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Frauen unter dem Kreuz

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Es standen aber beim Kreuz seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleopas und Maria von Magdala. Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er hebte, sagte er zu seiner Mutter: .Frau, sieh da, dein Sohn!' Dann sagte er zu dem Jünger: .Sieh da, deine Mutter!' Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.” (Joh. 19,15-27)

Die geschüderte Szene gehört in jene Stunde, die der Herr nach dem Zeugnis des Evangeliums „meine Stunde” nennt. Diese Stunde, gekommen ebenso aus Freiheit wie aus Bestimmung, ist die Vollendung. Vollendung des Lebens durch Lebenshingabe an Gott und die Menschen und damit wohl auch Vollendung der Zeit und einer Schöpfung, deren Vollendung unterbrochen worden war durch das „Essen” und „Erkennen” (durch das Vollbringen) eines Menschen und eines Menschentypus, dessen Speise es durchaus nicht war, „den Willen des Vaters zu tun”.

Im Laufe der Geschichte jener Völker und Kulturen, die Kenntnis von den Evangelien erhielten, wurde selten öffentlich die Frage reflektiert, wozu deren Botschaft im Blick auf die Gesellschaft „tauge”. Natürlich, die, .Heiligen” haben ihr Maß vom „Geist Jesu Christi” verwirklicht, darin wurden sie auch - post mortem — anerkannt. Auch wird es viele Personen gegeben haben, deren Lebenseinsatz in ihrem Wirkungskreis Infarkte des Zusammenlebens verhindert oder andere Menschen inspiriert hat.

Aber, nehmt alles nur in allem: der Kampf ums Uberleben, der Kampf um die besseren Lebensbedingungen, der Kampf um die Macht, der Kampf um Rechte und Freiheiten, um diverse Emanzipationen, der hat sich von den Evangelien eher unbeeindruckt abgespielt. Auch das, was man gern als seinen eigenen Bereich ansieht, die Kultur, die Kunst, Theorien und Religionen, sind da nicht ausgenommen. ,

Das johanneische Evangelium weist in besonderer Weise auf den Menschen, wie er in der Gestalt der Frau sich darstellt. Müßte da nicht der späte Mensch eines zu sich kommenden .Abendlandes” die Ohren spitzen? Sogar von der Religion emanzipierte Frauen können nicht überlesen oder überhören, daß auch in allen anderen Evangelien nach der Kreuzigung Frauen als erste Zeugen des lebenden Christus genannt werden, wenn auch nicht vom damaligen jüdischen Recht anerkannt. Frauen gehörten schon zum Kreis der Jünger, in den synoptischen Evangelien sehen sie den furchtbaren Vorgang der Kreuzigung „von ferne”, distanziert vom grausamen Handwerk der Männergesellschaft.

Was die .Absicht” der Quellen der Evangelien und auch ihrer Verfasser im einzelnen gewesen sein mag, ist sicher ein Thema für die Bibelwissenschaft. Der einfach Lesende kann die Bedeutung der Frau in der Umgebung des Herrn nicht übersehen.

Eine für endliches Erkennen letzte Undurchschaubarkeit des Lebens- und Todesmysteriums spiegelt sich in einer Unaufre-chenbarkeit der Zuordnung und Beziehung von Mann und Frau, Eltern und Kindern. Nur im Bereich der Arterhaltung erscheint sie einfach und durchschaubar, weil von der Zielsetzung her deutbar. Im Bereich der personalen Partnerschaft von Mann und Frau, Elternteüen und Kindern sind wir vor Rätsel gestellt, die auch eine (selten) sorgfältige Analytik nur vermehrt, nicht vermindert.

Das Buch Genesis kennt Erwachen des Bewußtseins nur als ein fehlgeleitetes, verführtes Bewußtsein. Aus ihm differenziert sich das Leben der Menschen, entstehen Kultur des Acker- und Städtebaues, das Handwerk, der Krieg, die eskalierende Vergeltung — und die Kunst. Mit dem Zwang zum Feindbüd entsteht aber noch ein anderer „Brauch”, der kulturgeschichtlich für die Zeit der Entstehung der Ackerbaukultur bezeugt ist: das Menschenopfer. „Natürlich” steht an der Spitze des rituellen Menschenopfers die Opferung des Feindes, der Kriegsgefangenen. An der Oberfläche des Bewußtseins ist die Motivation nicht der Haß. Es sind magische Vorstellungen, von der Günstigstimmung der Götter bis zur Erwartung geheimnisvoller Kraftübertragungen. Dieses grauenhafte Amalgam anscheinend verschiedener irregeleiteter Ziele und Zwecke führte aber auch zum Opfer von Menschen aus den „eigenen” Reihen: Kinder, Jungfrauen, gelegentlich Priester oder Priesterinnen, alte Könige, ausgediente Medizinmänner.

Die rituellen Menschenopfer sind selten geworden. Die Menschenopfer sind gebheben. Die von der jeweiligen Gesellschaftsordnung sanktionierten oder tolerierten und die nicht sanktionierten. Die blutigen und die unblutigen. Im Bereich der Völkerfeindschaften der Politik, der Weltanschauungen und der Wirtschaft. Gespeist alle freilich von einem gemeinsamen Wahn.

Die Verachtung des Mitmenschen ist nur ein erster Indikator. Verachtung seiner selbst mag ein zweiter sein, Verachtung des Menschen überhaupt. Warum aber, in Gottes Namen?

Es mag sein, daß alles einen ganz harmlosen Anfang hat: den bewußten oder unbewußten Willen der Gattung und des einzelnen, aus eigener Kraft zu überleben. Eine tiefsitzende Angst vor der biologischen und seelischen Vernichtung. Der Mensch hat als Gattung zugleich Individuum und als Individuum das Leben nicht aus sich selbst. Wer dies nicht annehmen kann, dem bleibt nur die (meist verdrängte) Verachtung des Menschen. Auch seiner selbst. Der scheinbar religiöse Mensch exerziert diese Verachtung vor dem Angesicht Gottes oder der Götter, der säkularisierte vor dem Angesicht der Gesellschaft. So tritt der Mensch zum Kampf ums biologische und seelische Uberleben an.

Untrennbar damit verknüpft ist die Notwendigkeit, daß die dialektische Einheit von Lebens- und Zerstörungswille sich nicht gegen die eigene Gruppe oder das eigene Ich richtet. Die Schrift nennt den Teufel, diesen Archetypus des gescheiterten Geistes, den Ankläger der Menschen. So tut auch der Mensch als einzelner und in der Gruppe. Er verklagt, er teilt die Schuld zu: Völkern, Rassen, Klassen, politischen Systemen, Regierungen, der Wirtschaft, den Institutionen der gesamten Gesellschaft und — aus Resten eines un-entf alteten Glaubens — Gott.

Menschen und Menschengruppen, die nicht mehr diese zweifelhafte, im Grunde primitive Kraft haben, anderen Schuld zuzuweisen, bleibt nur die Selbstanklage. Selbstanklage bedeutet Verzweiflung ohne das Wort und die Tat der Vergebung. Eben diese Vergebung aber ist aus dem Horizont der möglichen Hoffnungen eines solchen Bewußtseins entschwunden. Konsequent Nur wer vergibt, dem wird vergeben werden. Uberleben und Opfern ist das Gesetz eines Lebens, das aus eigenen

1 Gesetzen zum Leben antreten wollte — nicht aus Gnade. Ein Gesetz, vor dem kein Bereich dieses Lebens verschont geblieben ist, auch nicht der Bereich der Religion und auch nicht der Bereich irgendwelcher gesellschaftlicher Bewegungen. (Den Heiligen sagt man nach, daß sie nur sich selbst angeklagt haben und - dennoch überlebten. Sie glaubten Gnade.)

Gibt es einen Ausweg aus diesem Gesetz? Jeder in diesem Aon Geborene ist ihm unterworfen, vollzieht es auf seine individuelle, ihn kennzeichnende Weise.

Der persönliche und kollektive Uberlebenswille, der Leben nach einem solchen Gesetz vollbringen muß, kann — so möchten wir vermuten — nicht anders, als in geheimster Tiefe, unterbewußt, irgendwann einmal sich gegen die Gestalt wenden, die „Sakrament” dieses Lebens ist — Symbol und Lebenswirkkraft zugleich: gegen die Gestalt der Mutter, der Gebärenden.

Der unselige Wille, dem Leben zu opfern, hat sich rituell oder gesellschaftlich toleriert allem und jedem zugewendet: dem Feind, dem Mann, dem Vater, dem Sohn der Hexe, der Jungfrau, dem Kinde, jeder Form von Außenstehenden. Der Frau als Mutter nicht.

Aus den Tiefen der Seele scheint nun in später Zeit wieder eine Stunde gekommen, da auch an diesem letzten Tabu einer verstörten Natur gerüttelt wird.

Man könnte leicht einwenden: war nicht die Frau als Mutter, als Gebärende und Nährende und Aufziehende das ritualisierte und gesellschaftlich sanktionierte Opfer schlechthin? Gewiß. Aber unter einem einzigen Blickpunkt: alles Geopfertwerden der Mutter diente nur einem Zweck: der Erhaltung eines Lebens, das sie selbst hervorgebracht hat und doch nichts daran zu ändern vermochte, daß es ein Leben wurde gekennzeichnet von Kriegen, Ungerechtigkeiten, enttäuschten Hoffnungen, versäumter Liebe und entschwundenem Glauben. Kurz: ein Leben, in dem die Boten des Todes trotz der Spuren des Glücks letztlich alles verderben. Sie, die Göttin und oberste Priesterin des Lebens, die Priesterin der Urmutter Erde, ist von allen

Gottheiten und Priestergestalten die ohnmächtigste, weil ihre Ohnmacht sich erst im Abstieg zu den Tiefen enthüllt. Wer anders als die Frau könnte der innerste Feind der Mutter werden? Eine Frage, nicht um anzuklagen, sondern um zu verstehen. Um für uns alle, denn wir alle stehen zusammen unter diesem Gesetz, Erbarmen und Vergebung zu erbitten.

Von wem? Auch diese Frage dürfen wir nicht verdrängen.

Frauen unter dem Kreuz. Gattinnen, Mütter, die Maria aus Magdala, die nicht durch einen Mann, sondern durch ihren Herkunftsort benannt wird, und Maria, die Mutter Jesu (nur im jo-hanneischen Evangelium zum Kreuz gebracht). Und so die Heilige Schrift: Der Herr spricht seine leibliche Mutter mit „Frau” an (wie schon zu Kana, Joh 2). Obwohl jetzt „seine” Stunde gekommen war. Vielleicht: diesmal, weil seine Stunde gekommen war. Und er weist auf den geliebten Jünger (wer immer dieser war, als wer immer er gemeint gewesen sein mag zur Zeit der Niederschrift). Auf den Jünger, den sie nicht geboren hatte. Und sagte: sieh deinen Sohn. Und den Jünger, der seinem Herzen nahe war, wies er an die Frau, die ihn nicht leiblich geboren hatte: sieh deine Mutter. Die Kinder des Friedens, deren Lebensweise ewiges Leben nicht zu scheuen braucht, werden nicht aus dem Blute, nicht biologisch, nicht aus dem Wülen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes geboren. „Aus Gott”: aus seinem Geist, der so mächtig ist, daß seine Macht dem „Anfang” entspricht. Da Etwas war und nicht Nichts., Aus Gott”: aus dem „Vater”, von dem alle Vaterschaft auf Erden nur ihren Namen geliehen erhalten hat. Aber auch aus dem Sohn, der aus der Frau geboren doch notwendigerweise sein Sohn war wie kein einziges Geschöpf dieses Äons wirklich sein „Einziggeborener”, dessen Liebe alles „vollbracht” hat. Das wirkliche Leben.

Jedes Ja zum biologischen Leben, jedes Ja zum konkreten Menschen, jede Vaterschaft, jede Mutterschaft empfängt den Sinn von jener Stunde des Vollbringens des Lebens, das der zeitliche Tod nicht von der Ewigkeit scheidet, sondern in sie vollendet.

Nur die Liebe, die dieses biologische Leben mit seiner Grausamkeit und Absurdität auf sich genommen hat, kann dieses Leben erlösen. Erlöst ist nämlich, was in Liebe angenommen ist.

Noch wirkt der „Fürst dieser Welt” in dieser Zeit, wenn er auch grundsätzlich gerichtet und immer wieder der Krisis unterworfen ist.

Dieses Wirken wird deutlich in der Pathologie der einzelnen Menschen, der Gruppen und Kollektive. Eine Verkündigung der Erlösung in Worten, Handlungen und Verhaltensweisen darf Naivität nicht mit Unschuld und Wahrheit verwechseln. Anpassung an den Tagesjargon und Modeströmungen hilft eben dem nicht, dem geholfen werden soll: dem Menschen, zu dessen Unheils- und Heilsgeschichte wir alle gehören. Wenn auch das Fieber eines Patienten hinuntergedrückt werden muß, wenn die Gesamtkonstitution sehr geschwächt ist, so bedeutet es doch nur Unterdrückung des Symptoms. Jede Diagnostik, in welcher Form auch immer, muß zum Heilen führen. Dazu muß sie gründlich sein. Heilend ist aber nur die Gnade und Liebe Jesu Christi im Medium der Gemeinschaft der Kirche. Wir selbst also sind der Ort möglicher Freiheit und Verantwortung „aus Gnade und Wahrheit”.

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