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Die Koexistenz in der Wahrheit

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So traurig es ist, festzustellen, wie der gegenwärtige Bruch der Menschheitsfamilie seinen Ansatz nahm zwischen Menschen, die denselben Heiland Jesus Christus kannten und anbeteten, so scheint Uns trotzdem die Zuversicht begründet, es könne in eben Seinem Namen eine Brücke von Ufer zu Ufer geschlagen und das schmerzhaft zerrissene gemeinsame Band wiederhergestellt werden.

Man hofft tatsächlich, daß die heutige Koexistenz die Menschheit dem Frieden näherbringt. Um aber diese Erwartung zu rechtfertigen, muß es irgendwo eine Koexistenz in der Wahrheit sein. Doch läßt sich aus der Wahrheit eine Brücke zwischen diesen beiden getrennten Welten nur errichten, wenn sie sich auf die in der einen und der anderen Welt lebenden Menschen stützt, nicht aber auf ihre Regierungsformen oder Systeme gesellschaftlichen Daseins. Denn während sich der eine der beiden Partner noch in weitem Umfang, bewußt oder unbewußt, bemüht, das Naturrecht zu wahren, hat sich das auf der anderen Seite geltende System vollständig von dieser Grundlage gelöst. Wenn ein einseitiger Supernatura-lismus eine solche Haltung einfach übersehen will,' mit der Begründung, daß wir ja in der Welt der Erlösung lebten und darum der Naturordnung entzogen seien; oder wenn man darauf besteht, den kollektivistischen Grundcharakter dieses Systems als „geschichtliche Wahrheit“ anzuerkennen in dem Sinn, daß auch er dem Willen Gottes entspreche, so sind dies Irrtümer, denen ein Katholik in keinem Fall unterliegen darf.

Der richtige Weg ist ein ganz anderer. In beiden Lagern gibt es Millionen, die mehr oder weniger lebendig die Spur Christi festgehalten haben. Sie alle sollten nicht weniger als die treuen und eifrigen Gläubigen aufgerufen werden, mitzuwirken, die Einheitsgrundlage der Menschheitsfamilie zu erneuern. Es ist wahr, daß auf Seiten des einen der Partner die Stimme der Menschen, die entschlossen für die Wahrheit, die Liebe, den Geist einstehen, erstickt ist durch den Druck der öffentlichen Gewalt, und daß man auf Seiten des anderen zu furchtsam ist, für das Wollen des Guten laut einzustehen; es ist Pflicht der Politik der Wiedervereinigung, die einen zu ermutigen und den anderen Gehör zu schenken. Auf der Seite besonders, wo es kein Verbrechen ist, sich gegen den Irrtum zu stellen, müßten die Staatsmänner ein größeres Selbstvertrauen besitzen, den anderen mehr selbstsicheren Mut zeigen und die Drohungen der finsteren Mächte, die immer wieder Politik und Vorrecht der Gewalt in Anwendung bringen möchten, vereiteln; sie sollten klug, aber nachdrücklich die Scharen der Menschen guten Willens intakt halten und verstärken, an erster Stelle derer, die an Gott glauben, deren die Sache des wahren Friedens überall viele zählt. Es wäre sicher eine irrige Politik der Wiedervereinigung — wenn nicht geradezu Verrat —, nationalstaatlichen Interessen völkische Minderheiten zu opfern, die der Macht entraten, und ihre höchsten Güter, ihren Glauben und ihre christliche Kultur nicht zu verteidigen. Die so täten, wären unglaubwürdig und handelten nicht ehrlich, wenn sie dann in den Fällen, wo ihr Interesse es verlangte, auf die Werte der Religion und die Achtung vor dem Recht sich beriefen.

Viele bieten sich an, die Grundlagen für die Einigung der Menschen zu schaffen. Da jedoch diese Grundlage oder Brücke geistig-sittlicher Natur sein muß, sind sicher für diese Aufgabe die Skeptiker und Zyniker nicht geeignet, die nach der Schule eines mehr oder minder verhüllten Materialismus sogar die erhabensten Wahrheiten und die höchsten geistigen Werte auf physische Reaktionen zurückführen oder von bloßen Ideologien sprechen. Ebenso sind jene dafür nicht geeignet, die weder unbedingt verbindliche Wahrheiten, anerkennen noch sittliche Pflichten auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens annehmen. Diese letzteren, die schon in der Vergangenheit durch ihren Mißbrauch der Freiheit und durch eine alles niederreißende und unvernünftige Kritik, häufig unbewußt, es dahin brachten, daß sich ein günstiges Klima für die Diktatur und die Unterdrückung bereitete, drängen sich von neuem nach vorn, um das Werk einer gesellschaftlichen und politischen Befriedung, die auf christliche Anregung in Angriff genommen wurde, in Verwirrung zu bringen. Da und dort erheben sie nicht selten ihre Stimme gegen solche, die sich bewußt als Christen mit vollem Recht den Problemen der Politik wie überhaupt des öffentlichen Lebens widmen. Bisweilen schwärzen sie auch die Sicherheit und Kraft an, die der Christ aus dem Besitz der absoluten Wahrheit schöpft, und verbreiten im Gegensatz dazu die Ueberzeugung, es gereiche dem modert nen Menschen zur Ehre und es sei ein Vorzug seiner Erziehung, keine festen Ideen und keine bestimmten Ziele zu haben, auch nicht an irgendeine geistig-sittliche Welt gebunden zu sein. Inzwischen vergißt man, daß gerade in solchen Grundsätzen die heutige Verwirrung und Unordnung ihren Ursprung hat; sie wollen sich auch nicht daran erinnern, daß gerade die christlichen, von ihnen heute bekämpften Kräfte in vielen Ländern es schafften, die von jenen selbst vergeudete Freiheit wiederherzustellen. Von solchen Menschen kann die Brücke der Wahrheit und die gemeinsame geistige Basis sicher nicht erstehen, vielmehr ist zu erwarten, daß sie, je nach der Lage, es nicht unangebracht finden, mit dem falschen System des anderen Ufers zu sympathisieren, wobei sie sich dareinfinden, ihm auch zu verfallen, wenn es vorübergehend triumphieren sollte.

Indem Wir also voll Vertrauen auf die göttliche Güte warten, daß die geistige und christliche Brücke, die zwischen den beiden Ufern etwa schon besteht, noch breiter und tragfähiger werde, möchten Wir an die Christen jener Länder, wo man sich noch des Gottesgeschenks des Friedens erfreut, die Mahnung richten, alles nur Mögliche zu tun. um die Stunde seiner allgemeinen Wiederherstellung zu beschleunigen. Vor allem mögen sie sich davon überzeugen, daß. wenn der Besitz der Wahrheit nur in ihnen — etwa als Gegenstand ihres Beschauens, um seelischen Genuß daraus zu ziehen — verschlossen bliebe, er der Sache des Friedens nicht dienen würde. Die Wahrheit muß gelebt, weitergegeben, auf alle Lebensbereiche angewandt werden. Auch die Wahrheit, zumal die christliche, ist ein Talent, das Gott in die Hand seiner Diener legt, damit es durch ihr Schaffen Frucht bringe. Die Besitzer der Wahrheit möchten Wir alle fragen, bevor es der ewige Richter tut, ob sie jenes Talent so angelegt haben, daß sie die Einladung des Herrn verdienen, einzugehen in die Freude seines Friedens. Wie viele, vielleicht auch katholische Priester und Laien, müßten den Vorwurf fühlen, daß sie im Gegenteil diesen und anderen geistigen Besitz infolge ihrer Trägheit oder ihrer Unempfmdlichkeit gegenüber den menschlichen Nöten im eigenen Herzen vergraben haben! Im besonderen würden sie sich schuldig machen, wenn sie es duldeten, daß das Volk beinahe ohne Hirten bliebe, während der Feind Gottes mit Hilfe seiner mächtigen Organisation unter den nicht fest genug in der Wahrheit geformten Menschen verheerenden Schaden anrichtet. Gleicherweise wären Priester und Laien verantwortlich, wenn das Volk von der christlichen Liebe nicht jene tätige Hilfe erhielte und erführe, die Gottes Wille vorschreibt. Auch jene Priester und Laien würden nicht ihre Pflicht erfüllen, die freiwillig Augen und Mund schlössen gegenüber sozialen Mißständen, deren Zeugen sie sind, und so Anlaß böten zu unberechtigten Angriffen gegen die soziale Befähigung des Christentums und gegen die Wirkkraft der Soziallehre der Kirche, die dank der Gnade Gottes so viele und offensichtliche Erweise jener Kraft gerade in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. Wo jenes Versagen zuträfe, würden auch sie die Verantwortung tragen, wenn in dem einen und anderen Fall Jugendgruppen ja sogar Seelsorger einem irrigen Radikalismus und Progressismus verfielen.

Noch schwerere Folgen für die soziale und auch für die politische Ordnung würde das Verhalten jener Christen nach sich ziehen — ob Sie sich nun in gehobener oder niederer Stellung finden, oder ob sie mehr oder weniger wohlhabend sind —, die sich nicht entschlössen, die eigenen sozialen Verpflichtungen in der Führung ihrer wirtschaftlichen Angelegenheiten anzuerkennen und zu beobachten. Wer nicht bereit ist, den Gebrauch seines Eigentums der gemeinsamen Wohlfahrt in gerechtem Maß anzupassen, sei es frei gemäß der Stimme des eigenen Gewissens, sei es vermittels organisierter Formen öffentlichen Charakters, der hilft mit, soweit es. auf ihn ankommt, das unentbehrliche Vorwalten der persönlichen Initiative und Verantwortung im gesellschaftlichen Leben zu unterbinden.

In den demokratischen Systemen kann man leicht einem solchen Irrtum verfallen, wenn das Einzelinteresse unter den Schutz jener kollektiven oder Parteiorganisationen gestellt wird, von denen man den Schutz der Summe der Einzelinteressen, anstatt die Förderung des Allgemeinwohls verlangt. Auf diese Weise wird die Wirtschaft leicht zur Beute anonymer Kräfte, die sie politisch vergewaltigen.

Geliebte Söhne und Töchter! Wir sind der göttlichen Güte dankbar, daß sie Uns noch einmal gewährt hat, als sorgender Vater euch die Wege des Guten zu weisen. Möge die Erde, überflutet vom Strom des wahren Friedens, Gott in des Himmels Höhen lobsingen I .Transeamus usque Bethlehem!“ (Luk. 2, 15). Kehren wir zurück zur Krippe der Aufrichtigkeit. Wahrheit und Liebe, wo der eingeborene Sohn Gottes sich als Mensch den Menschen schenkt, damit die Menschheit in Ihm wieder ihr Band der Einheit und ihren Frieden entdecke. Hodie nobis de coelo pax vera descendit (Off. in Nativ. Dom., Resp. ad II Lect.). Auf daß die Erde würdig sei, Ihn zu empfangen, rufen Wir auf alle den Reichtum der göttlichen Segnungen herab.

(Offizielle Uebersetzung des vatikanischen Presseamtes)

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