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Der Triumphator

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Gleicht es nicht einer Fahnenflucht vom Schlachtfeld des gegenwärtigen Lebens, wenn wir uns der Betrachtung eines Kunstwerkes aus dem späten Mittelalter widmen? Haben unsere Hände und Herzen nicht über die Maßen viel zu tun, um die Fragen zu meistern, vor die uns ein zerstörtes und in den letzten Grundfesten wankendes Europa stellt? Aber gerade bei diesem Kunstwerk geht es trotz seiner apokalyptischen Visionen nicht um eine zeit- und weitabgewandte Beschaulichkeit, hier gilt es über die Jahrhunderte hin, den Aufruf unzerstörbarer Wahrheiten zu vernehmen, die unser Herz inmitten einer Welt beispielloser innerer und äußerer Zerstörungen mehr denn je braucht. Zumal :n der Gegenwart, in der der Mensch den Dämonen eines pessimistischen und nihilistischen Geistes in besonderem Maße preisgegeben ist, brauchen wir die großen Perspektiven, die über den Alltag und den Augenblick hinausweisen und uns dessen gewiß machen, daß trotz Tod und Teufel ein geheimer Sinn in der Geschichte waltet, der sie ihrem vorbestimmten Zjele zuführt.

Die Bilder des Genter Altars, des größter Meisterwerkes der altniederländischen Malerei im 15. Jahrhundert, klingen alle gleichsam zu einem großen „Te Deum Laudamus“ zusammen, zu einem Labgesang auf den triumphierenden Christus, auf das geopferte Gotteslamm, von dem die Apokalypse kündet: „Das Lamm wird seine Feinde überwinden, denn es ist der Herr aller Herren und der König aller Könige.“

Auf der Außenseite des Altars stehen in den beiden Nischen des Untergeschosses die Bilder des Täufers und des Evangelisten Johannes. Auf dem linken Arm hält der Täu- ‘ fer ein Lamm, auf das er mit dem rechten ‘Zeigefinger hin weist, voraus verkündigend die , Tat Christi: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Der Evangelist hält einen Kelch in der Linken, aus dem fünf Schlangen emporzüngeln, während die Rechte segnend erhoben ist. Nach einer Legende soll Johannes als Märtyrer gestorben sein, indem er den Giftbecher trinken mußte. Warum hat der Künstler von den Aposteln gerade Johannes gemalt? Keiner der Jünger hat den Sinn der Sendung seines Meisters tiefer und reiner verstanden als er, dem wir das tiefsinnige vierte Evangelium verdanken. Die beiden Johannesgestalten sind umrahmt von den betenden Figuren der Stifter dieses Altars in einer Kapelle der Sankt-Johannes-Kirdie, der späteren Kirche Saint-Bavon in Gent.

Ober den vier Gestalten des Urflergeschos- ses sehen wir die Verkündigungsszene, die sich nicht in einem feierlichen Kirchenraum abspielt, sondern im Dachgeschoß eines hohen Bürgerhauses. Die kniende Maria mit über der Brust gefalteten Händen ist ganz in den Anblick der Taube des Heiligen Geistes versunken. Ihr gegenüber kniet der Gottesbote der Verkündigung, der Erzengel Gabriel, mit einer Lilie in der Hand. Durch drei rund- bogige Doppelarkaden romanischen Stils geht der Blick aus der heimeligen Enge in die unendliche Weite. Das Evangelium von Jesus Christus hat ökumenischen und öffentlichen Charakter, es soll nicht auf engem. Raum beschränkt bleiben, sondern in die Häuser und Wohnungen der Menschen dringen und darüber hinaus bis an die Enden der Erde. Es soll das Antlitz der Menschheit und Geschichte formen.

Warum hat der Künstler den Raum von fast allen Einrichtungsgegenständen frei gelassen? Der Mittelteil des Bildes ist sogar bis auf eine Waschnische und ein Handtuch leer. Das geschah mit tiefem Bedadit. Denn der Inhalt des ganzen Altarwerkes ist das Lamm, ist Jesus Christus. Er, der die eigentliche Mitte der Welt und Geschichte bildet, ist aber noch nicht erschienen. Darum erheben sich über der Verkündigungsszene die Gestalten der Propheten Micha und Sacharja, die das Kommen des Messias vorausverkündigt haben, aber auch die die Sibyllen, um zu bezeugen, daß nicht nur die Geschichte des Alten Bundes, sondern auch die Geschidite der Heidenvölker von der Sehnsucht nach dem Kommen des Erlösers getragen ist. So ist Christus die Mitte, auf die alle Geschichte der Menschheit hinläuft.

An den hohen Festtagen taten sich die Flügel des Altars auf und enthüllten den staunenden Blicken der gläubigen Menge den in leuchtenden Ölfarben strahlenden Innen- schmuck. Während die Außenseite des Altars in die Vergangenheit weist, aus der die prophetischen und sibyllinischen Worte der Weissagung als höchste vorchristlidie Weisheit herüberklingen, lenkt das Bild des offenen Altars, unseren Blidc an das Ende aller Zeiten. Die Vision der johanneischen Apokalypse vom neuen Himmel und von der neuen Erde, die prophetische Schau von der ewigen Gottesstadt des himmlischen Jerusalem ist Wirklichkeit geworden. Der dramatische Kampf zwischen Christus und Antichrist ist ausgekämpft, der Satan und sein Trabant, das Tier aus dem Abgrund, das heißt die gottfeindlichen Mächte der Welt, die falschen Propheten und alle, die dieses Tier angebetet und sein Malzeidien getragen haben, sind endgültig in die Hölle geworfen. Babel, das die Christusgläubigen verfolgt, gequält und gemordet hat, ist für immer gestürzt. Alle Wesen der neuen Schöpfung, Menschen und Tiere, Bäume und Blumen sind vereint in der Liturgie der Anbetung des Wunders aller Wunder, des Opfers Jesu Christi, versinn- bildlidit durch das Lamm, dessen Herzblut in den Abendmahlskelch strömt. Die Schöpfung ist zu ihrem Ziele gekommen, die gläubige Menschheit ist gerettet, das Werk Christi ist vollbradit, die Sehnsucht nach dem neuen Paradies ist herriieh erfüllt.

Welch ein wunderbarer Zusammenklang 7wischen den Offenbarungen auf den ersten und den letzten Blättern der Bibel. Am Anfang des Buches der 3ücher vernehmen wir die Kunde von der Schöpfung der Welt, die nach dem Sechstagewerk Gottes auf den siebenten Tag, den Sabbat, den Feiertag ausgerichtet ist. Heißt das nicht so viel, als daß Gott seine Schöpfung gleichsam als eipen gewaltigen Dom geschaffen hat, in dem alle Wesen unter der Führung des Menschen die Liturgie des Lobes, des Dankes und der Anbetung anstimmen sollen? Doch der Mensch ist dieser Bestimmung untreu geworden. Adam und Eva, .in der ganzen Blöße und Nacktheit ihres sündigen Daseins dargestellt, haben sich gegen Gott empört und wollten sein wie Gott. Aber die Zerstörung der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch führt zur Zerstörung der Gemeinschaft von Mensch zu Mensch. Das Verhältnis von Kain und Abel (in den Halblünetten über Adam und Eva sichtbar) endet in Neid, Haß und Mord. Wie aber singt ein religiöser Dichter des 17. Jahrhunderts? „Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten.“ Um des Menschen willen hat Gott die größte Tat der Liebe und der Gnade vollbracht.

In der Mitte der oberen Reihe des Innenaltars thront Gott in seiner Majestät und Allmacht und dennoch zugleich als der Gott der Langmut und der Barmherzigkeit, wie die lateinischen Inschriften bezeugen. Der Goldbrokat hinter dem Allmächtigen stellt in ornamentaler Wiederkehr einen Pelikan dar, der sich mit dem Schnabel die Brust aufreißt, um mit seinem Blut seine verdurstenden und verhungernden Jungen zu retten. Was wollte der Künstler anders als mit diesem Symbol die unendliche Vaterliebe Gottes darstellen, der sich sein Liebstes vom Herzen reißt, um die Menschheit zu retten. Gott ist mit der dreifachen Krone geschmückt, denn er ist der Herr über Himmel, Erde und Hölle, und zu seinen Füßen liegt eine Fürstenkrone zum Zeichen dafür, daß die Herren der Welt mit ihrer Macht und Ehre Gott zu dienen haben, wenn sie nicht seinem Gericht verfallen wollen. Welch ein Trost spricht aus einer solchen Darstellung für bedrängte Menschen und Völker in allen Zeiten und Zonen! Unser ewiges und zeitliches Schicksal hängt nicht an Menschen und irdischen Machthabern, auch der Elendeste und Ärmste darf in seiner Not und in seinem Leid die Gewißheit haben, daß sein Leben und das Geschehen in der Welt letztlich in den Händen Gottes ruht. Erklang nidit über den Trümmerstätten und Leichenfeldern des Dreißigjährigen Krieges die Botschaft:

Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nadit; laß fahren, was das Herze betrübt und traurig macht; bist du doch nidit Regente, der alles führen soll:

Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.

Zur Rechten des „Deus Potentissimus“, des Allmächtigen, sieht man Maria, dargestellt als Himmelskönigin und Gottesmutter, die demütig in ihr Gebetbudi versunken ist.

Sie ist das Werkzeug Gottes, damit das Mysterium aller Mysterien, die Inkarnation Christi, geschieht. Das andere Werkzeug ist Johannes der Täufer zur Linken Gottes, der aus der offenen Bibel als erster das Ereignis der Menschwerdung des ewigen Gottessohnes in Jesus von Nazareth seinen Zeitgenossen verkündigt hat. Die musizierenden und singenden Engel preisen diese.; größte Wunder im Himmel und auf Erden, daß Gott den gefallenen Menschen nicht verloren gibt und das höchste Opfer um seinetwillen bringt.

Darum kommen von allen Seiten der neuen Schöpfung die Scharen, um das Opfer Christi anzubeten. Vierzehn Engel knien um den Altar, auf den sich die Züge der Märtyrer und Märtyrerinnen zu bewegen, die Züge.derer, die ihr Leben für ihren Chrtstus- glauben gelassen haben. Im Vordergründe des Bildes vor dem Altar steht der Heilsbrunnen mit dem Wasser des Lebens, neben dem Lamm das zweite Sinnbild für das lebenspendende Opfer Christi. Zur Linken des Brunnens knien und stehen Propheten und Patriarchen, die Zeugen des Alten Bundes, zur Rechten die Apostel und in ihrem Gefolge Päpsti, Bisdiöfe und Geistliche aller Art, die Verkünder des Neuen Bundes. Ihnen sdiließcn sich die Scharen der Eremiten und der Pilger an, die letzteren unter der Führung des Riesen Christophorus, während ihnen gegenüber auf den entsprechenden Tafeln die . Streiter Christi (unser Bild auf Seite 1 der „Warte“) und die gerechten Richter auf prächtigen Pferden geritten kommen. Sie alie haben durch Wort und Werk in ihrem irdischen Wandel wider den Antichrist gekämpft, haben Christus durch Taten der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, der Buße und des Bekenntnisses, der dienenden und opfernden Liebe die Treue gehalten bis in den Tod und darum sind sie zur Anbetung des Lammes, das heißt der seligen Schau der Liebe Gottes und der Teilnahme am ewigen und seligen Leben mit Christus berufen.

Ist es wirklich eine weltflüchtige und gegenwartsfremde Beschaulidikeit, wenn wir uns in das reidie Bildwerk dieses Altars vertiefen? Sollte die tiefe Symbolik der Gestalten und Szenen dem heutigen Menschen nichts Entscheidendes zu sagen haben? Dieser Altar ist eines der gewaltigsten Zeugnisse des christlichen Abendlandes. Hat der abendländische Mensch endlich begriffen, daß die ungeheure Katastrophe Europas in seiner Untreue gegenüber dem christlichen Glauben' zu suchen ist? Das Abendland steht in seiner letzten Entscheidung zwischen Leben und Tod. Ihm ist nur dann eine sinnvolle und geschichtsmächtige Existenz trotz aller Schwere und Sorge der Zukunft verheißen, wenn es zu lebendiger Christlichkeit zurück- findet, in deren Zeichen Europa entstanden ist. Muß nidit der abendländische Mensch dankbar aus den Trümmern aufschauen zu einem solchen Altar, um von den bösen Geistern der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung befreit zu werden? Es gibt wahrhaftig nicht viele Zeugnisse des Abendlandes, von denen eine so trostreiche und hoffnungsstärkende Macht ausgeht: Gott baut trotz Tod und Teufel, trotz Widerspenstigkeit des Mensdien und der Machthaber der Welt an seinem Reich und das letzte Wort in der Geschidite behält Christus! Die Geschichte hat ein Ziel: die neue Schöpfung, und am Ende der Zeiten ist Christus der Triumphator r

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