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An abschüssiger Stelle

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Me Serie der Fehlschläge für den Frieden, die vor Pfingsten begonnen wurde, darf nicht fortgesetzt werden. Der rätselhaften Episode, die mit der Botschaft Bedell Smiths für den Kreml begann und eine Woche später in einem sinnlosen Kommentargestammel ertrank, fiel zeitlich zusammen mit dem von scharfen Dissonanzen durchtönten Kongreß für ein geeintes föderatives Europa und wurde rasch gefolgt von dem Kriegsausbruch in Palästina, in dem jetzt dem blutigen Bürgerkrieg in aller Form die Waffenergreifung von Nachbarstaaten gegen den neuproklamierten Judenstaat sich anreiht.

Vielleicht sind die ideologischen Urgründe dieser Erscheinungen am deutlichsten in Haag geworden, gerade in der Veranstaltung, die im Namen einer höheren Friedensidee, einer Einordnung der Sonderinteressen unter das Gemeinsame einer Völkerfamilie, einberufen war.

Dieser Union, die allen demokratisch regierten europäischen Nationen, die sich zur Respektierung einer Charta der Menschenrechte verpflichten, offensteht, schrieb der vorgelegte Resolutionsentwurf als ihr Grundgesetz „die Entstehung eines geeinten Europas als eine wesentliche Vorbedingung für die Schaffung einer geeinten Welt” vor. Und doch wurde nur um Haaresbreite einem Scheitern der Tagung ausgewichen, als der Antrag eines französischen Gewerkschaftsvertreters, der in der vorgelegten Resolution des Wirtschaftsausschusses für die Gewerkschaften einen direkten Einfluß auf die künftige internationale Wirtschaftswiederaufbaupolitik begehrte, dem Widerspruch begegnete. Bittere Enttäuschung sprach aus den Worten Winston Churchills, als er in der letzten Sitzung, da der Kongreß mit einer jähen Dissonanz zu enden drohte, zornig den Delegierten zurief, sie sollten sich entweder einigen oder sich „aus dem Saale als eine unselige Ansammlung jämmerlicher Gesellen in alle Welt zerstreuen” und damit vor aller Öffentlichkeit ihre Uneinigkeit bekunden, der Kongreß sei ein bemerkenswertes Abenteuer, ein Versuch, unternommen „unter Bedingungen, die noch nicht reif waren”. Der Anruf Churchills bewahrte den Kongreß, der nun doch in der bestrittenen Entschließung dem Verlangen des französischen Gewerkschafters Rechnung trug, vor dem Äußersten, aber er vermochte nicht mehr, die harte Wahrheit zu verhüllen, die Churchill, dieser kühne Vorkämpfer des Gedankens eines föderativen Europas und Initiator des Kongresses, ausgesprochen hatte, als er diese feierliche Tagung in dem historischen Rittersaal des Haager Parlaments nicht als mehr denn einen abenteuerlichen Versuch unter noch nicht gereiften Bedingungen bezeichnen konnte. Seit zwei Jahren steht der Plan zur Debatte: das Unternehmen, die wirtschaftliche und staatspolitische Zersplitterung Europas, seine Rivalitätep und seine Kleinstaaterei nach schrecklichen Erlebnissen im Geiste der Solidarität zu überwinden. Und jetzt spricht bei Torschluß der Tagung der tapfere Anwalt des großen Projekts die schmerzliche Erkenntnis aus, die Bedingungen der Reife seien noch nicht gegeben. Wessen bedarf es noch zur Reife nach zehn Jahren der Begebenheiten, die für immer im Gedächtnisse Europas als ein Schuldspruch über seine Versäumnisse und Sünden gegen die Gerechtigkeit und die Vernunft haften sollen? Wenn man sich im Haag notgedrungen mit dem Plane zufrieden geben mußte, eine Vereinigung des europäischen Westens unter gemeinsamen Organen zur Verbesserung des „wirtschaftlichen, politischen und sozialen Standards” der beteiligten Staaten anzustreben, so wäre doch eine unzweifelhafte, durch nichts beeinträchtigte Kundgebung der realen, von theoretischer Dialektik freien Gemeinschaft von bedeutendem politischem Wert in der heutigen Lage Europas gewesen. Die große, hinreißende, überzeugende Manifestation ist ausgeblieben. Dennoch: der Bauplan ist richtig, die gefaßten Entschließungen dürfen nicht auf dem Papiere bleiben, was an ihnen Wirklichkeitsgehalt besitzt, muß zu praktischem Leben erweckt werden.

Woher kommen jedoch heute noch die Hindernisse, sogar in einer so bedeutenden Gemeinschaft, wie der von Winston Churchill zu Leben erweckten Union für ein Föderativ- europä? Zwar spricht eine von dem Kongreß angenommene Entschließung von der Notwendigkeit, daß die europäischen Nationen für die Herstellung einer wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit einen Teil ihrer Souveränitätsrechte verschmelzen. Aus den bewegten Ausschußdebatten ging jedoch hervor, wie hoch gerade hier die überlieferten Vorstellungen von Staat, Staatshoheit und Unabhängigkeit die Hindernisse auftürmen. Selbst dort, wo drei nicht auf Machtpolitik gerichtete Mittelstaaten wie die des Beneluxbundes sich zusammengeschlossen und sich in ein gemeinsames Vertragssystem mit Frankreich und England eingepaßt haben, werden die neuen Wege nicht ohne Sorge beschritten. Die großen Schwierigkeiten beginnen überall dort, wo Staaten ihre Selbstbestimmung ak stolze Überlieferung und im Bewußtsein militärischer Kraft behaupten und sich einer Schrrjälerung ihrer Freiheit versagen möchten. Gibt es heute eine wirkliche Souveränität, außer für ein paar Riesen? Im Zeitalter, da alle Entfernungen durch die moderne Technik weggewistht sind, wird es täglich der Menschheit nahegebracht, wie eng sie beieinander wohnt und aufeinander angewiesen ist. Es kann keiner ausscheiden und zugrunde gehen, ohne daß nicht der Nachbar mitbetroffen würde, weil er am andern einen Lieferanten oder einen Käufer oder beide verliert. Es kann keine physische und geistige Seuche ausbrechen, die durch Staatsgrenzen eingesperrt bliebe, keine glückliche Errungenschaft von einem Volke gewonnen und keine Atomdrohung erhoben werden, ohne sich zum Heil oder Unheil über die Staaten zu überheben. Souveränität, sich selbst genügende Autonomie, ist heute ebensowenig für den Staat wie für den einzelnen nur in beschränktem Maße möglich. Und nicht einmal ohne Vorbehalt den Riesen anheimgegeben, mögen sie sich auch in einer eigenen Ideologie verschanzen wollen und in dem Unheil der Völker, der Gewalt, der waffenklirrenden Machtpolitik.

Die Vorstellung von einer Souveränität, die sich nicht unterordnete den gemeinsamen Interessen der engeren und auch der weiteren Menschheitsfamilie, zunächst der durch geographische, ökonomische und kulturelle Nachbarschaft verbundenen Staaten und Völker, ist der Aberglaube des Etatismus, der bis zur Stunde die Menschheit verführt, gegen sich selbst zu sündigen. Dieser Grundirrtum ist jetzt in Palästina, diesem national durchwürfelten Lande, das jetzt zu einer Katastrophe geführt wird, zur internationalen Besichtigung ausgestellt.

Diesen Grundirrtum aüszurotten, ist eine der Vorbedingungen der Europäischen Union, der Existenz der Vereinten Nationen und des Völkerfriedens.

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