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Das freie Wort in der Kirche

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Erscholl das feurige Wort der Propheten nicht mehr in Gottes Volkes Mitte, so war es in Todesnot.

Der Prophet schüttelte und rüttelte es; er mahnte es an die unerbittlichen Verpflichtungen, die ihm seine Auserwählung durch Jahwe auferlegte. Oft stichelte er den Plebs, die Könige und mehr noch die Hohenpriester. Sein freies Wort aber und seine Kompromiß- losigkeit waren die äußeren Zeichen einer Liebe, einer Besorgnis, einer Gegenwart. Derjenigen Gottes selbst. „Warum ergrimmt Dein Zorn gegen die Herde Deiner Weide? Unsere Zeichen haben aufgehört; kein Prophet ist mehr; und keiner von uns weiß bis wann“ (Ps. LXXII. 1 und 9).

Nachdem Gott auf vielfache und mannigfaltige Weise durch die Propheten gesprochen hatte, sprach Er endlich durch Seinen Sohn

(s. Heb. I, 1). Das Wort Christi, schärfer als jegliches zweischneidiges Schwert, dringt durch, bis es Seele und Geist, Mark und Bein voneinander scheidet (s. Heb. IV, 12). Verurteilungen hageln auf diejenigen hernieder, die sich auf den Lehrstuhl des Moses setzten und ihr Funktionen und ihr Ansehen mißbrauchten (s 'Ma t t-h. XX'III', 1-12); bau nsdwlO

Vor dem Hohenpriester — der immer noch als die höchste religiöse Persönlichkeit galt, da der Neue Bund noch nicht mit dem Blute des Lammes versiegelt war — sagte Jesus: „Ich habe offen vor aller Welt geredet.“ Und vor Pilatus vervollständigte er diesen Satz: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß Ich der Wahrheit Zeugnis gebe“ (J o h. XVIII, 20 und 37). In Christi Kirche ist also die Verkündigung der Wahrheit durch ein freies und offenes Wort eine Pflicht und eine Mission. Wie Christus, so steht auch die Kirche im Dienste der ganzen Wahrheit. Es kann kein Körnchen Lüge in ihr sein. Dadurch wird das offene Wort zu einem Recht, das illusorisch ist, wenn es nicht die Möglichkeit und die effektive Freiheit nach sich zieht, in Anwendung gebracht zu werden.

Das typischste Beispiel für diese Offenheit und diesen Mut in der Verkündigung der Wahrheit finden wir sicherlich in dem Streit, der sich zwischen Saulus und Kephas erhob: „Als Ke- phas nach Antiochien kam, trat ich ihm Aug' in Aug' entgegen, weil er schuldig war Da ich sah, daß ihre Handlungsweise nicht der Wahrheit des Evangeliums entsprach, sagte ich offen vor allen zu Kephas “ (Gal. II, 11 und 14).

Kraft einer göttlichen Mission ist das Ma- gisterium im Namen eines einzigen, „funktionellen“ Rechts damit beauftragt, für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Es verwahrt das anvertraute Gut und läßt es Frucht bringen. Angesichts einer aufbegehrenden und anstoßnehmenden Welt fällt es ihm oft schwer, diesem Gute treu zu bleiben. Das 50jährige Jubiläum der Enzyklika P a s c e n d i (1907—1957) würde uns dies in gelegener Weise in Erinnerung rufen, sollten wir versucht sein, es zu vergessen.

Neben oder besser gesagt unter den Aposteln und dem Magisterium, und auf einem anderen Plan, gibt es Propheten.

Diese Stimme der Propheten, die freier und schroffer, leidenschaftlicher und minder konventionell für die Wahrheit Zeugnis ablegt, ertönt in der Kirche nicht als eine Einrichtung oder ein Gericht, sondern als die Forderung vollendeter Treue, als die Ahnung neuer Aufgaben, als die Diagnose einer Krankheit, die

man lieber übersieht und geheimhält, als Diensteifer im Geist und in der Wahrheit gegen die Routine und den Ehrgeiz.

Dies offene Wort ist in der Kirche stets laut geworden, übrigens auf verschiedene Art, vom heiligen Bernhard zu Abraham a Santa Clara, vom heiligen Franziskus zu Abbe Pierre. Manchmal könnte inan glauben, es bestünde ausschließlich aus dem Feuer, womit die Sünde angeklagt, die Skandale aufgezeigt, die Reformen gefordert werden plus in capite quam in corpore. Von Christi Rede bleiben dann nur die V a e vobis und nicht die B e a t i haften. Denn es gibt auch die Propheten des Lichts, des Lebens und der Freude: Ist Msgr. Cardijn nicht der Prophet der Hpffnung für die jungen Arbeiter der ganzen Welt, ob Christen oder nicht? Und seine frohe Botschaft ist auch ein offenes Wort in der Kirche.

Das offene Wort ist kein Vorrecht, sondern eine Pflicht, und doch muß seine Anwendung tagtäglich verteidigt werden. Es setzt dringlich die Freiheit voraus; es schließt die Klarheit und die Kraft in der Bejahung ein, manchmal für die Verteidigung selbst dieser Freiheit. In jed- welcher Gesellschaft neigen die Chefs zu der Annahme, man regiere leichter mit Zwang als mit Freiheit. So trifft das offene Wort ganz natürlich mit der öffentlichen Meinung zusammen. Eines ohne das andere ist nichts. Das freie und offene Wort ist der Lautsprecher der öffentlichen Meinung.

Seiner Heiligkeit Pius XII. nach zu schließen, ist die öffentliche Meinung „die Mitgift jeder normalen Gesellschaft“. In ihrer Abwesenheit oder ihrem Stillschweigen „sollte man einen Mangel, ein Gebrechen, eine Krankheit des sozialen Lebens erblicken". Es muß also im Herzen selbst der Kirche „eine öffentliche Meinung bestehen (natürlich auf denjenigen Gebieten, die der freien Debatte offenstehen). Nur solche können darüber staunen, die überhaupt keine oder nur eine unvollkommene Kenntnis der Kirche haben. Denn schließlich ist die Kirche ein lebender Körper; es würde ihrem Leben etwas mangeln, wenn die öffentliche Meinung ausbliebe, und der Tadel für diesen Mangel würde auf die Seelsorger und auf die Gläubigen zurückfallen“.

Viele wären jedoch versucht, entweder aus einer mißverstandenen Apologetik heraus oder

in dem Willen, den Skandal der Schwächlinge zu umgehen (alle Skandale der Schwächlinge allein) oder auch in einem Streben nach eigener, geistiger oder materieller Sicherheit immer mehr Platz der Weisung des Apostels einzuräumen: Taceant mulieres in Ecclesia. In der Kirche hat die Frau zu schweigen, und jedermann wird auf den Rang der Frau gestellt

Das Mittelalter nahm sich mehr Freiheiten heraus Man .'ersteht aber auch recht gut, daß man nach der Ausrenkung dessen, was man als Christenheit zu bezeichnen pflegt, nach dem Einsturz der soziologischen Stützpfeiler der

Kirche, nach dem Verlust der oberen Plätze bei den Festessen der meisten Republiken das Bedürfnis empfand, sich zu schützen, sich zu rechtfertigen, sich zu erheben. Dieser Rückzug und diese Empfindlichkeit sind ein Teil dessen, was in der Kirche menschlich ist. Denn die wahre Kirche Christi kennt alle Wechsel des Leibes. Und das Volk Gottes irrt immer noch in der Wüste umher, ehe es im Gelobten Land ankommt. Unserer Generation aber brächte das offene Wort eine wachsende Glaubwürdigkeit der Kirche.

Oft wird der Einwand laut, es sei gefährlich, diese Tatsache zu erwähnen, dieses Problem aufzuwerfen. Dabei vergißt man, daß derjenige, der darüber spricht oder schreibt, weder die Tatsache erfindet noch das Problem ins Leben ruft. Das Leben selbst gibt sie jeden Tag unseren Christen bekannt oder stellt es ihnen auf der Straße, in der Freizeit, in der Arbeit, auf den Plakaten, in der Presse, im Rundfunk. Gewiß, es gefällt uns nicht, wenn ein Priester ein junges Mädchen ermordet oder wenn sich junge Soldaten Fragen über die Kollektivunterdrük- kung stellen. Was ist aber nun eigentlich das Wesentliche: zu pflegen, was uns bekommt und was uns recht ist, oder unseren Christen zu helfen, vor dem Leben, wie es sich ihnen in Wirklichkeit bietet, als wahre Christen zu reagieren? Eine gewisse Vogelstraußpolitik richtet oft ebensoviel Schaden an wie der Skandal. Und der Skandal der Kleinen wird oft von den Machthabenden als Alibi für ihre Sicherheit vorgeschoben.

Manchmal wird die Bitte vorgebracht, die Politiker oder die Finanzleute nicht allzusehr zu vergrämen. Derlei Einmischungen ereignen sich öfter als man denkt. Es kommt aber auch noch vor, daß der katholische Journalist, der dazu berufen ist, eine objektive und lautere Information zu geben, einem römischen Prälaten oder einem Kardinal begegnet, der ihm angesichts gewisser Intrigen oder Anträge sagen wird: „Sie sind frei Sprechen Sie nach Ihrem Gewissen und nach der erhaltenen Information.“

Das größte Hindernis aber, worauf das offene und freie Wort stößt, ist die Weigerung vieler, zu erkennen, daß Prinzipien verkündet werden, um in Anwendung zu kommen. Allzuoft schreibt man in „guten“ Kreisen Theoriewälzer über den gerechten Krieg, die Achtung des Menschen, die Kollektivvergeltung, den rechten Lohn, die Rolle des Geldes, die Freiheit der politischen Option, den Platz des Laien in der Kirche .. Aber matt hütet' sich däVöri präk tische, Schlüsse für das tägliche Betragen! des 3 Menschen zu ziehen, äußer wenn diese Schlüsse die „anderen“ betreffen und keinerlei Unannehmlichkeiten schaffen.

Das offene Wort ist nur dann schlagkräftig und hat nur dann eine Existenzberechtigung in einer Gesellschaft, wenn es falsche Traditionen entlarvt, eingesessene Leute stört, Ehrlichkeit fordert. Kurzum, wenn es nicht erlaubt, mit der Wahrheit Versteckenspiel zu treiben. Gewiß, der Prophet kann in eine Falle geraten: in die Falle nämlich, extreme Schlüsse zu ziehen oder sich von seinen Launen oder seiner Parteilichkeit fortreißen zu lassen. Er muß sich hüten, vor dem berauschenden Schwall der Worte, vor der Bequemlichkeit der Verneinung. Wer das offene Wort sprechen will, muß vor allem sein Herz prüfen und sein Gewissen reinigen.

Das Wort ist auch Band der Gemeinschaft; so steht es im Dienste der Liebe. Das freie Wort soll nicht trennen, nicht betrügen, nicht aufhetzen, sondern alle Hindernisse oder Mißverständnisse beseitigen, auf daß die Gemeinschaft nicht eine der Toten oder Sklaven sei, sondern die der Lebenden und Freien in Wahrheit und Liebe.

So ist das offene, das freie Wort für die Kirche unerläßlich. Es ist notwendig für ihre Gesundheit und ihren Fortschritt. Es bleibt aber immer dem Magisterium untertan und steht unter seiner Kontrolle.

Für denjenigen, der das Recht fordert und sich als Auftrag stellt, das freie Wort in der Kirche zu verteidigen und zu verkünden, gilt jener Weg, den Emmanuel M o u n i e r vorschrieb, ein Mann, der in Frankreich auf eigene Gefahr das freie Wort proklamieren wollte Und der uns tragischerweise fehlt:

„Ein christlicher Vorkämpfer ist ein Mann, der stets auf den Schritt der Truppe achtet, der mit ihr im gleichen Schritte geht, der gegebenenfalls ermahnend und erklärend wirkt, der sich aber nicht allein entfernt, denn er ist eines Volkes und eines Lebens. Fern von ihnen — und sei er hundertmal im Recht — wird sein Verstand in ihm vermodern und irre werden. Er wird verworfen werden wie ein leerer Schlauch, er, der vielleicht Hoffnung und Erwählung war. Das ist die geheimnisvolle Solidarität zwischen dem Volk und seinen Stafetten. Wolle Gott — und die Einfachheit unserer Herzen —, daß sie in diesen Zeiten der Unrast niemals gebrochen werde.“

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