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Das Wiener Manifest

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Im gegenwärtigen weltgeschichtlichen Augenblick ist die Zusammenarbeit der Völker und Staatsmänner sowohl im Osten wie im Westen einer Belastungsprobe ausgesetzt und verlangt nach einer Revision. Im Osten ist diese Tat-. sache durch den Besuch Titos bei den Sowjetführern am Schwarzen Meer, die beginnende Umgruppierung Südosteuropas unter Titos Führung, aber auch durch die Debatten Nassers mit den Führern der islamitischen Staaten des Nahen Ostens deutlich sichtbar geworden. Im Westen sind es, mitveranlaßt durch den Suez-Konflikt, auseinandergehende Auffassungen über den weltpolitischen Einsatz des Westlichen Potentials, die England und Frankreich einerseits, Italien, die USA andererseits in oft fast täglich variierenden Stellungnahmen zeigen. Die westliche Welt scheint manchen Beobachtern von außen nie weniger einig zu sein als heute. Es hat deshalb einen guten geschichtlichen Sinn, daß in diesen Tagen in Wien die VI. Jahresversammlung des ..Kongresses der europäischen amerikanischen Gesellschaften“ der Oeffentlichkeit ein Manifest übergibt, das in langer vorbereitender Arbeit von einem Team europäischer und amerikanischer Autoren erstritten und nunmehr den Regierungen, Politikern mit allen Beteiligten zur endgültigen Fassung übergeben wurde: eine Gemeinschaftsarbeit, deren Wert und Gewicht eben darin besteht, daß sie nicht „gemacht“, sondern in Abwägung vieler differierender Meinungen geschaffen wird.

Da der „Kongreß der europäischen amerikanischen Gesellschaften“, dem heute 21 Gesellschaften aus 16 Ländern angehören, vor sechs Jahren auf Anregung der Oesterreichisch-Amerikanischen Gesellschaft gegründet wurde, und Wien dieses Jahr als Tagungsort gewählt und hier das Manifest der Weltöffentlichkeit übergeben wird, darf dieses bedeutende Dokument als das „Wiener Manifest“ bezeichnet werden. Es kann geschichtsmächtig werden, wenn es von den Staatsmännern, Regierungen und einzelnen so ernst wie von seinen Initiatoren und Autoren genommen wird, die sich um den Schweizer Denis de Rougemont, der die Redaktion übernommen hat, versammelt hatten.

Die Präambel lautet:

„Die Völker unserer westlichen Welt besitzen gemeinsam eine Zivilisation, die zugleich breiter und älter ist als die verschiedenen Nationalismen, die in den letzten Jahrhunderten sie voneinander getrennt haben. Diese gemeinsame Zivilisation wird überleben und blühen, wenn wir uns ihrer Prinzipien voll bewußt sind und sie verteidigen, indem wir lernen, sie besser anzuwenden. Die in diesem Manifest dargelegten Prinzipien verlangen die Achtung und Unterstützung aller Mitglieder unserer westlichen Gemeinschaft.

I. Freiheit und Gerechtigkeit Sind untrennbar. Keins von beiden kann ohne das andere existieren. Das Ziel des Rechtes ist der Schutz der persönlichen Freiheit, aber die Freiheiten der Bürger werden am besten verteidigt durch das Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen gegenüber seinem Nachbarn und dem Gemeinwohl.

II. Gleiches Verdienst muß durch gleiches Entgelt belohnt werden, ohne Rücksicht auf Verschiedenheiten der Geburt, Rasse, Farbe oder Konfession.

III. Habeas corpus. Die physische Freiheit des Staatsbürgers muß, wenn notwendig, selbst gegen die Regierung verteidigt werden, Wenn der Staat, um die öffentliche Sicherheit zu erhalten, Gesetzesbrecher ihrer Freiheit beraubt,

„ dann muß seine Aktion mit den striktesten Schutzmaßnahmen eingehegt werden.

IV. Habeas animam. Keine Regierung soll ihre Staatsbürger dazu drangen, die Wahrheit oder Gerechtigkeit von Ideen und Meinungen zu vertreten, die sie in Wirklichkeit weder für wahr noch gerecht halten.

V. Achtung für objektive Wahrheit, die Grundlage des wissenschaftlichen Fortschritts, ist zugleich eine Garantie allgemeiner Freiheit. Jeder Staatsbürger soll sich auf sie berufen, nicht nur um die Freiheit der Forschung zu beschützen, sondern auch um Versuche, die geistige und sittliche Entwicklung zu behindern, abzuwehren. Zugleich gibt dieser Grundsatz dem Staatsbürger das Recht, die Tyrannei staatlicher Propaganda zurückzuweisen, oder, was noch schlimmer ist, den Aufbau einer staatlichen Politik, basierend auf offizieller Lügenhaftigkeit. — Auf der Seite der Regierung verpflichtet die Achtung für objektive Wahrheit die Staaten, Verzicht zu leisten auf die Verwendung von Lügen und Täuschungen als Mittel innerer Politik oder als legitime Waffen in internationalen Angelegenheiten.

VI. Das Recht auf politische Opposition und die Achtung für politische Gegner, welche die Regierung von morgen sein mögen, sind die grundlegenden politischen Prinzipien, auf denen der allgemeine Fortschritt im Westen aufgebaut wurde.

VII. Die Staatsbürger haben bestehenden Gesetzen Folge zu leisten; sie behalten aber das Recht, sie zu kritisieren, und die Pflicht, sie zu verbessern. Das Heilmittel gegen Ueberschreitungen, begangen im Namen Tier Freiheit, liegt im eigenen Recht der Freiheit, solche Ueberschreitungen anzugreifen und abzuwehren. %

VIII. Völker haben wie einzelne Staatsbürger da Recht, sich zu assoziieren, und die Pflicht, einander gegenseitig beizustehen, um das höchstmögliche Maß an Wohlfahrt und Kultur zu erlangen.

IX. Alle Bürger der westlichen Gemeinschaft müssen volle Bewegungsfreiheit und Arbeitsfreiheit innerhalb der Grenzen der westlichen Gemeinschaft erhalten.

Die Unterzeichner dieses Manifestes und der Kongreß der europäischen amerikanischen Gesellschaften wünschen, daß alle westlichen Regierungen diese Prinzipien als gemeinsames Recht, das höher steht als ihre nationalen Rechte als souveräne Staaten, annehmen.“

Wer auf den Wortsinn und den Hintesinn der neun Punkte des Wiener Manifestes hinhört, bemerkt, daß sich hier zwei Bezüge treffen: eine große Vergangenheit und unsere Gegenwart. Die Vergangenheit betrifft die großen Traditionen des Kampfes um persönliche, geistige, politische Freiheit in England, Holland, Frankreich, der Schweiz und Amerika vom 16. bis 19. Jahrhundert. Es w^ren europäische und amerikanische Nonkonformisten, die in tausend „Nein“ zu den jeweiligen, nicht selten terroristisch herrschenden politischen, gesellschaftlichen und geistigen Zuständen ihrer Zeit das große „Ja“ der westlichen Welt erkämpft haben: die Freiheitsräume, in denen sehr verschiedenartige Menschen und Gruppen wachsen konnten, indem sie sich eben zusammenstritten; und aus ihren Freiheiten eine größere Freiheit, aus ihren Gruppen eine größere Gemeinschaft schufen.

Die schwierige Gegenwart, die für den Hörenden sehr deutlich aus den neun Punkten des Wiener Manifestes spricht, bestimmt deren Grundton: die Sorge, daß zunächst innerhalb der westlichen Welt die Freiheit heute tausendfach in Gefahr ist. Die westliche Welt kann sich aber nur dann behaupten, als eine Lebensgemeinschaft von sehr verschiedenen, sehr vielfarbigen Völkern, Gruppen und einzelnen, wenn die Freiheit in ihr nicht nur nicht bedroht, nicht nur konserviert, sondern im Wachsen begriffen und im Wachstum gefördert wird. Nicht als eine Konserve, nicht als ein Museum, nicht als eine Festung und nicht als ein Getto kann die Lebensgemeinschaft der Völker des Westens sich behaupten, wohl aber kann sie das, wenn sie anziehend, werbend, einladend zur Nachahmung in die eine Welt hineinwirkt. Sie kann das, wenn sie sich selbst versteht als einen Bund freier Völker und einzelner, die innerlich immer freier werden, und so anderen Völkern und Individuen den Geschmack an der Freiheit, die Freude am Wagnis der Freiheit, die Lust am Experiment und an der friedlichen Auseinandersetzung vorleben. Die sachlich heftigen Auseinandersetzungen um die endgültige Fassung des Wiener Manifests, die in Wien selbst bereits begonnen haben, mögen dies auf ihre Weise mit unter Beweis stellen.

Das Wiener Manifest ist.jenseits aller Phrasen, jenseits der Mythen vom Untergang des Abendlandes und d^es Westens der Ueberzeu-gung, daß die Lebensgemeinschaft der Völker des Westens ihr ungeheures inneres und äußeres Potential zu erschließen hat, indem diese treu ihrer Vergangenheit und treu der Verpflichtung der Gegenwart, mutig und froh, Freiheit nach innen hinein schaffen, um frei nach außen hin leben und wirken zu können.

Es mag auf den ersten Blick gewagt und fast abwegig erscheinen, von hier aus einhundertfünfzig Jahre zurückzublicken in die Tage, in denen ein russischer Zar, ergriffen durch deutsch-pietistische, schweizerische und französische aufgeklärte und konservative Persönlichkeiten, die „Heilige Allianz“ schaffen wollte und in denen der Wiener Kongreß eine Friedensordnung für Europa schuf, indem“ er die Freiheit wohldosiert den Staatsmännern und kleinen Gruppen vorbehielt. Vielleicht gibt es doch eine echte, wurzelhafte, bodenständige Verbindung von diesem Alt-Wien der altösterreichischen Völkergemeinschaft zu dem Neu-Wien, das nun Sitz der Atombehörde der UNO werden soll: es ist das jenes Seinsvertrauen, das einen hochgebildeten Humanisten, Adalbert Stifter, der nicht zufällig in unseren Tagen in den USA und in England neu „entdeckt“ wird, ebensosehr bestimmte wie einen Mann aus dem niederen Volke, den Steinklopferhans (in Anzengrubers „Kreuzelschreibern“): „Es kann dir nix gschehn.“ Es kann uns allen nichts Böses widerfahren, wenn wir es wagen, ganz wir selbst zu sein. Und uns entschlossen mit allen Mitbürgern verbinden, die die Freiheit wagen, lieben, so wie es das Wiener Manifest fordert: von den Regierungen, Staatsmännern und jedem einzelnen.

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