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Staatsrecht oder Staatsunrecht?

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Die „Furch e“ hat mit dem Thema „Staatenlosigkeit“ eine Rechtsfrage angeschnitten, die für die ganze Welt von größter Bedeutung ist. Nachstehende Zeilen sollten auch zu der Erhellung des Gegenstandes dienen.

Die Frage lautet: „Hat der Staat ein Recht, ein Volk, nur weil seine Muttersprache nicht die der Mehrheit des Staatsvolkes ist, aus seinen Heimstätten zu vertreiben und aus dem Lande zu weisen?' Diese Frage haben weder die Siegermächte noch die UNO.klar und einwandfrei, zur eigenen Rechtfertigung und Beruhigung aller Rechtsgesinnten, beantwortet.

Der Staat ist kein außer seinen Bürgern bestehendes Wesen, das eine eigene Existenz, einen eigenen Körper hätte, sondern er ist, wirkt nur in den einzelnen. Diese lebten schon viel tausend Jahre vor dem Staate, wie auch jetzt noch Naturvölker außerhalb eines Staates leben. Ihr Recht auf Raum, Heimstätte und was zum Lebensunterhalt notwendig ist, haben sie nicht vom Staate, sondern von Natur aus, die sie ins Leben rief und haben will, daß sie sich als Menschen frei und vollkommen entwickeln sollen. Die einzelnen gaben und geben dem Staat seine Existenz und das Staatsrecht, nicht umgekehrt. Der von den einzelnen bewohnte Raum wird nur durch Vereinigung der einzelnen zum Staatsgebiet; sterben alle aus, so auch der Staat, und mit ihm wird auch das Gebiet wieder frei. Treibt er mit Hilfe des einen Teiles der Bevölkerung den andern Teil aus, so müßte sinngemäß auch das von diesem bewohnte Gebiet vom Staat abgetrennt werden: eine Selbstverstümmelung, die in der Geschichte kaum in solchen Ausmaßen ihresgleichen hat. Als es nach dem ersten Weltkrieg die Türkei gegenüber den Griechen tat, lehnt? sich in allen Teilen der Welt das Rechtsempfinden dagegen auf. Volk und Gebiet gehören zusammen. Das Recht auf einen Raum gebührt keiner Rasse oder Konfession, sondern nur dem Menschen als solchen. Denn einen Körper haben, ihn ernähren, zur vollen Entwicklung bringen und darum einen Raum zu beanspruchen ist etwas rein Menschliches, nichts Rassisches oder Konfesionelles. Denn man muß zuerst Mensch sein, um dieser oder jener Nation oder Konfession angehören zu können Boden, Luft, Wasser, Brot usw. sind international und der Deutsche in Ungarn aß kein ungarisches, in Rumänien kein rumänisches Brot, wie er vom Staatsvolk zu hören bekam, sondern überall das eigene, das ihm die Natur als Lohn für seine Arbeit fertigstellt, wie allen Rassen und allen Arten der Pflanzen und Tieren. Ein gleiches Bedürfnis, eine gleiche Natur des Menschen als solchen, ob Ungar, Katholik oder Demokrat, gebührt das gleiche Menschenrecht und nicht dem Staate, der keinen Raum auf der Welt einnimmt.

Die Gewalt des einzelnen allein hat kein Recht, den Schwächeren von seinem Platze zu vertreiben, aber auch die Gewalt des Staates nicht, den ia die einzelnen Familien eben zu ihrem Schutze ins Leben gerufen haben. Wie das Leben selbst, so sind auch alle Lebensbedingungen und Rechte auf diese kein Geschenk des Staates, einer beliebigen Mehrheit, einer Gewalt, sondern wurzeln im Weltplan, in der Natur selbst.

Diesem Naturrecht stimmen bereits alle Nationen auf dem Papier bei. „Gleiches Recht vor dem Gesetz für alle. Unverletzbare Heimstätten Freiheit auf Berufs- und Erwerbsmöglichkeiten, auf Gebrauch der

Sprache, auf Schulen.“ So lauten die Menschenrechte der großen Revolution, aufgenommen in die neueste Verfassung Frankreichs, in die Verträge, welche die Hauptmächte des ersten Welt-k r i g e s mit Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Griechenland, Österreich, Bulgarien, Ungarn, Türkei, Albanien, Estland, Finnland, Lettland und Litauen zum Schutze der Minderheit getroffen haben.

Ähnlich die Unabhängigkeitserklärung der USA am 4. Juli 1776“. In glänzender Formulierung sdireibt Stalin in seiner Abhandlung „Marxismus und nationale Frage“ (1913 und 1945):

„Recht auf Selbstbestimmung, d. h. nur die Nation selbst hat das Recht, ihr Schicksal zu bestimmen; niemand hat das Recht, sich in das Leben einer Nation gewaltsam einzumischen, ihre Schulen um! sonstigen Institutionen zu zerstören, ihre Sitten und Gebräuche zu verletzen, ihre Sprache tu knebeln, ihre Rechte zu schmälern. Die Nation darf sich nach eigenem Gutdünken, nach den Grundsätzen der Autonomie einrichten. Sie hat das Recht, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten — sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän und alle Nationen sind gleichberechtigt. Eine Nation hat sogar das Recht, zu alten Zuständen zurückzukehren.“ (S. 22.)

„Die einzig richtige Lösung ist die Gebietsautonomie. Was bewegt jede nationale Minderheit am meisten? Daß ihr das Recht au' die Muttersprache vorenthalten wird. Gebt ihr dieses Recht: die Unzufriedenheit wird von selbst verschwinden. Oder: daß ihr die eigene nationale Schule, die Gewissensfreiheit, Freizügigkeit usw. vorenthalten wird. Also nationale Gleichberechtigung in allen ihren Formen (Sprache, Schule usw.) als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage, ein allgemeine? Staatsgesetz, das ausnahmslos nationale Vorrechte aller Art und jegliche Beengung oder Einschränkung der Rechte der nationalen Minderheiten verbietet. Nur hierin kann die wirkliche, nicht papierne Garantie der Rechte der Minderheiten bestehen.“ (S. 66 —67.)

Aus ähnlichem Geiste handelt die Schweiz gegenüber den Rätoromanen, Österreich gegenüber den Slowenen in Kärnten, Rußland gegenüber vielen Völkerschaften, die den Staat bewohnen, usw. Nicht kraft einer Gunst eines Staates oder einer Abstimmung, sondern als ein natürliches Recht, ohne das Menschen wie auch Pflanzen und Tiere nicht leben. War irgend auf der Welt ein Platz zur Niederlassung frei, so konnte dieser Raum als Heimstätte und Arbeitsfeld (Nährboden) auch eingenommen werden, weil dadurch niemandem ein Unrecht zugefügt wurde. (So galt das Recht auf freie Wanderung in unbesetzten Gebieten schon bei den Nomaden der Urzeit und auch jetzt noch.) Der Spätkommende konnte den Erstgekommenen nicht von Rechts wegen vertreiben, nur wenn er stärker war. (Im kleinen spielt sich diese Szene jede Sekunde in der Tramway ab, wenn der Spätkommende nicht durch Gewalt einen besetzten Sitz freimacht.) Der Umstand, daß schon der Urmensch das Recht auf alle Heimstätten heilig hielt und, ohne extreme Not getrieben, dieses Recht den andern nicht raubte, machte die Seßhaftigkeit und eigenartige Bildung der Völker möglich.

„Kein Zweifel“, sagt Stalin, „daß kein einziges Siedlungsgebiet in seiner ganzen Ausdehnung homogen ist. Das ändert aber am ganzen Gerüst und der Struktur des Staates auch nicht das geringste. Weil nicht der Staat seine Bürger geboren hat, sondern diese ihren Staat. Die Einzelnen haben nicht durch ihre Rasse, Sprache ein Anrecht auf ihre Heimstätte, sondern weil sie Menschen sind, die einen Raum brauchen und die als rechtmäßige Besitzer nur darum, weil sie eine andere Sprache reden, nicht vertrieben werden können. Nicht die Sprache, sondern die natürliche Existenzberechtigung ist die Grundlage des unantastbaren Heimes.“

Wer könnte wohl behaupten, daß zum Beispiel Großbritannien, USA ihre fremdsprachigen Völker aus ihren Staaten von Rechts wegen ausweisen könnten?

Oder daß diese Völker ihr Daseinsrecht dem Staate zu verdanken haben. Er ist so stark, daß er sie vernichten könnte, aber er tut es nicht, und nicht deshalb, weil er sie aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen braucht, sondern, vom selbstverständlichen Standpunkt des reinen Rechtes und weil auf diesem Recht er selbst beruht. Denn das ist hier die Frage. Der einzelne ist nur dann bereit, wirtschaftlich und politisch (als Glied der Wehrmacht) für den Staat sein Bestes und Meistes aufzubieten, wenn er weiß, daß das alles eigentlich seine eigene Sache ist, weil der Staat seine Heimat ist und er keine andere hat und der Staat nicht ein abstrakter Begriff ist. Dieser muß aus starken einzelnen bestehen, was immer für eine Sprache, Rasse oder Konfession sie haben. In dieser Frage der Existenz und der Sicherheit sind alle Nationen eines vielsprachigen Staates einig, und eben darin besteht die Stärke desselben. Wenn aber die eine Hälfte des Staates die andere loshaben will, um mehr im Frieden leben zu können? Nun, er kann sie loshaben, nur muß er auch auf das von ihnen bewohnte Gebiet verzichten. So forderten es die Slowaken, Rumänen, Serben, Ruthenen im ersten Weltkrieg von Ungarn und haben es bekommen (drei Viertel des Landes).

Der Zusammenhang zwischen Bewohner und Raum kann nicht auf bloße- Willkür abgeschnitten werden, das Zurückhalten des bewohnten und zwangsweise evakuierten

Gebietes bedeutet eine Expansion, einen Imperialismus, der einen ungerednen Raumgewinn auf der einen Seite und eine Ausplünderung eines Teiles der bisherigen 'Staatsbewohnerschaft auf der anderen Seite bedeuten würde Das steht im Widerspruch mit der Aufgabe des Staates, dem der Schutz, nicht die Verfolgung seiner eigenen Bürger anvertraut ist.

Besteht hier ein reines Recht oder reine Gewalt? Das reine Recht ist immer durchführbar. Die Gewalt in diesem Falle ist physisch undurchführbar und darum kann sie auch keine Quelle des Staatsrechtes sein. Analysieren wir den Rechtstitel der Gewalt. Ist der Angegriffene und Angreifer gleich stark, so bleibt die Uhr und die Geldbörse in der Tasche des ersteren. Hat aber der Angreifer einen Revolver, der Angegriffene keinen, so kommt der Angreifer zum Recht. Ihm gehört die Taschenuhr und Geldbüchse. Der einzige Rechtstitel ist und bleibt der Revolver. Man versuche darauf eine Gesellschaft aufzubauen.

Der Staat, ob ein- oder vielsprachig, ist die Vereinigung vieler zur kräftigeren Verteidigung und Bekämpfung aller Hindernisse, die die Kräfte des einzelnen hemmen, um auf gerechte Weise den allgemeinen Wohlstand zu stärken und zu sidiern. Im kleinen: er stellt Nachtwächter, Feldhüter, Schweinehüter usw. auf, bestraft die Diebe, spricht im kleinen Recht, hebt Steuer ein für den staatlichen Apparat. Im großen: er stellt einen Gerichtshof, Armee auf usw. Alles zum Schutz aller seiner Staatsbürger gegen tierische und menschliche Schädlinge, Friedensstörer, Räuber. So war es seitdem die Welt besteht, auch vor Sinai. Warum? Weil eben die Heimstätte das Teuerste ist, was der Mensch besitzt, ob sie in China, in Grönland, über Vulkanen in Japan, in Äthopien steht: ein jedes Volk hängt daran, mag das Klima, der Boden noch so verschieden sein. Diese Liebe schafft Besitzordnung in der ganzen Welt. Heimat und Rassentuni sind zusammengewachsen. Dieses Recht zur Heimstätte wächst so sehr ans Herz, besonders des einfachen Mensdien, daß ihn ein fremdes, schöneres Haus, besserer Boden, reichere Schätze gar nicht berühren, wenn ihm nur sein Eigentum nicht weggenommen wird. Ein allgemeines Prinzip, das so leicht für jedermann so beglückend durchzuführen ist. Der letzte Krieg mit all seinen Greueln ist nicht schauderhafter, als das Verlassen dieses allgemeinsten, wunderbarsten Ordnungsprinzips, des Rechtes auf die Heimstätte. Heimat ist Verbundensein mit Ahnen, mit Nachkommen, mit Verwandten, Nachbarn, Freunden, mir der ganzen Gemeinde, mit dem Vaterlande. Fremde ist eine Leere, der Zustand des Verlassenseins, ohne Vergangenheit, ohne sichere Zukunft. Man muß in Argentinien wieder Waldrodung, Urbarmachung beginnen, wie vor vielen Jahrhunderten an den Rändern des Erzgebirges oder im Banat oder sonstwo. Wo ist ein sicherer Anhaltspunkt, wenn das alte Naturrecht, die Menschenrechte in den Papierkorb wandern? Denn sosehr das Unrecht der Ausplünderung einer einzigen Familie dem kleinen Mann einleuchtet so stark wird der Politiker verblendet, wenn dieses Unrecht ins Gigantische wächst von dem Raube einer Taschenuhr bis zur „humanen“ Wegnahme der Heimstätten vieler Millionen.

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