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Armer, kleiner Jedermann

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Man beklagt in unseren Landei wohl nicht zu Unrecht den geringer Kontakt des Staatsbürgers mit dei demokratischen Institutionen des Staa tes und registriert Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit für dessen Be. lange. Man spricht von der „unterentwickelten Demokratie“, die sich ir verschiedener Weise offenbart. — Eil Symptom dieses Krankheitszustandei der Zweiten Republik tritt als mangelnde Tuchfühlung der Wählermasser mit deren Beauftragten zutage. Di Masse der Wähler besitzt fast so gui wie keine Beziehung zu „ihren“ Mandataren. Ja in sehr vielen Fällen weif man nicht einmal den Namen des jeweils zuständigen Landtags- oder Nationalratsabgeordneten. Davon gans zu schweigen, daß viele Österreichei kaum imstande sind, Präziseres übei Arbeits- und Aufgabengebiet eines Mandatars auszusagen! Wer sich etwa die Mühe nimmt, „Herrn Jedermann" die Frage zu stellen: „Welche Aufgabe hat ein Nationalrat?“, muß auf verblüffendste Antworten gefaßt sein, wie zum Beispiel: „Ein Nationalrat ist einer, der bei der Regierung Reden hält" oder „Nationalräte bilden den Ausschuß des Bundespräsidenten“.

Die Bemühungen der Mandatare um engere Konakte mit der Masse ihrer Wähler beschränken sich bekanntlich vor allem auf Wahlzeiten. Klarerweise wird aber gerade in diesen der Wähler weniger mit der rein sachlichen Arbeit der Volksbeauftragten vertraut gemacht, sondern in erster Linie mit jeweils aktuellen Propagandaslogans eingedeckt.

„Oben“ und „unten"

Der sogenannte „Durchschnittsbürger“ fühlt sich ob des geringen Kontaktes zwischen ihm und „denen oben“ — wie er sich auszudrücken pflegt — keineswegs sonderlich tief berührt. Denn es mangelt ihm an der Überzeugung, vollwertiger Bürger der Demokratie mit all dessen Rechten IhMfltfJWen zu •sejp.jPie Definition etwa, daß in der demokratischen Re- ippfolik? „das Recht! vorn. .Volk®' ausgeht“. erscheint ihm gefühlsmäßig ganz und gar fremd. Denn er ist in seinem Unterbewußtsein noch zu sehr mit dem Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts verwurzelt. Auch Anno 1961 zerteilt sich die Welt des Österreichers in ein „Oben" und ein „Unten“. Er sagt von sich: „Wir Kleinen“ — im Gegensatz zu den „Großen oben“. — Er fühlt sich als „Untertan".

Man könnte einwenden, dieser Blickwinkel sei allzu „schief“. Der „kleine Mann“ sähe ein durch Vorurteile zu sehr getrübtes Bild, und es läge in erster Linie bei ihm, die Kluft zwischen Regierenden und Regierten zu überbrücken. Er müßte eben erst lernen, demokratisch zu denken und zu arbeiten. Doch es darf wohl nicht übersehen werden, daß auf der anderen Seite die sogenannte „Machtelite“ — um ein Wort Aldous Huxleys zu gebrauchen — vielfach ebenso in überholten Begriffen und Anschauungen denkt. Nicht immer und überall besitzt hier echter demokratischer Geist eine feste Heimstätte. Zuweilen scheint man es gerade in diesen Kreisen nicht gerade als Unglück zu betrachten, wenn sich das „Volk“ nicht allzusehr „demokratisch engagiert“. Eine Voraussetzung für diese Art von leiser, gängelnder Diktatur bilden Brot, Spiele und Konsumrausch, das Opium, das die Massen einlullt, sie nicht zur Selbstbesinnung kommen läßt.

Schreiben Sie Ihrem Abgeordneten?

Um die Demokratie des Alltags zu intensivieren, regte eine österreichische Zeitung kürzlich an, politischen Mandataren, Regierungsmitgliedern und kulturell führenden Persönlichkeiten zu verschiedenen Gelegenheiten Ansichten und Meinungen brieflich mitzuteilen, ähnlich wie in den angelsächsischen Ländern, wo dieser Form der freien Meinungsäußerung Bedeutung zukommt. So nähme der Staatsbürger Anteil am demokratischen Leben, und die Verantwortlichen „oben“ könnten aus der Analyse der Meinungen Rückschlüsse gewinnen, wie diese oder jene Maßnahme „unten“ ankommt, wie man über dieses oder jenes denkt. — Wohl gut und recht! — Doch es kann kaum angenommen werden, daß sich Ähnliches in unserer jungen Demokratie so bald einbürgern wird, in einem Ausmaß etwa wie in den USA, wo wöchentlich Briefe körbeweise im Weißen Haus einlaufen. Warum? Der Österreicher hat zu große Angst vor den „Folgen“ der freien Meinungsäußerung.

Ja, es ist paradox! Einerseits gilt das verfassungsmäßig garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung, und niemand macht es offiziell dem Staatsbürger streitig, anderseits vermag sich der Staatsbürger nicht von dem dumpfen Angstgefühl im Unterbewußtsein zu befreien, wenn es gilt, diese Freiheit zu gebrauchen. Diese Tatsache läßt sich unschwer in verschiedenen Varianten im Alltag feststellen.

Der „kluge“ Staatsbürger

Wie die Dinge in unserer Gesellschaft liegen, wird in der Theorie zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung programmatisch verkündet, praktisch jedoch im günstigsten Falle bloß geduldet, das freie Wort wird in vielen Fällen keinesfalls gewünscht. Sicherlich, in unserer Demokratie wird niemand wegen eines unbedachten Wortes eingekerkert. Doch dieser Vorzug gegenüber anderen Gesellschaftssystemen darf nicht zur Selbstgefälligkeit verleiten, solange jenes elementare Grundrecht der Demokratie unserer Gesellschaft nicht ein Herzensanliegen bedeutet. Wir wollen es nicht so ausgelegt wissen, wie es einmal em Politiker privatim formuliert haben soll: „Freiheit der Meinungsäußerung, ja, doch jeder hat auch die etwaigen Folgen zu tragen, der von dieser Freiheit Gebrauch macht!“

Der „kluge“ Staatsbürger richtet seine Verhaltensweise, instinktmäßig oder durch Schaden eben „klug“ geworden, darnach aus. Seine Grundsätze demokratischer Lebensführung formen sich aus folgenden Überlegungen: Man weiß nie, was morgen sein kann! Darum gilt es als Devise: Solange wie nur möglich ein unbeschriebenes Blatt bleiben! Spricht man sich' gegen „etwas“ oder „jemanden“ ’äfts, Js61'köiinte dies einmal gär einen schwarzen Punkt einbringen! Ist man „für“ etwas, so könnten vielleicht einflußreiche Leute darüber schockiert sein, die „dagegen“ sind. Darum ist es stets am besten, wenn man nach außen keine eigene Meinung kundgibt!

Publizisten, die es nicht scheuen, inopportune Meinungen und Ansichten zu äußern, können es nicht selten erleben, daß ihnen gutgemeinte „Warnungen“ ins Haus geschickt werden: Bereiten Sie sich keine Schwierigkeiten, schreiben Sie künftig unter einem Pseudonym! Wir meinen es gut mit Ihnen ᾠ

Beruft sich der „Gewarnte“ auf die heiligen Grundrechte der Demokratie, so kann er ein mitleidiges Lächeln ernten: Was heißt schon Meinungsfreiheit? Die Generallinie des Denkens wird von Parteizentralen, diversen Organisationen, Machtgruppen und Interessenvereinigungen festgelegt. Wer dies nicht einsehen will, gilt als „Outsider“, als Abtrünniger, der ausgeschaltet gehört. In den Mitteln hierfür ist man gewöhnlich nicht allzu wählerisch. Als immer noch wirksam zum Beispiel erweist es sich, ihn zum „Kommunisten“ oder „Narren" oder am besten zu beidem zu stempeln.

Mit dieser makabren Situation setzte sich Friedrich Heer in einer Publikation in den deutschen „Gewerkschaftlichen Monatsheften“, Köln, unter dem Thema „Demokratie und Denunziation“ auseinander:

„Die Gesellschaft in unserer jungen und unentwickelten Demokratie krankt an einer Krankheit, die sie von innen her zersetzt. Diese schleichende Inflation, die die Währung aller guten politischen Werte der Freiheit der Person und der Menschenwürde zersetzt, ist die Denunziation ᾠ“ Der Verfasser weist darauf hin, daß unsere Massengesellschaft am Schutz der Persönlichkeit des einzelnen nicht vital interessiert sei. „Eine Demokratie, eine Gesellschaft freier Männer ist genau so viel wert, wie diese Gesellschaft bereit ist, zum Schutz der Freiheit des einzelnen, des unbequemen e i n z e 1 n e n, zu tun ᾠ" Auch die Demokratien des Westens kennen diverse „Säuberungen" und Gleichschaltungen. Der Verfasser spricht vom „Kahlschlag der deutschen Freiheit 1949 bis I960“. — Die in erster Linie auf bundesdeutsche Verhältnisse abgestimmte Arbeit ist wohl nicht nur für diese aktuell. Das aufgezeigte Übel bildet tatsächlich einen Krankheitsherd der westlichen Gesellschaft schlechthin.

Zwischen Gestern und Morgen

Eingangs wurde erwähnt, daß sich im demokratischen Leben des Österreichers traditionelle Bindungen an das Gestern in verschiedenen Formen feststellen lassen, die teilweise das Wachstum und die Entwicklung der jungen Demokratie belasten und hemmen. In manche Bereiche und Gesellschaftssparten fand und findet die Demokratisierung daher mühevoller Eingang als in andere. Vor allem der ungeschriebene, dpchjjmmer up.ch gültige j,Beąmtęnkęjgge“Ą weist in diese Richtung. Oder Sb manche Formulierungen im Beamtendienstrecht sind so ganz im antiquierten Geiste des vorigen Jahrhunderts abgefaßt. — Ähnliches ließe sich auch in anderen Gesellschaftsgruppen nachweisen.

Residuen solcher Art müssen als Hemmnis im geistigen Häutungsprozeß des Österreichers auf dem Wege vom Untertan zum demokratischen Staatsbürger betrachtet werden.

Zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Selbstüberschätzung

Der besagte „Umwandlungsprozeß“ müßte gewissermaßen die Gesamtpersönlichkeit des Österreichers erfassen. Eine Voraussetzung hierfür: er müßte näher dem Jetzt als dem Gestern leben! Denn trotz des Vorhandenseins von manchen gegenteiligen, positiven Symptomen sei behauptet: der Österreicher des Atom- und Weltraumfahrtzeitalters steht im Essentiellen seines Denkens auch Anno 1961 oft noch näher dem vorigen Jahrhundert als der Gegenwart. Dafür spricht seine mangelnde Fähigkeit und sein mangelnder Wille, sich mit den geistigen und künstlerischen Strömungen der Gegenwart auseinanderzusetzen, die weithin bloß aus der Tradition gespeiste Religiosität, der trotz Katastrophenschocks immer noch nicht ganz überwundene Nationalismus.

Der Österreicher von heute schwankt zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Selbstüberschätzung. Er strömt über in dem Gefühl, „was Österreich der Welt einst gegeben hat“. Dabei überträgt er das Einst voreingenommen auf das Jetzt. Er gibt sich der Passivität hin und sagt dabei: „Wir sind wir!" — Doch im Handumdrehen verfällt er ins gerade Gegenteil, in Selbstunterschätzung und kritiklose Lobhudelei von allem, was von „draußen“ kommt — vor allem, wenn aus der Richtung des „deutschen Bruders“.

So leben wir in einem etwas muffigen Museum, als Phäaken des Konsumzeitalters, kaum beeindruckt von unserer Grenzsituation, an der Schnittlinie zweier Welten, unbekümmert und ohne Gespür für kommende Entscheidungen, denen auch Herr Neonbiedermeier nicht ausweichen wird können ᾠ

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