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In Todesstaub gebettet

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Der Bitte der FURCHE, meine spontanen Gedanken über Jesu Verlassenheits-Schrei am Kreuz zu formulieren und dabei das Bewußtsein aus ökonomischem Wissen und Industriedienst einzuschließen, komme ich pflichtschuldig, aber nur mit dem Vorwort nach, daß mich außer tiefer Liebe zum Stifter unserer Religion nichts zu solcher Ausdeutung meines Credos befugt.

Unmittelbar nach seiner Taufe im Jordan und dem vierzigtägigen Fasten mit der dreifachen Versuchung, seinen Genius in den Dienst immanenten Stolzes zu stellen, begegnete Jesus über Vermittlung Johannes des Täufers seinen ersten Jüngern. Ihre große Verwunderung über seine Weisheit beantwortete er mit seinem vollen Anspruch des Messiastitels Menschensohn. Dieses war das erste der vielen Zitate, mit denen er sein erleuchtetes Verständnis der alten Schriften bewies. Denn der damals schon fünfhundertjährige Name für die Messiaswürde entstammt den Weissagungen des Propheten Daniel.

Es folgten das erste Wunder auf der Hochzeit zu Kana, der erste Gang nach Jerusalem, die Umstoßung der Geldwechslertische, die aufsehenerregende Heilung des Sohns eines Kapharnaumer Beamten und sodann wohl die größte, mutigste, im tiefsten Wortsinn gottbegnadete Tat in der Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth. Inmitten der Sabbatgemeinde erhob er sich zum Zeichen, daß er aus einem von den heiligen Büchern vorlesen wolle. Da wurde ihm das Buch der Weissagungen des Propheten Isaias gereicht. Als Jesus folgende Stelle rezitiert hatte: „Der Geist des Herrn ist über mir, weü er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen das Evangelium zu predigen, zu heilen, die zerknirschten Herzens sind, den Gefangenen Erlösung, den Blinden das Gesicht zu verkünden, die Geschlagenen frei zu entlassen“, rollte er das Buch zu, gab es dem Diener zurück und setzte sich. Alle Anwesenden blickten gespannt auf ihn. Er sagte: „Heute ist diese Schriftstelle vor Euch in Erfüllung gegangen.“

Die rückhaltlose Einforderung des damals fünfhundertjährigen Messiastitels Daniels, Menschensohn, und des damals siebenhundertjährigen Messiastitels aus der Prophetie des Isaias durch den dreißigjährigen nicht ordinierten Prediger war und ist eine solche unsägliche intellektuelle und mentale Herausforderung, daß ihn daraufhin nicht nur seine Mitbürger aus Nazareth vor die Stadt trieben, sondern ihm auch die große Mehrheit seiner Erdenzeitgenossen nicht folgen konnte, und auch alle profane Weltgeschichte seither ratlos, fassungslos, wortlos vor diesem Angelpunkt der Identität menschlicher Gattung steh}:: gewähren diese Offenbarungen aus dem Drama Jesu die unübersteig-bare Konstitution menschlicher Qualität durch den Heimfall in die personale und kreative, souveräne Totalität Gottes, die absolute Letztfassung und Vollendung der im Menschen grundgelegten Potentiale, unüberbietbar für alle Zeiten, oder sind sie nur eine regional, historisch und literarisch relativierbare Metapher innerhalb der humanen Evolution?

Ist Jesu allererstes Wort, auf freiem Feld zu unbekannten Fischern gesprochen, wahr: „Ihr werdet von nun an den Himmel offen und die Engel Gottes auf-und nieder steigen sehen über dem Menschensohne“?

In geistiger Hinsicht ist sein Wort wahr, sein Anspruch erfüllt. Die Dramaturgie und Metaphorik seiner Existenz ist als aktive und reflektorische Selbstsetzung der totalen Entfaltung menschlichen Wesens durch die dialogische Osmose mit den durch Jesus erschlossenen Räumen Gottes evident.

Jesus ist der objektiv unüber-schreitbare Höhepunkt der humanen Geschichte. Seine emanzi-patorische Sprengkraft hat jenes Reflexionspotential bewirkt, von dem alle Verantwortung, Differenzierungsfähigkeit, Sensibilität für Wahrhaftigkeit und Befähi-, gung zu selbstbestimmten Taten ausgehen, die seither unauslösch-bar aller Bewährung vorgegeben sind und nicht nur die Schicksale seiner Anhänger, sondern auch jene seiner Feinde bestimmen. Jesus hat in einer uns gar nicht nachvollziehbaren, nie auslotbaren, nie genug zu würdigenden religiösen Genialität jenen Rest unsicherer Reserviertheit, abwehrender ritualisierter Erwartungsgestik, stilisierter, sich selbst genügender Sehnsucht, wie sie in den ihm vorliegenden Texten und dem Verhalten seiner Mitmenschen erkennbar wurden, beseitigt. Er hat alle Vorbereitungsphasen als erfüllt erkannt und unter realem Einsatz seines Lebens die uralten Prophetien wahr gemacht, den Himmel aufgerissen, die Gottessohnschaft für sich und damit für alle radikal verwirklicht. Der Himmel ist seither offen, und er bleibt es mit allen Folgen. Jesus hat das „Reich der Gnade und Wahrheit“ gestiftet. Aber er hat es nicht geschaffen. Im Unterschied zwischen „stiften“ und „schaffen“ liegt unser eigenes beseligendes Freisein.

Dies ist aber auch eine Drohung. Solcher Befreiung göttunmittelbarer Freiheit gestattet keinen spitzfindigen Vorschriftenkatalog, keine unterran-gigen Rechtfertigungsmechanismen. Darin lag Jesu Konflikt mit den herrschenden Hohenpriestern. Er sah die Vollendungsmöglichkeit der im unerlösten Menschen noch schlummernden Begabung; jene mißtrauten solcher nur um den Preis der Abstraktion, des Zugangs zum reinen Sinn, auf purer Gottes- und Nächstenliebe zu begründenden Autonomie - die freilich alleinige Grundlage menschlicher Würde und personaler Erhöhung ist. Selbstverständlich hatte Jesus recht. Aber die Vorsichtigen, die Mißtrauischen, jene, die .JControl-le vor Vertrauen“ setzen, die Menschenverächter, die Machthaber des Synedriums und ihre Nachfolger bis heute häufen leider unzählige Belege für ihre zynische Sicht an.

In empirischer und profaner Hinsicht hat sich Jesu Entwurf nicht erfüllt. Den diesen Offenbarungen und Zeugnissen zu dankenden Projektionen entsprach und entspricht kein einziges aller etablierten Systeme, keines der festgeschriebenen Regelwerke zur Steuerung von Gesellschaft und Wirtschaft. Er konnte die Welt von ihrer unsäglichen Bosheit und Tücke nicht befreien. Und auch jene, die ihm nachfolgen, können es nicht.

Daß die Welt mehr als neunzehn Jahrhunderte nach seinem Auftreten, trotz eindrucksvoller Dokumentation hierüber, in einem Zustand ist, daß ein Christ wie der Franziskanerpater Maximilian Kolbe zum Heiligen nur wird durch das Martyrium im KZ-Hungerbunker mit der Benzintodesspritze—und alle anderen Heiligen standen in vergleichbarer Prüfung —, verhindert offensichtlich erfolgreich das Letztziel, den Endzweck aller Heiligung in Jesu Namen. So kann es nicht gemeint gewesen sein. So denen, die ihn lieben, nicht zugedacht gewesen sein. Der Dialektiker Theodor Adorno versteht Auschwitz nicht als „Zwischenfall der Menschheit“, sondern als „metaphysisches Ereignis“...

Wenn also selbst im Hinblick auf die gesegnetesten Christusjünger von einer immanent wirksamen Verwandlung der Zustände nicht die Rede sein kann, sondern vielmehr von einer erst vor christlicher Denkschärfe und Opfergesinnung vollends zutage tretenden Bösartigkeit dieses Geschlechts gesprochen werden muß, dann beginnt sich erst das zwischen Jesus und seinen Mördern abgelaufene Drama in aller kosmischen Abgründigkeit und würgenden Aktualität voll darzustellen.

Millionen subjektiv redliche und tapfere Existenzen werden von den Maximen etablierter Machtstrukturen bezwungen, selbst die plakativ irgendeinem Humanismus huldigenden Verfassungen, in ihrer fortschrittlichsten Ausprägung der Liberalität verpflichtet, ermangeln des Willens und der Fähigkeit zur Bergung der konstitutiven Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Von den vielen Beispielen nur eines: ein Interview mit einem zwanzigjährigen Rotchinesen in der „Wiener Zeitung“, Lesezirkel 17/1986: „Jetzt würde ich am liebsten in den Krieg ziehen, gegen den Rest der Welt kämpfen... das war' was!... Weü ich nicht mehr weiß, wo ich hin soll in meiner Wut. Mein Leben ist doch keinen Groschen wert... Fürs Vaterland zu sterben, das macht wenigstens Sinn, heutzutage macht nichts mehr einen verdammten Sinn.“ Dieser rabiate Nihilismus ist fraglos repräsentativ für die Pathologie der unerlösten Menschheit.

Die Sche'instabilitäten vor polemisch errichteten Feindbildern, die fiktiven nationalen, juristischen politischen Abgrenzungen und Ausgrenzungen, die notorische Selbsterhöhung auf Kosten anderer mit durchaus kannibali-stischen Zügen, die Preisgabe vieler individueller Anlagen an die Effizienz der Gewaltausübung sind Realität eines Weltlaufs, der sich als Resultierende ■ ines Dutzends festgeschriebene ■ Zwangsund Wahnvorstellungen zeigt.

Generationen verblendeter, verführter, ihrer Selbstbestimmung beraubter Menschen, ungeliebt, unversorgt, in den korrupten Abfolgen zu Verbrechen getrieben, irren über diese Erde und sinken als Zerrbilder der in ihnen angelegten lebensträchtigen Tugenden, als vernichtete göttliche Entwürfe ins Grab. Ihre Verlorenheit, Verstiegenheit, Verbohrtheit, ihre Stummheit, Hilflosigkeit, ihre Ängste - dieser Raub an der Schöpfung kann nur der unvorstellbaren Barmherzigkeit Gottes überantwortet werden, sollen nicht Verzweiflung und Raserei vollends obsiegen.

Unabweisbar ist die Einsicht einer permanenten Widerlegung aller so teuer bezahlten humanen Entwürfe. Unübersehbar ist die sich stets wieder aufrek-kende Entfesselung martialischer Insuffizienz der Gattung. Das Grinsen der Pragmatiker triumphiert. Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik entbehren wirksam übergreifender Endzweckformulierungen. Die Disziplinen arbeiten eigensinnig vor sich hin. Unmäßige intellektuelle und materielle Verschwendung kennzeichnen die Zivilisation. Keiner kann nachgeben, keiner loslassen, abstruse Werke der Ubergebühr werden geübt, das Naheliegende, jedem guten Herzen Offenkundige, bleibt blok-kiert. Die Weltbank berichtet soeben, daß die 730 Millionen Mitmenschen nicht wegen fehlender Nahrungsmittel, sondern wegen Geldmangels hungern. Aber unsere bornierten Systeme — ho-munculi juristisch isolierten und virulenten Stolzes — perpetuieren nur sich selbst. Ein heilloses, egoistisches, eitles Gespreize, das die geistigen Voraussetzungen für jene technisch-ökonomische Innovation verhindert, die den Einsichten, Fähigkeiten und Tugenden jener Abermillionen gutwilliger Einzelmenschen entspräche, die in den blinden, mechanistischen, jeder Erlösung unzugänglichen Systemen gefangen sind.

Die herrschenden Planungsund Rechnungssysteme, die Bilanzordnungen und Währungsgesetze, die technischen Normen und internationalen Vertragswerke sind autistische, in-' 'trovertierte Phantasmagorien, sind unabsehbar weit von einer zutreffenden Abbildung der in den Menschen angelegten Bedürfnisse und Qualitäten entfernt. Hochherzige, geniale Konzepte erlöster und produktiver Brüderlichkeit bleiben außerhalb jeder offiziellen Strategie. Weltwirtschaftsprognosen und Außenhandelsplanungen nehmen bekanntlich alljährlich in einer nordamerikanischen Bürgerumfrage ihren Anfang, die erhebt, wie viele Konsumenten sich dort im nächsten Jahr ein neues Auto zulegen wollen... Uber den Auto-umsatz die Stahlproduktion, die Zulieferungsbeschäftigung gelangt man zur Arbeitsplätzeschätzung und zur Lohnsumme, zu der sonstigen Nachfrage- und Außenhandelsstimulierung.

Die Initialinformation ist freilich in ihrer tragischen Banalität gar nicht zu unterbieten. Eine qualifizierte, normative, für die Lebensziele und Arbeitsopfer Verantwortung tragende, über die Kapazitäten, Ressourcen und Bedürfnisse souverän und liebevoll wie ein guter Hausvater disponierende, die Menschheit wahrhaft repräsentierende Geistigkeit im Sinne des hier skizzierten, von Jesus implementierten Anspruchs kann nicht konstatiert werden. Dieser Satz begründet und erläutert das willkürliche Todesurteil für gegenwärtig 450 Millionen unschuldiger Mitmenschen. An eine Ordnung, Kultivierung, Befriedigung, Beseligung der Erdenbewohner durch das Einwirken von Gnade auf die praktischen Verhaltensweisen und Vorgänge wagt man aus selbstkritischer Illusionsangst gar nicht zu denken.

Ein anderer Befund der Weltverhältnisse im zwanzigsten Jahrhundert nach Jesu Erscheinen wäre eine Fälschung.

Die Unaufrichtigkeit, die herrlichen Gedanken und Worte über die Auferstehung — die ich hörend und schweigend ehre - mit gegenwärtiger Daseinsnot irgendwie textlich zur Deckung bringen zu wollen, begehe ich auch zu Ostern nicht.

Nun gibt es außer der völlig überzeugenden Position Christi, die eingangs als für immer unüberbietbar belegt wurde, ein zweites Unterpfand für den Sinn aller Hoffnung und unbeirrbaren Arbeit an der Verbesserung der Welt, der Sensibilisierung der Systeme der Information der Menschen: die Augenscheinlichkeit des Leidens. Leiden signalisiert das Transzendieren des herrschenden Zustands, die Rückprojektion von einem bereits gesehenen, verstandenen Vollkommenen her. Leiden bewirkt die Tendenz zu seiner Uberwindung. Würdig Leidende, sich der Rache, des Fluches, neuerlichen Unrechts enthaltende Büßer also, schaffen Heilungspotential.

Es hieße Jesus unterschätzen, ihm eine leichtfertige Meinung über das Durchsetzen seines ihm überklar als zum Vollzug überantworteten Messiasanspruchs zu unterstellen. Sein energischer, visionärer, sich zur leidenschaftlichen, unverzögerbaren Sohnschaftserfüllung beschleunigender Lebenslauf, seine allen Messiaskriterien zugeeignete Selbstopferungsbereitschaft, schließlich die folgerichtige Uberantwortung seines Weiterwirkens an den Heiligen Geist sind von überwältigender Größe und Wahrhaftigkeit geprägt. Es gibt keine vitaler wirkende Dramaturgie, kein überzeugenderes „Arrangement“ von erfolgreicher, siegreicher totaler Erfüllung und Vollendung eines Auftrags bei gleichzeitiger Würdigung, ja Heiligung der existentiellen Evidenz aller Unvoll-kommenheit, des Scheiterns. In der „Strategie“ Jesu ist die grenzenlos radikale Einlösung der Himmelssehnsucht ebenso verwirklicht, wie die Rechtfertigung unseres ratlosen, schmerzhaften realen Lebens und Leidens durch seine eigene Verzweiflung. Denn selbst sein Todesschrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ ist der Sieg seines Gehorsams vor dem Geist:

nun griff er sogar tausend Jahre zurück und erfüllte die vorausgesprochene Messiasklage nach dem König und Psalmisten David mit diesem Anfangsvers des 21. Psalms. Auch der Durstruf und die Essiglabung sind Zitate aus Davids 68. Psalm.

Jesus hat alle vor-geschriebe-nen Messiaszeichen erfüllt, das Messiasbild freilich von allen Schlacken befreit; er hat sogar die vorgesehenen Worte gesprochen, aber seinen Auftrag freilich nicht „gespielt“, sondern durchlebt, durchlitten, durchstorben.

Unser einziger sicherer, nicht angemaßter Vergleich mit Jesus ist der im Leid. Wenige Zeilen weiter, in dem von ihm im Todesschmerz zitierten Verlassenheitsruf des damals tausendjährigen, heute dreitausendjährigen Davidpsalms 21, findet sich diese Klage an Gott: „Du hast mich in Todesstaub gebettet.“ Was bedeutet es, wohin weist es, daß wir uns auch heute in solchem Gebet—ich bitte die naive Formulierung zu verzeihen: am Herzen Jesu - wiederfinden? Was diese Tatsache beweist, ist das konstruktive Geheimnis des Christenlebens.

Der Autor ist Direktor in der Investitionsgüterindustrie, Lehrbeauftragter für Unternehmensplanung an der Wirtschaftsuniversität Wien und an der Universität Innsbruck sowie Autor der Romane „Kasuar“ (1979) und „Wüstungen“ (1985). beide im Verlag Styria, Graz.

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