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Mystik und Weltverantwortung

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In Salzburg befaßt man sich vom 22. Juli bis zum 3. August mit der Karl-Rahner-Aussage, daß der Christ der Zukunft ein Mystiker sein müsse. Ist dabei die weitverbreitete Meinung, Mystiker seien der Welt abgewandte fromme Asketen, zu revidieren?

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In Salzburg befaßt man sich vom 22. Juli bis zum 3. August mit der Karl-Rahner-Aussage, daß der Christ der Zukunft ein Mystiker sein müsse. Ist dabei die weitverbreitete Meinung, Mystiker seien der Welt abgewandte fromme Asketen, zu revidieren?

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Wer war der erste Mystiker mit Weltverantwortung?

Diese Frage stellen, heißt bereits, eine Vorfrage beantworten, nämlich die nach einer logischen Verträglichkeit der beiden durch „und" verbundenen Begriffe Mystik und Weltverantwortung; denn wer, wie so viele, unter Mystik eine völlig weit- und zeitenthobene Geisteshaltung und Lebenseinstellung versteht, der muß erwarten, daß es keine größeren und weniger versöhnbaren Gegensätze geben könne als den zwischen diesem Begriffspaar. Das „und" hätte dann den trennenden Sinn von „oder", wie bei der Redewendung „Gut und Böse", „Licht und Schatten". Fragt man aber nach dem ersten Mystiker mit Weltverantwortung, setzt man bereits voraus, daß es eine Vereinbarkeit dieser beiden Begriffe nicht nur geben könne, sondern daß es sie in der Tat gegeben hat.

Wer also warder erste Mystiker mit Weltverantwortung? Die Antwort kann nur lauten: Der erste Mensch, das erste Menschenpaar, Adam und Eva, das von Gott gemeinte, mit Gott geeinte Menschenbild, die Ur-konzeption vom Menschen, der Idealplan,-gleich-viel, ob und wie er je geschichtlich verwirklicht gewesen ist. Aber so ist der Mensch - als Mann und Frau -von Gott gedacht und entworfen: Ihm innigst vereint, ebenbildlich ähnlich, Gottes Wort hörend, ihm gehorchend und dadurch sein engster Angehöriger, Gott schauend und durch diese Gottesschau nicht nur über Gott informiert, sondern in Gott transformiert, Gott erkennend und von Gott erkannt, - und wir wissen, daß „erkennen" in der Sprache der Bibel innigste Liebesvereinigung bedeutet.

Adam ist als Mystiker unüberbietbar, es sei denn durch den Zweiten Adam, der, menschgeworden, dennoch bleibend am Herzen des Vaters ruht, und der als einziggeborener Sohn den Vater so schaut wie niemand sonst.

Diesem Adam, diesem Mystiker par excellence, von dem das Wort der heiligen Teresa von Avila gelten könnte: „Gott allein genügt, Dios solo basta", wird - und das macht ihn zum Menschen - sofort ein Weltauftrag gegeben: Gott schafft ihm einen Garten, „damit er ihn bebaue und hüte" (Gen 2,15); er führt ihm die Tiere vor, damit er sie benenne und damit ihren Eigenwert anerkenne; er vertraut ihm die ganze Erde an, auf daß er sie bevölkere und in seinen Dienst nehme (vergleiche Gen'1,28jT-

Es scheint also, daß ein solcher Weltauftrag durchaus verträglich sei mit der höchsten mystischen Vereinigung, ja: daß die ebenbildliche Gottähnlichkeit die tätige und liebende Sorge für die Welt einschlösse und sogar fordere, da sie Teilnahme an Gottes eigner Sorge und Fürsorge für seine Schöpfung ist. Die Liebeszuwendung des Menschen gilt also nicht nur seinem Ehepartner und damit eigentlich sich selbst; denn sie sind ja fortan „zwei in einem Fleisch", auch nicht nur ihrer Nachkommenschaft, die den beiden kraft des Vermehrungsauftrags erblühen soll, - sie gilt vielmehr auch der Um-Welt, und zwar um ihres Eigenwertes willen, den sie als Gottes Werk besitzt, aber auch um des Menschen willen, für den sie geschaffen wurde, und für die er darum als für seine eigne Überlebensgrundlage verantwortlich bleibt.

So könnten wir in modemer Sicht den Sündenfall etwa so deuten, daß der Genuß der verbotenen Frucht ein Angriff und Eingriff in die Schöp-fungs- und Erhaltungsordnung war, über die der Mensch hätte wachen sollen, und die durch Genußsucht, Hab- und Besitzgier sowie Vorwitz aufs äußerste bedroht und gefährdet würde. So erhielte die Ur-Kunde von der ersten Umweltzerstörung - symbolisch beschrieben als Verlust des Gartens Eden und als Fluch über den Ackerboden („Domen und Disteln soll er dir tragen", Gen 3,18) - eine bestürzende Aktualität.

Wenn Mystik der mühevolle Rückweg zur ursprünglichen Liebeseinheit mit Gott ist - „So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast" (Benediktusregel, Prolog 2) -, dann führt dieser Weg auch über die Rettung und Bewahrung der Schöpfung, von der es im Römerbrief heißt: „Die Sehnsucht der Schöpfung wartet ja auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes. Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen... Auch sie soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis auf den heutigen Tag in Geburtswehen liegt" (Rom 8,19 ff).

So kann der Mystiker gewissermaßen „unterwegs" zur adamitischen Gott vereinigung in der Nachfolge des zweiten Adam zum Geburtshelfer der Neuen Schöpfung werden und seine Weltverantwortung höchst wirksam wahrnehmen. Darüber hinaus hat diese mystische Beziehung zur Schöpfung noch eine alle Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen transzen-dierende Bedeutung: Allenthalben und zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die man als „Naturmystiker" bezeichnen könnte, - solche, die das Göttliche in der Natur ahnen oder finden, mag man sie nun Pantheisten oder Panenthisten nennen oder, mit Albert Schweitzer, solche, die „Ehrfurcht vor dem Leben" haben.

Sie alle sind Bundesgenossen derer, die den Spuren des dreieinigen Schöpfergottes in der Natur, ohne es zu wissen, nachgehen bis hin zum verlorenen Paradies des Ur-Anfangs, dem Garten Eden, der unversehrten Umwelt des gottebenbildlichen Menschen. Die Weltverantwortung des Mystikers wird sich also nicht zuletzt in einer ökologisch ausgerichteten Politik äußern, de,ren konkrete Durchführung freilich nicht nur den Mystikern überlassen bleiben kann.

Der Gott zugewandte, gottverwandte Mensch ist daher keineswegs ein weltverachtender Auswanderer aus dem Diesseits und träumerischer Bewohner eines überhimmlischen Wolkenkuckucksheims. Vielmehr sieht und liebt er Gott in allen Dingen, wie es ihm der Zweite Adam, Jesus Christus, vorgelebt hat, dem alles Vergängliche zum Gleichnis wurde. Man kann die Frage stellen, ob der geschichtliche Jesus ein Mystiker war; die Antwort wird davon abhängen, was man unter Mystik versteht.

Jedoch ein noch so verengter, auf das rein Psychologische reduzierter Begriff von Mystik, der auf den historischen Jesus von Nazaret nicht anwendbar wäre, wird nicht ausschließen können, daß der Mensch Jesus Christus - einmal abgesehen von seiner göttlichen Natur - in der innigsten Vereinigung mit Gott, mit dem Willen des Vaters, gelebt hat, also auf den höchsten Höhen der Mystik wandelte, zugleich aber in denkbar größtem Maße Weltverantwortung getragen hat - bis zum Tod, ja, bis zum Tod am Kreuz; und erst dadurch den Rückweg zum Paradies wieder freilegte.

Wie aber geht nun diese tatenfreudige, bis zur Todesbereitschaft einsatzbereite Aktivität zusammen mit der klassischen Unterscheidung zwischen aktivem und kontemplativem Leben, wobei die Mystiker vornehmlich unter den Kontemplativen zu suchen seien? Die Unterscheidung mag klassisch sein, aber sie ist nicht biblisch. Vielmehr verdankt sie sich hellenistischem Denken. Im Griechischen ist der entsprechende Ausdruck für Kontemplation „Theoria", das heißt „Schau". Die beschauliche, auf die Schau Gottes ausgerichtete Lebensweise wäre daher, griechischem Denken gemäß, die vollkommenere, die eigentlich mystische.

Origenes war wohl der erste, der die beiden Lebensweisen -die aktive und die kontemplative - allegorisch personifiziert sah in den Gestalten von Marta und Maria (Lk 10,38 ff). Es wäre aber abwegig, die mystischen Gebets- und Gnadengaben nur auf die kontemplativ wie Maria Lebenden beschränken zu wollen; apostolisch Aktive können genauso mystisch begnadet sein, und das in dem Maße, wie ihr Tätigsein von Liebe zu Gott und den Menschen getragen ist und von daher seine Antriebe erhält.

So werden die Augen der heiligen Elisabeth von Thüringen zur Schau (Theoria, Kontemplation) geöffnet, so daß sie in dem kranken Bettler, den sie in ihr Ehebett legt, den Herrn selbst erblickt und sogar den zunächst erzürnten Landgrafen an dieser Schau teilhaben läßt. Und wen mag wohl jene Ordensfrau in den Aussätzigen gesehen und hingebungsvoll gepflegt haben, die einem Journalisten, der ausgerufen hatte: „Das täte ich nicht für eine Million Dollar!", ganz gelassen erwiderte: „Ich auch nicht"?

Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf das frühe Mönchtum, in dem man das Herdfeuer des kontemplativen Lebens und damit der mystischen Lichtfülle vermuten möchte. Zweifellos war der heilige Benedikt ein Mystiker. In seiner legendären Vita gibt ihm sein Biograph, Papst Gregor der Große, alle Attribute eines solchen; denn wenn auch Wunderwirken, Prophetie und Visionen nicht den Mystiker ausmachen, so sind sie doch Attribute, die ihn - eine heiligmäßige und demütige Lebensführung vorausgesetzt - als Mystiker erkennbar machen.

Das gilt besonders von jener großen Vision, von der er berichtet und in der Benedikt wie in einem Lichtstrahl Gottes das ganze Weltall erblickte, also fast so etwas wie einen Weltauftrag empfing. Dennoch sollte man nicht meinen, der Heilige sei sich in diesem Augenblick der weit- und kulturgeschichtlichen Rolle bewußt geworden, die seine Stiftung in der Tat in späterer Zeit spielen würde. Ihm ging es bewußt nur um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, mag er auch an die Fortsetzung des Satzes: „Alles übrige wird euch dazugegeben werden" (Mt 6,33) gedacht haben.

Der mystisch begnadete' Visionär schreibt seine Regel für das schlichte Hier und Jetzt des Alltags und übernimmt Verantwortung für die ihm anvertrauten Brüder. Er ist Realist genug, zu wissen, daß zum Leben und Überleben Beten allein nicht genügt, sondern daß es auch der produktiven Arbeit bedarf. Aber er vergißt den Doppelsinn des Wortes „labor" nicht, das sowohl Arbeit wie Mühe heißt. Im Einklang mit der monastischen Tradition sieht er in der Arbeit nicht einmal in erster Linie wertschöpferisches Tun, sondern aszetische Leidensmühe, die der Mönch auf sich nehmen muß, um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu erlangen.

So führt der mystische Weg, der durch die Aszese und deren Hauptinstrument - die Mühe und Arbeit -beginnt und begleitet wird, zu jener vollkommenen Gottesliebe, die wiederum zur Tat drängt. Denn die Liebe ohne Werke wäre genau so tot wie der Glaube ohne Werke. So wäre denn die Weltverantwortung, die der Mystiker auf sich nimmt, in Wahrheit ein notwendiger Ausfluß der Gottes- und Nächstenliebe. Hier hätte also das weltenordnende, politische, kulturschöpferische Tun der großen wie der kleinen Mystiker ihren Ursprung und ihren Sitz im Leben.

Wie das konkret aussieht, könnte man am Wirken großer Mystiker des

Mittelalters darstellen: Einer heiligen Hildegard, einer heiligen Katharina von Siena, einem heiligen Bernhard von Clairvaux und vielen anderen. Jedoch galt deren öffentliches Wirken in erster Linie der Kirche, die freilich in der damaligen Zeit mit der Welt zusammenfiel. Drei mystische Persönlichkeiten seien aber hier genannt, die kraft religiösen Auftrags unmittelbar politische Weltverantwortung übernahmen:

Jeanne la Pucelle, wie sich Jeanne d'Arc selber nannte (1412 bis 1431); ihre mystischen Visionen und Audi-tionen drängten sie unwiderstehlich zu hochpolitischem Handeln, zur Anführerschaft im Krieg gegen den englischen Usurpator und zur Salbung und Krönung des legitimen Königs zu Reims. Sie ist, recht betrachtet, eine alttestamentliche Gestalt: Sie schlägt siegreich die Schlachten des Herrn, und es ist begreiflich, daß sie ihren Gegnern und Richtern als Hexe galt und als solche verbrannt wurde. Ihre Rehabilitierung erfolgte sehr bald, ihre Heiligsprechung hingegen erst ein halbes Jahrtausend später, im Jahre 1920, gewissermaßen als kirchliche Weihe des französischen Sieges im Ersten Weltkrieg.

Als zweiter wäre ihr Zeitgenosse Nikolaus von Flüe zu nennen (1417 bis 1487), ein Mystiker von hohen Graden, dabei aber ein nüchterner Schweizer mit gesundem Menschenverstand, der auf der Tagsatzung zu Stans imJahre 148 leine Formel fand, die der in Krise befindlichen Eidgenossenschaft Frieden und Eintracht sicherte.

Neben diesen beiden, voneinander sehr verschiedenen Gestalten aus dem „Herbst des Mittelalters" und gleichrangig mit diesen steht ein Mann unserer Tage, ein evangelischer Christ, den erst sein nachgelassenes Tagebuch als Mystiker erkennen läßt: Dag Hammarskjöld, seit 1953 der zweite Generalsekretär der Vereinten Nationen. In seinen Aufzeichnungen findet sich der Satz: „Ein Märchen berichtet von einer Krone so schwer, daß nur der sie zu tragen vermochte, der in völliger Vergessenheit ihres Glanzes lebte." Er selbst hat aus mystischer Gottverbundenheit diese Krone getragen, die Krone eines Märtyrers für den Frieden, den er im kongolesischen Bürgerkrieg zu vermitteln unterwegs war, als sein Flugzeug abgeschossen wurde, und er den Tod fand.

Mystik und Weltverantwortung sind also nicht nur miteinander verträglich, sondern es kann sogar ein Wirken in der Welt und für die Welt geben, das sich unmittelbar der mystischen Vereinigung mit Gott verdankt. Damit ist freilich keine Erfolgsgarantie verbunden, wohl aber ein Zeugniswert. Wenn Karl Rahner gesagt hat: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder es wird ihn überhaupt nicht geben" (die Thematik der diesjährigen Salzburger Hochschulwochen), so meint er genau das Gegenteil eines in Glanz und Gloria prunkenden Triumphalismus; er meint das stille Wirken derer, die ihren archimedischen Punkt in Gott haben und von dort aus den Lauf der Welt zur Heimkehr in den ewigen Paradiesesfrieden lenken helfen.

Der Autor ist Obmann des Direktoriums der Salzburger Hochschul wochen und referiert dort heuer über das Thema „Mystik und Weltverantwortung".

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