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Vor Straßburg

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Man soll die menschlichen Institutionen so wenig wie die Menschen selbst nach dem äußeren Schein beurteilen. Das hätte wohl beiläufig der gute Lafontaine gesagt, wenn er, wie nun wir selbst, gesehen hätte, daß zwei Minister für auswärtige Angelegenheiten nicht imstande sind, sich über den Namen, das Antlitz und — man möchte fast sagen — das Geschlecht eines Kindes zu einigen, das unter ihren Auspizien soeben zur Welt gekommen ist. „Der Rat der Zehn ist die erste europäische Regierung“, rief Graf Sforza aus. „Der Rat der Zehn wird keineswegs eine Art europäisches Wirtschaftsdirektorium werden“, schränkte M. Petitpierre ein, dessen Definition die bessere ist, wenn die neue Gruppierung ihrer ausdrücklichen Bezeichnung als eine „konsultative“ in der Wirklichkeit entspricht.

Die konsultativen Organe sind in der Mode, und wenn nun soeben noch ein weiteres in Entstehung ist, das von nicht geringerer Bedeutung ist als das vorhergehende, dann wäre es gut, sich nicht über seine Sinngebung zu täuschen.

Die europäische Föderation ist auf dem Wege: es scheint wenigstens seit einiger Zeit alles darauf hinzudeuten. Die Kongresse verhandeln, die Staatsmänner handeln, die verschiedenartigen Anregungen formen sich zu einer einheitlichen „europäischen Bewegung“, und die Regierungen schließlich schaffen in den Formen eines ministeriellen Komitees“ und eines „konsultativen Körpers“ einen europäischen Rat.

Seit Jahren preist Winston Churchill die Schaffung eines europäischen Rates, wie Graf Coudenhove-Calergi die einer europäischen Versammlung. Wir werden das eine wie das andere bekommen. Steht nun alles zum Besten in einem bestmöglichen Europa? Um diese Frage zu beantworten, muß man gegenüberstellen, was die Europäer im Verlauf ihrer jüngsten Kongresse verlangt und was sie erlangt haben.

Das Wort und die Tat: In einem Punkte waren die Kongresse einmütig: es ist notwendig, die nationalen Souveränitätsrechte zu begrenzen. Darüber hinaus forderten alle eine europäische Versammlung. Aber hier wurde es bereits offenbar, daß man über den Sinn des Wortes wie über die Sache selbst nicht einig war. Während man im Haag nahezu gar keine Macht in den Brautkorb der Versammlung legen wollte, haben die Kongresse, die sich nacheinander in Paris, in Interlaken und in Rom versammelten, indem sie für sich das Mandat in Anspruch nahmen, eine europäische föderale Verfassung aufzustellen, die Debatte auf den Boden des Föderalismus verlegt.

Nun, da es wohl kaum mehr jemanden gibt, der nicht erkennt, daß die Ära der „absoluten Souveränitäten“ vorüber ist, wt es notwendig, daß — da es sich darum handelt, dieselben tatsächlich zu begrenzen — jeder bereit sei, von Worten zur Tat überzugehen.

Dies ist es, was man vor allem in Großbritannien sieht, wo der Gedanke eines europäischen „Commonwealth“ bedeutend mehr Sympathie gewinnt als derjenige einer europäischen Föderation. Dies ist in einem Grade der Fall,- daß die britischen Persönlichkeiten, die an der Europäischen Parlamentarischen Union (Graf Coudenhove) teilgenommen haben, sich daraus zurückgezogen haben, da das föderalistische Pro- gramm dieser Union über ihr rein unioni- stisches Konzept hinausgeht. Und wir berühren hier einen essentiellen Punkt — die Scheidung der Geister in ihren Ansichten über die Form der Regierung, die einem geeinten Europa zukommen würde.

Was wollen die Föderalisten? Eine wirksame föderale Macht, eine wirkliche föderale Souveränität, vorweggenommen aus der Substanz der nationalen Souveränitäten. Sie können für sich die Erfahrungen der Geschichte und im besonderen das Beispiel der Schweiz anführen, die ein europäisches Beispiel ist.

Was wollen die Unionisten? Eine Liga von souveränen Staaten, eine Art Organisation der vereinigten Nationen Europas. Sie haben gegen sich die geschichtlichen Mißerfolge, wie sie die Heilige Allianz, der Völkerbund und in gewissem Ausmaß die UNO erlitten haben. Was aber das britische Commonwealth betrifft, auf das sie sich berufen, so wird diese Institution durch Bande geeint, die in Europa kein Gegenstück haben, und auf jeden Fall ist es kein europäisches Beispiel, das damit herangezogen wird.

Wenn nun Winston Churchill selbst zu wiederholten Malen bekräftigt hat, daß die britische Nation ein Teil von Europa ist, werden sich die kontinentalen Föderalisten und die insularen Unionisten den Rücken kehren können? Davon ist nicht die Rede: es ist von Bedeutung — die Berührungspunkte festhaltend —, festzustellen, daß man ein vereintes Europa nicht ohne Einschluß Großbritanniens planen kann. Berührungspunkte, aus denen übrigens beide Teile hoffen können, Nutzen zu ziehen: denn, wenn die britischen Unionisten hoffen, daß es ihnen gelingen könnte, die Europäer des Kontinents dazu zu gewinnen, ihren Standpunkt zu teilen, so ist nicht einzusehen, warum die europäischen Föderalisten die Hoffnung aufgeben sollten, eines Tages zu einer föderalistischen Lösung, die eine Lösung der Vernunft und der Erfahrung ist, die Europäer Großbritanniens heranzuziehen, die übrigens nicht alle, so viel auch daran noch fehlen möge, dem Gedanken einer Föderation feindlich sind.

Die taktischen Erwägungen, welche -s empfehlen, am Beginn einer Kampagne für die Vereinigten Staaten von Europa, den Graben zwischen Unionisten und Föderalisten nicht zu erweitern, erklären den vorübergehenden Charakter der Kompromißlösungen, auf die man sich geeinigt hat, vor allem die Schaffung einer konsultativen Körperschaft, die jeder gesetzgeberischen oder vollziehenden Macht bar ist. Sie erklären ebenso die Geringfügigkeit des Widerstandes, der sich gegen diese Anregungen erhoben hat — und scheuen wir uns nicht, dies auszusprechen —, die Geringfügigkeit der Begeisterung, mit der sie aufgenommen wurden. Denn man muß zugeben, daß zwischen dem, was die Kongresse angepriesen hatten, und dem, was im Begriffe ist, sich in Straßburg zu konstituieren, ein beträchtlicher Unterschied besteht: keine Begrenzung der Souveränität, keine reale überstaatliche Autorität, falls nicht das Statut des ministeriellen Komitees Überraschungen vorbehält — was übrigens unwahrscheinlich ist —, keine sichtbare Beteiligung des Volkes am großen Werke der Geburt eines neuen Europas.

Angesichts dieser Lage wird es gelten, in Straßburg zwei wesentliche Fehler zu vermeiden. Der erste würde darin bestehen, zu sagen, daß Europa bereits geschaffen ist. Nein, wie es „Europa Federata“, die Zeitschrift der italienischen Föderalisten, trefflich sagt: ,Der europäische Rat begründet weder eine Regierung noch ein Parlament.“ Der zweite Fehler wäre, dieser Institution zu schmollen, indem man sich auf ihre Unvollkommenheiten beruft. Auch da sieht „Europa Federata“ richtig. Straßburg kann „ein Zentrum des Ausdrucks der europäischen Wünsche werden und es besteht doch eine ganz kleine Möglichkeit, aus der konsultativen Körperschaft die Stimme Europas ins Leben zu rufen“.

Föderale Vereinigung. Die Aufgabe der Föderalisten ist hinfort klar vorgezeichnet: überall anwesend zu sein, vor allem in Straßburg. Sie werden im Schoße der konsultativen Körperschaft das Ferment sein, das den Teig aufgehen läßt. Sie werden dort die föderalistische Lehre in ihrer funkelnden Klarheit aufleuchten lassen und zeigen, daß es außerhalb dieser für die Völker Europas keine Sicherheit, kein gleiches Recht zwischen den Großen und den Kleinen und weder eine wahrhafte Autonomie noch ein Überwiegen des allgemeinen Interesses über die Einzelinteressen, noch eine Verläßlichkeit von Verpflichtungen gibt.

Die angebrachte Sorge, nicht zusehr das zu betonen, was die Europäer trennt, hat bisher vorgewaltet: Wäre es nun nicht auch notwendig, sich zur Gewohnheit zu machen, die Dinge nicht mehr überbetont bei ihrem Namen zu nennen, so daß man, indem man den Ausdruck mildert, auch die Annäherung in der Sache selbst leichter macht? Der jüngst in Rom abgehaltene Kongreß, der von sehr gutem Geiste getragen war, hat für die Föderalisten ausdrücklich die Freiheit des Gewissens und der Handlung in Anspruch genommen, wenn in einem nationalen oder internationalen Rat für sie unannehmbare Entscheidungen getroffen würden. Die Kraft, auf welche die Föderalisten zählen, ist jene der Überredung, die einzige, die würdig ist, daß man sie achtet, denn sie zieht mit sich die Zustimmung der Vernunft. Aber ist es nicht notwendig, um wen immer, und sei es den besten Freund, zu überreden, keine Furcht zu haben, ihm ins Antlitz zu sehen: mit ebensoviel Verständnis für die These des Gegners als Überzeugung für die eigene, die Diskussion zu führen, ist das einzige Mittel, Wahrheit und Gerechtigkeit zum Triumph zu führen.

Daraus ergibt sich mehr denn je für die Föderalisten die Verpflichtung einer klaren Schau ihres Ideals, eines Zusammenhaltes ihrer Anstrengungen und einer Zusammenfassung ihrer Aktion. Zu welchen Diensten immer die konsultativen Körperschaften berufen sein mögen, ein freies, lebensfähiges, starkes und friedliches Europa kann nur aus einer von den europäischen Völkern freigewählten konstituierenden Versammlung hervorgehen. Die Völker von dieser Wahrheit zu überzeugen, dies ist die Aufgabe der Föderalisten.

Das vereinigte Europa ist nicht aus dem Kampfe mit den Waffen hervorgegangen, es muß aus dem Kampf der Ideen entstehen. Und der Kampfplatz hiefür ist gut gewählt: denn Straßburg liegt dem Urbild der europäischen Konföderation nicht fern.

Die Stimme Österreichs selbst wird in Straßburg besonders wertvoll sein und sie wird dort gehört werden. Sein ethnisches Herkommen, sein universalistischer Geist, selbst der Charakter seiner politischen Einrichtungen, dies alles bestimmt es für eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung einer föderalen Verfassung, die allein geeignet ist, auf unserem Kontinent, sie miteinander verbindend, zur Herrschaft zu bringen: die freie Ausübung desjenigen Teiles der Souveränität, dessen sich die Völker nicht begeben werden, die Gleichheit der Rechte zwischen den kleinen und den großen verbündeten Staaten und die Wirksamkeit einer europäischen ausübenden Gewalt.

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