die Macht! – ausgeht, ist keine durch Abstammung geeinte Nation, sondern der Zusammenschluss von Staatsbürgern. Kelsens Auffassung von Demokratie ging noch darüber hinaus: Indem er Volk allein über die Rechtsunterworfenheit definierte, plädierte er dafür, dass alle, die dauerhaft einer Rechtsordnung angehören, auch an der Rechtssetzung teilhaben sollten – eine Idee, die heute wieder unter dem Stichwort Ausländerwahlrecht diskutiert wird. Damit verwirklichte sich für ihn das Freiheitsmoment der Demokratie als Identität von Gesetzgebern und Gesetzesadressaten.

Demokratie, so verstanden, schließt selbst jene nicht aus, die herkömmliche Ordnungsvorstellungen infrage stellen. Sie muss weder religiöse Überzeugungen, kulturelle Traditionen oder politische Ansichten hegen oder verbieten. Sie setzt lediglich voraus, dass alle bereit sind, sich politischen Diskussionen zu stellen, und den Willen haben, nachvollziehbare und faire Kompromisse auszuhandeln sowie verbindliche Entscheidungen zu treffen – Entschlüsse, die freilich wieder revidiert werden können, so sich neue Mehrheiten finden. Tatsächlich verbot das B-VG 1920 niemandem, gar für die Auflösung der Demokratie einzutreten.

Eine derart gedachte Demokratie ist mühsam, die Kompromisse sind meist sehr nüchtern. Dieses Konzept ist sich zwar der mit Politik verbundenen Aufregungen und emotionalen Bekenntnisse bewusst, möchte aber einen Rahmen dafür bieten, dass bei wesentlichen Entscheidungen das Unaufgeregte und Unspektakuläre zählen mögen: Demokratie ist Teil der Zivilisierung von Auseinandersetzungen.

Durch die grundsätzliche inhaltliche Neutralität muss eine so konzipierte Demokratie selbst ihre ärgsten Feinde akzeptieren und ist damit ständig gefordert, sich zu verteidigen. Die Berufung auf eine „wehrhafte Demokratie“ allein reicht dafür nicht aus.

Achtlosigkeit untergräbt die Verfassung

Mit seiner Nüchternheit und dem Fehlen feierlicher Proklamationen bekannte sich die Stammfassung des B-VG auch dazu, dass Recht nur Menschenwerk und Ergebnis politischer Prozesse ist, also keine höheren Weihen wiedergibt. Das setzt dennoch voraus, dass sich Menschen an universalen oder religiös geprägten Normen orientieren, diese zu Grundlage und Maßstab ihres Handelns machen und sie artikulieren, auch im politischen Prozess.

Kelsen und Merkl, die das B-VG prägten, hatten feste humanistische und religiöse Überzeugungen. Gerade daraus folgte für sie aber, dass in einer Verfassung nicht bestimmte Wertvorstellungen wie in einem Katalog vorentschiedener richtiger Inhalte bereits enthalten sein können oder gar sollen. In einem demokratischen Verfassungsstaat muss alles der steten Verhandlung und Veränderung zugänglich sein. Nur das entspricht dem Leben der Menschen in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit.

Damit sind die Kernfragen der Verfassungsentwicklung und des Verfassungsverständnisses in Österreich angesprochen. Denn ein so offenes Konzept kann auch anders gelesen werden: Es kann Verfassungsrecht tatsächlich zu einem bloßen technischen Regelwerk machen, das scheinbar unpolitisch ist; es kann die anspruchsvolle Suche nach Kompromissen zur anspruchslosen Instrumentalisierung der Verfassung zur Festschreibung politischer Junktime werden lassen. Ein solches Verständnis würde jedoch die von der Verfassung vorausgesetzte staatsbürgerliche Wahrnehmung und Aufmerksamkeit untergraben und Demokratie unterlaufen.

Die Frage nach dem „Hüter der Verfassung“ wurde angesichts der prekären Lage vieler Demokratien um 1930 hitzig diskutiert. Sie stellt sich heute nach wie vor. Das B-VG kennt keinen einzelnen Hüter, sondern beauftragt Parlament, Regierung, Gerichte und Bürger damit. Die Schwierigkeiten im Umgang mit der Verfassung werden darin deutlich, dass sich in Österreich kaum jemand dieser demokratiepolitisch wichtigen Aufgabe der an uns alle übertragenen Verfassungsgarantie – das heißt letztlich: der Machtkontrolle – bewusst ist oder vielleicht gar sein möchte. Es mangelt an entsprechender politischer Bildung und selbst in der juristischen Ausbildung dominiert ein technischer Zugang, der sich mit vermeintlich unpolitischen Einzelproblemen befasst und die Gefahr in sich trägt, eine obrigkeitsstaatliche Attitüde der Trennung von Politik und unpolitischem Recht zu reproduzieren. Doch es gibt kein unpolitisches Recht und keine unpolitische Verfassung, sodass man verfassungsrechtliche Streitfragen nicht an eine Handvoll Experten delegieren und von ihnen die passende Lösung erwarten darf.

Sorgloser Umgang mit den Grundrechten

Obwohl oder gerade weil Recht nicht unpolitisch ist, scheuen die Akteure trotz aufwändiger Diskussionsprozesse wie dem Österreich-Konvent, Entscheidungen im Sinne einer über tagesaktuelle Interessen hinausgehenden Verfassungspolitik zu treffen.

Die erhöhte Bestandskraft von Verfassungsrecht und seine erschwerte Abänderbarkeit, dienen immer wieder der Absicherung parteipolitischer Interessen und ideologischer Einflusssphären. Keine Verfassung der Welt regelt die Schulverwaltung in jenem Ausmaß, das mit dem B-VG vergleichbar wäre! Nirgendwo ist die Verweigerung der Zustimmung zu Verfassungsgesetzen in einem so hohen Grad zum Mittel der Opposition geworden, das die parlamentarischen Kontroll- und Minderheitenrechte längst in den Hintergrund gedrängt hat.

Damit gehen aber die Maßstabsfunktion und der Anspruch einer Verfassung gegenüber Politik und Rechtsetzung verloren. Sie wird zu einem Gesetz wie jedes andere, das man ändert, wenn es opportun ist. Ihre Grundlagen, zu denen neben der Sicherung von Freiheit und Gleichheit vor allem die Schaffung klarer Verantwortung im Staat zählt, werden damit unterlaufen. Verfassungsänderungen sind dann nur mehr ein Hindernis, das in geschickten Verhandlungen überwunden werden muss.

Am deutlichsten tritt dieser sorglose Umgang mit der Verfassung darin zutage, dass es seit 1920 nicht gelungen ist, sich auf einen Grundrechtskatalog zu einigen. Damit wären die Rechte des einzelnen Menschen in seinen Beziehungen zum Staat und zu anderen als Grenze und Orientierung politischen und staatlichen Handelns verankert. Seit 1920 behilft man sich mit Kompromissen und Verweisen, die oft juristisches Spezialwissen erfordern.

Eine klare verfassungsrechtliche Verankerung dieser Rechte könnte jedoch helfen, dem B-VG neue Bedeutung, damit Aufmerksamkeit und schließlich staatsbürgerliche Achtsamkeit gegenüber leichtfertigen politischen Eingriffen zu verleihen. Dass der Verfassung diese Beachtung bislang nicht zukommt, ist nicht dem Spielregelkatalog, sondern den Mitspielern vorzuwerfen.

* Tamara Ehs ist Politikwissenschaftlerin an der Universität Wien. Christoph Konrath ist Jurist in der Parlamentsdirektion.

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