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Wem dient die Literatur?

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Die Generalversammlung des polnischen Schriftstellerverbandes hat nach einerstürmischen Sitzung in diesen Tagen Jan JozefSzczepanski zum neuen Präsidenten gewählt. Der 1919 in Warschau geborene, auch im deutschen Sprachraum bekannte Schriftsteller bedankte sich mit einer mutigen Rede. Im Folgenden bringt di FURCHE, leicht gekürzt, ein Essay aus seinem Band,, Vor dem unbekannten Tribunal" (Suhrkamp- Verlag, Frankfurt/Main).

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Die Generalversammlung des polnischen Schriftstellerverbandes hat nach einerstürmischen Sitzung in diesen Tagen Jan JozefSzczepanski zum neuen Präsidenten gewählt. Der 1919 in Warschau geborene, auch im deutschen Sprachraum bekannte Schriftsteller bedankte sich mit einer mutigen Rede. Im Folgenden bringt di FURCHE, leicht gekürzt, ein Essay aus seinem Band,, Vor dem unbekannten Tribunal" (Suhrkamp- Verlag, Frankfurt/Main).

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Wem dient Literatur? Was soll sie sein?

Joseph Conrad hat ihre Funktion be­stimmt als „der sichtbaren Welt Ge­rechtigkeit widerfahren lassen“. Der sichtbaren, also nur der den menschli­chen Sinnen zugänglichen. Anschei­nend legt diese zweifellos mit Nach­druck erwähnte Begrenzung ganz nüch­tern die Prozeßbedingungen fest, läßt allein die Zeugnisse nachprüfbarer Konkreta zu und schließt jegliche meta­physischen Spekulationen aus. Doch Conrads Formel garantiert keineswegs jene ruhige Selbstgewißheit, die man sich durch den Aufenthalt in einem be­kannten und genau inventarisierten Raum aneignet. Man weiß vor allem nicht, welcher Rechtskodex hier die Ba­sis der Gerechtigkeit ist und wo die Be­rechtigung des Richters ihre Quelle hat. Denn wenn er Urteile über die Dinge der sichtbaren Welt fällt, muß er selbst über dieser Welt stehen - wie jeder Richter außerhalb des Prozesses steht, den er entscheidet - und zudem mit ei­nem untrüglichen Maßstab für Wahr­heit und Lüge versehen sein. Ist das Be­ziehen einer solchen Position keine Usurpation? Auf jeden Fall eine Mis­sion impossible, was Conrad im übri­gen bestimmt sehr genau wußte. Doch wußte er auch, daß die Usurpation die Berufung des Künstlers ist.

D ie Codices, nach denen wir leben sowohl die in Paragraphen gefaßten Rechtsvorschriften als auch die in Ver­sen niedergeschriebenen der offenbar­ten Wahrheiten -, werden im Dienst der Alltagsgeschäfte trivialisiert. Es gab stets (und wird stets geben) das Gefühl für die Bruchstückhaftigkeit dieser Normen, ja für ihre Starrheit ange­sichts des unberechenbaren und nie bis ins Letzte erfaßbaren Elements der Wirklichkeit. Die Literatur muß sie in Frage stellen, und sei es nur, weil eine ihrer ersten Pflichten der Kampf um die Souveränität des Menschen ist, weil sie ihn herausholen muß aus der Sklaverei der Pakte, die er immer wieder -je nach den Umständen - mit sich selbst und mit der Welt schließt. Jeder weiß, wozu Pakte dienen. Sie schaffen den An­schein eines Sinnes unserer Existenz. Sie sind eine Art Bühnenkulisse, ein künstlicher Horizont; er verhüllt den wahren Horizont, zu dem aufzublicken wir nicht den Mut haben. Um uns im Leben sicher zu fühlen, begrenzen wir unseren Gesichtskreis und bemühen uns, diesen kleinen Ausschnitt mög­lichst eng mit Pflichten, Verboten und Feststellungen zu besetzen, die keine weiteren Fragen erfordern. Das ist un­sere sichtbare Welt. Aber wenn in die­ser Welt etwas Wichtiges geschieht, wenn darin dramatische Veränderun­gen vorgehen - und wir Menschen ha*- ben die Ehre einer anderen Geschichte als der biologischen Fortdauer der Ar­ten -, dann deshalb, weil wir nie bis zum Schluß daran glauben können, daß un­sere Fiktionen allein Rechtsgültigkeit besitzen können.

Welche Gerechtigkeit meinte Con­rad? Er beanspruchte doch nicht das Recht, sich auf Mächte zu berufen, die seiner Erfahrung unzugänglich wa­ren. Das hätte ihm seine Redlichkeit nicht erlaubt. Andererseits indessen er­laubte ihm sein Gefühl für Würde, die­ses geheimnisvolle und erhabene Erbe

des Menschen, nicht, mit dem Leben in einer trivialen Welt einverstanden zu sein. Die Parabel der Reise durch uner­meßliche Räume, immer angewiesen auf die Launen blinder Naturkräfte, war für ihn keine rhetorische Fiktion. Er wußte sehr wohl, was menschliche Kleinheit ist, und wußte auch, daß diese Kleinheit in sich die Chance der Größe birgt. „Der sichtbaren Welt Gerechtig­keit widerfahren lassen“ - das verstand er als Beurteilung ihrer Angelegenhei­ten vom Standpunkt dieser Chance aus. Doch was ist das Wesen dieser Chance? Worauf beruht sie?

Hält man Conrads Entscheidung ein, die Grenzen der sichtbaren Welt nicht zu überschreiten, kann man feststellen, daß das Wissen um die Existenz dieser Grenzen für ihn eine grundsätzliche Sa­che gewesen sein muß. Die Seefahrt- Analogie erweist sich hier erneut als hilfreich. Die Einsamkeit des See­manns inmitten eines gleichgültigen Ozeans konnte kein sinnloses Verirrt­sein bedeuten. Sie war eine Probe. Eine Probe auf Sinn und Ordnung, die wir in uns tragen, ohne ihr Wesen zu kennen. Es ist etwas, das wir mit den Wörtern Ehre, Treue und Mut benennen, nicht aber mit dem Wort Nutzen.

In Conrads Formel Präzision zu su­chen, scheint ein hoffnungsloses Unter­fangen. Doch steckt in ihr der blen­dende Glanz der Intuition. Denn er hat sie als Ganzes aus tiefster, persönlicher Erfahrung abgeleitet. Aus jenem Be­wußtsein der Konfrontation. Und er hat wohl nichts anderes als dieses Be­wußtsein zum Ausgangspunkt seines Kodex gemacht. Der sichtbaren Welt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, besteht folglich darin, sie in der drama­tischen Perspektive jener Proportion zu bemerken, die, unsere unendliche Ge­ringfügigkeit enthüllend, dem Men­schen Demut gebietet und ihm zugleich das Recht zum Stolz verleiht.

Auf die Frage, ob ich gläubig sei, konnte ich weder mit einem schlichten Ja noch mit einem schlichten Nein ant­worten. Das macht mich verlegen, weil wir im allgemeinen annehmen, solche schlichten Bejahungen oder Verneinun­gen seien Beweise für unsere innere Reife. Ich hege jedoch den Verdacht, daß sie sehr viel öfter ganz einfach Re­signation bedeuten, die Wahl einer ver­einbarten Konvention anstatt einer Überzeugung. Man akzeptiert sie wie Ausweise eines Verbandes oder einer Partei, weil der Mensch irgendwo hin­gehören muß, um nicht der Verein­samung zu verfallen. Sehr oft also ist der Charakter dieser Optionen aus­schließlich gesellschaftlich oder poli­tisch, womit man nur einverstanden sein kann, wenn man gleichzeitig mit der Zufälligkeit unserer Existenz ein­verstanden ist. Doch auch wenn man es im Namen der Vernunft ablehnt, sich für irgendeine Seite zu entscheiden (da ja eine Aussage über Dinge, die die Möglichkeiten unserer Vernunft über­schreiten, ein sinnloses Unternehmen sei), bedeutet das eine Kapitulation, die von Kleinmütigkeit und Bequemlich­keit diktiert wird. Das Bekenntnis „credo quia absurdum“ erfordert eine heroische Demut, zu der wir immer we­niger fähig sind, und Conrads stolzes „Handle so!“, verbunden mit dem Ver­zicht auf das Recht zu metaphysischen Tröstungen, geht über die Kraft der meisten von uns. Außerdem untergräbt der moderne wissenschaftliche Skepti­zismus, als Einstellung weit über die Kreise hinaus verbreitet, die sich wirk­lich mit der Wissenschaft befassen, so­wohl den Glauben wie auch den pro­grammatischen Unglauben. Wir leben in Zeiten einer großen Enttäuschung.

Ja, wir sollten doch die glücklichen Erben der Hoffnungen jener aufgeklär­ten Propheten sein, die die Bande des dunklen Aberglaubens der Vergangen­heit zerbrachen und der Vernunft Al­täre errichteten. Unsere Zeiten sind die

Zeiten, da sich ihre Utopien erfüllen sollten. Muß man hier wiederholen, daß weder die Erforschung der Ge­heimnisse des Atommodells noch das Verlassen der Bahn unseres Planeten uns klargemacht hat, wer wir eigentlich sind und welchen Sinn unsere Existenz hat? Und daß unsere herrlichen Errun­genschaften uns noch nicht die Kunst gelehrt haben, ein Leben zu führen, wie es vernünftigen Wesen gemäß ist?

W ir sprachen über die Literatur. Über ihre Berufung. Und hier, im Be­reich dieser Fragen, dieser Verunsiche­rungen, sind wir dem Kern der Sache wohl am nächsten. Darum lenkt die Frage, ob ich gläubig sei, nicht vom Thema ab. Zumal sie keine formal be­stimmte Denomination betraf. Es geht nicht um die Heilige Dreifaltigkeit, die Unbefleckte Empfängnis oder die Auf­erstehung des Leibes, um keines von je­nen Dingen, über die der Verstand (und mit ihm auch der gute Wille) des mo­dernen Christen stolpert, sondern um etwas Universales und im Menschen Ursprüngliches. Um eine elementare, keiner Reduktion unterliegende Hal­tung. Ich glaube, diese Situation ist in gewissem Umfang typisch. Die Ära der auserwählten Völker, des ausschließli­chen Erbes einziger und unerschütterli­cher Wahrheiten geht endlich zu Shde. Unsere zerstrittene Welt mit ihren fa­natischen Antagonismen ist jedoch schon zu klein, um sich der Erosion des Relativismus mit Erfolg zu widerset­zen. Haben wir vielleicht alle ein wenig teil an einer richtigen Vorahnung? Oder sind vielleicht die Wahrheiten der ande­ren wahrer als unsere?

Wir drängen uns heute nicht danach, Gesetze zu geben oder zu richten oder auch nur zu belehren. Vielleicht weil man in letzter Zeit zu oft versucht hat, uns allerlei Botschaften in den Mund zu legen, und sicher auch, weil unsere Zeit immer schneller läuft und die Anstren­gung, die nötig ist, um uns in der Strö­mung zu halten, die Einnahme einer hieratischen Haltung erschwert. Wir gehören mehr zur Gattung der nervösen und eingeschüchterten Zeugen; Wir spüren, daß die Welt ohne unsere Aus­sagen die Form verliert. Ohne sie platzt die Kontinuität der Erinnerung (trotz der Archive voll registrierter Fakten), stirbt die Phantasie ab, durch die wir in der Wirklichkeit verständliche Muster erkennen, und bleiben die utilitären Er­fordernisse des Augenblicks die einzige moralische Sanktion. Doch die Last der Verantwortung schreckt uns.

]ßezeugen heißt, sich um die Fest­stellung der Wahrheit zu bemühen. Wäre sie bekannt, wären wir nicht nö­tig. Und wir sind nicht nötig - sowohl für jene, die meinen, Mühe lohne sich nicht, als auch für jene, die glauben, sie besäßen die Wahrheit, und die von uns nur Bestätigungen erwarten. Wir müs­sen die Lächerlichkeit riskieren, denn wir kennen Unsere Ratlosigkeit und ver­lieren dennoch nicht die Hoffnung.

Ich schreibe diese Worte nicht ohne Furcht und mit einem vorsichtigen Zö­gern, weil ich mich wie jemand fühle, der in einem dunklen Zimmer einge­schlossen ist, langsam auf den Zehen vorangeht und Wände und Gegen­stände mißtrauisch abtastet. Ich weiß um die Unverschämtheit, deren ich mich schuldig mache, wenn ich bei der Darstellung dieser Situation die Mehr­zahl benutze. Und dennoch liefert die Literatur, die ein Zeugnis für unsere Zeiten ablegt, immer wieder Beweise Tür diese angespannte Erwartung. Zu­sammen mit Samuel Beckett warten wir auf Godot. Jeder auf seine Weise. In Demut oder Erregung, in Hoffnung oder Angst, mit Resignation, Unge­duld, Verzweiflung oder Zorn - und häufig mit dem Lächeln der Herausfor­derung oder des Spotts.

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