7004132-1987_36_12.jpg
Digital In Arbeit

Schwere Geburt in Philadelphia

Werbung
Werbung
Werbung

Von Mai bis September 1787 tagte in Philadelphia ein zunächst aus 55 Personen bestehender Konvent, der den Entwurf einer alle (damals 13) Staaten der Union umfassenden Verfassung ausarbeitete. Ein Staat (Rhode Island) hatte keine Delegierten entsandt, durch die aus politischen Gründen erfolgte Abreise zweier Delegierter des Staates New York verlor dieser bald sein Stimmrecht.

Schließlich waren es 39 Unterschriften, die am 17. September 1787 die Fertigstellung des nach schwierigsten Verhandlungen (hinter verschlossenen Türen) akkordierten Verfassungsentwurfs beurkundeten.

Der 17. September 1787 bedeutete aber noch keineswegs das Inkrafttreten und die Geltung dieses Verfassungsentwurfs. Nun begann erst eine ebenso spannende wie auf hohem intellektuellen Niveau stehende öffentliche Debatte pro und contra.

Der Verfassungsentwurf sah nämlich vor, daß eigens zum Zwecke der Verfassungsratifikation zu wählende Konvente in mindestens neun von 13 Staaten dem Verfassungsentwurf zustimmen müßten, bevor er in Kraft treten könnte. Es gab also nun Wahlen, zahlreiche, häufig kontroverse Diskussionen auf den Ratifikationskonventen und rund um diese eine lebhafte Auseinandersetzung in Zeitungen und Broschüren.

Im Juni 1788 ratifizierte als neunter Staat New Hampshire den Entwurf. Damit war das Inkrafttreten formell gesichert, doch noch fehlten so gewichtige Staaten wie Virginia und New York, die aber nun bald folgten. (Zwei Nachzüglerstaaten schlössen sich dem System der Bundesverfassung erst verspätet an. North Carolina im November 1789 und Rhode Island gar erst im Mai 1790.)

In den ersten Monaten des Jahres 1789 erfolgten die Konstituierung der in der neuen Verfassung vorgesehenen Organe der Bundesgesetzgebung sowie die Wahl und Inauguration des ersten Präsidenten, George Washington, der am 30. April 1789 vereidigt wurde.

Das neue amerikanische Verfassungsregime begann also seine Funktion wenige Wochen vor dem Fall des ancien regime in Frankreich und dem Ausbruch der Französischen Revolution.

Es wäre allerdings falsch, wollte man annehmen, daß die 1788/89 Geltung erlangende und in Funktion tretende amerikanische Verfassung - gegenwärtig die älteste in Geltung stehende Verfassungsurkunde der Welt - seit 200 Jahren ohne Ergänzung und damit Veränderung geblieben wäre.

Hauptpunkt der Kritik am Verfassungsentwurf von Philadelphia war das Fehlen eines eigenen Grundrechtskatalogs. Die Befürworter der Verfassung gaben schließlich dieser Kritik nach, so daß schon sehr bald zehn Verfassungszusätze — sogenannte Amendments - beschlossen wurden, die 1791 in Kraft traten; es ist dies die sogenannte Bill of Rights.

Wichtige Verfassungsgarantien, wie die Religions-, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie strafprozessuale Schutzbestimmungen, sind nicht im Haupttext der Verfassung, sondern in diesem ergänzenden Grundrechtskatalog verankert.

Weitere ganz wesentliche Ergänzungen der Verfassung brachte der Sieg des Nordens über den Süden im Sezessionskrieg von 1861 bis 1865. Die Abschaffung der Sklaverei, die Rechtsgleichheit aller Rechtsunterworfenen und das Verbot des Wahlrechtsentzugs aufgrund von Rasse, Farbe oder früherer Unfreiheit wurden in den drei berühmten „Bürger-kriegs-Amendments“ verankert.

Inzwischen ist die Zahl der Verfassungszusätze auf 26 gestiegen. Hervorgehoben sei die Verankerung des Frauenwahlrechts im 19. Amendment von 1920 und die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre im 26. Amendment von 1971.

Was war vor 200 Jahren nun das eigentlich Neue des amerikanischen Verfassungssystems? • Erstens beruhte die amerikanische Verfassung, nach dem Bruch der Amerikaner mit dem englisehen Mutterland und dessen Monarchie, auf dem Grundsatz der Volkssouveränität.

Leopold von Ranke, der große deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts, hat einmal dem König Max von Bayern das Neue der Amerikanischen Revolution damit erklärt, daß damals erstmals in der Neueren Geschichte die öffentliche Gewalt „von unten“ aufgestiegen sei.

Tatsächlich ist die Präambel der amerikanischen Bundesverfassung bis heute einer der eindrucksvollsten Texte des Gedankens der Volkssouveränität (siehe Kasten „We, the People...“, Seite 11).

Allerdings muß man hier, wie auch sonst, wann immer von der Souveränität des Volkes die Rede ist, fragen: Wer ist das Volk? Noch gab es 1787 verschiedene eigentumsbedingte Wahlrechtsbeschränkungen, noch gab es unfreie Weiße, die sich die Kosten der Uberfahrt nach Amerika durch einige Jahre der unfreien Arbeit erkaufen mußten, noch gab es Sklaven. Und das Frauenwahlrecht lag noch in weiter Ferne.

• Zweitens hob sich die amerikanische Verfassung von jener Englands dadurch ab, daß eine schriftliche Verfassungsurkunde .vorlag, die höherrangiges Recht darstellte als die vom „normalen“ Gesetzgeber beschlossenen Gesetze.

Die Amerikaner hatten zunehmend die Gesetzgebung des englischen Parlaments, das souverän und an keine höherrangige Verfassung gebunden war, als bedrückend, ja als tyrannisch empfunden.

Während die Französische Revolution vor allem gegen den Absolutismus des Königs und seiner Organe gerichtet war, war in Nordamerika die Erbitterung über die Tyrannei eines Kollektivs, des Parlaments in London, lebendig. Dazu kamen auch manche legislative Ubergriffe in den Einzelstaaten unmittelbar nach der Revolution.

So ist das Bemühen, den Gesetzgeber unter das Rechtsgebot der vorrangigen Verfassung zu stellen, und daraus folgend die Verfassungsgerichtsbarkeit, frühzeitig zu einem Charakteristikum gerade des amerikanischen Verfassungsstaats geworden.

• Drittens stellt die verfassungsmäßige Verankerung von Grundrechten des Individuums eine Innovation des Verfassungswesens dar, die bis in die Gegenwart und in die zahllosen Länder reicht, deren Verfassungen Grundrechtskataloge enthalten; ob diese Grundrechte nur auf dem Papier oder auch in der Praxis respektiert werden, ist bekanntlich eine ganz andere Frage.

Die Amerikaner verankerten naturrechtliche Grundsätze in ihren Verfassungen — denn die Verfassungen der Einzelstaaten, die der Bundesverfassung von 1787 vorausgingen, sind hier auch zu nennen: diese Verfassungen (von Virginia und anderen Staaten) aus den Jahren 1776 bis 1780 haben übrigens in der Französischen Revolution (etwa bei der Entstehung der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) einen größeren Einfluß ausgeübt “ als die Bundesverfassung selbst.

Die Positivierung des Naturrechts ist also ein wichtiges Element der amerikanischen Verfassungsbildung.

• Viertens ist als Innovation das föderalistische System der Bundesverfassung hervorzuheben. Während noch die föderative Ordnung der USA vor 1787 eher einem Staatenbund als einem Bundesstaat glich, schuf die Bundesverfassung von 1787 Bundeskompetenzen und Bundesorgane, die direkt unter Umgehung der Einzelstaaten auf die Bürger einwirken konnten.

Gerade der amerikanische Föderalismus hat europäische Verfassungsbewegungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zumal in der Schweiz und in Deutschland, 1848, nachhaltig beeindruckt.

Abschließend muß die bemerkenswerte, ja hervorragende intellektuelle Qualität der öffentlichen Auseinandersetzungen um das Verfassungswesen betont werden. Von der Kritik am englischen Verfassungssystem in den sechziger Jahren angefangen, wurde etwa vier Jahrzehnte eine Verfassungsdebatte geführt, die in der westlichen Verfassungsgeschichte kaum ihresgleichen findet.

Am berühmtesten ist der unter dem Titel „The Federalist“ erschienene Verfassungskommentar - zwar Propaganda zugunsten der Annahme der Verfassung, aber rhetorisch und intellektuell ein Meisterwerk, dessen Autoren John Jay, Alexander Hamüton und—staatsphüosophisch am originellsten — James Madison waren.

Auch unter den Kritikern des Verfassungsentwurfs von Philadelphia befinden sich hervorragende Geister, deren Autorenpseudonyme leider in einigen wichtigen Fällen noch nicht geklärt werden konnten.

Die Verfassungseuphorie, die in diesem Jubiläumsjahr in den USA manche Blüten treibt, darf allerdings eines nicht vergessen: Die Verfassung von 1787, ein sehwierig ausgehandelter Kompromiß, der die Sklaverei, wo sie bestand, nicht antastete, konnte die Union nicht retten. Die Union brach 1860/61 auseinander, und nur ein blutiger vierjähriger Bürgerkrieg konnte sie wieder kitten.

Gleichwohl erfüllt die Verfassung auch heute die Funktion, dem willkürlichen Ermessen der politischen Machthaber Schranken zu setzen — keineswegs lük-kenlos oder makellos, aber doch wirksam. Im Setzen rechtlicher Schranken bei der Ausübung der Macht hat ja kein Geringerer als Hans Kelsen, der Vater der österreichischen Bundesverfassung, die eigentliche politische Funktion der Verfassung gesehen.

Der Autor ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung