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Rückzug ins Innere statt Wendung zum Du

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„Mystik” ist zum Mode- und Reizwort geworden. Ob im Internet auf „God's homepage” oder in der Fernsehserie „Akte X”, auf Seminaren über holotropes Atmen oder beim Tischerlrücken: überall kann man „mystische Erfahrungen” machen.

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„Mystik” ist zum Mode- und Reizwort geworden. Ob im Internet auf „God's homepage” oder in der Fernsehserie „Akte X”, auf Seminaren über holotropes Atmen oder beim Tischerlrücken: überall kann man „mystische Erfahrungen” machen.

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Was „Mystik” im konkreten Fall bedeutet, wird nur selten unmittelbar einsichtig. Für viele verbindet sich mit diesem Wort die Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Sehnsüchte nach Heil und Erlösung von dem allzu profanen, oft pro-blembeladenen Alltag einer krisenhaften Zeit. Andere denken in erster Linie an die Rückkehr von Frömmelei und Irrationalismus, sehen das Ende von Rationalität und Aufklärung gekommen. Manchen fallen Visionen ein, nach solchen sehnen sie sich; andere „haben” diese, wiederum andere verweisen dann, oft zu Recht, auf die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung. „Mystik” ist Hoffnungsund Angstwort, aber auch Sehnsuchtswort.

Seelsorge: von Therapie abgelöst

Im Rahmen des „Megatrends Respi-ritualisierung” komme es zu einem „Mystik-Boom”, meint der deutsche Trendforscher Matthias Horx. Die Pastoraltheologin Maria Widl spricht von' „Neuen Religiösen Kulturformen”, die die menschliche Sehnsucht nach Gemeinschaft artikulieren, nach unmittelbarer Erfahrung, nach Weisheit, Autorität, Spiritualität und einem angemessenen Naturverhältnis. Diese neuen alltagskulturellen und gesellschaftspolitischen Lebensformen sind „postmaterialistischen” Werten wie Selbstentfaltung, Autonomie und immaterieller Lebensqualität verbunden; inhaltlich sind sie christlich oder neureligiös ausgerichtet. Allen gemeinsam ist die Suche nach „mystischer Erfahrung”.

In jener mystischen Erfahrung geht es um die Erfahrung des „wahren” Selbst. Der (post)moderne4 Mensch strebt nach Selbsterkenntnis. Er will sich selbst verwirklichen, will sich selbst und andere intensiv spüren. F> sucht innere Erlebnisse und sehnt sich nach Einheit mit Körper und Geist, nach Übereinstimmung mit sich selbst und den anderen. Er will Verantwortung für das eigene Leben

übernehmen. Er will sich „ganz” fühlen, „heil” sein. Therapeutische Erfahrungen werden mit religiösen verknüpft, und diese werden dann „mystisch” gedeutet. Diese Verbindung ist aus dem Christentum bekannt. Die Heilung von Leib und Seele steht sowohl im Zentrum des Wirkens Jesu wie im Handeln christlicher Mystiker und Mystikerinnen. Man denke an Hildegard von Bingen. Heute scheint die Kirche den Bereich der Seelsorge und damit auch einen wesentlichen Teilbereich mystischer Erfahrung aufgegeben zu haben; die Seelsorge ist von der Therapiebewegung endgültig abgelöst worden.

Die verkürzte Natur

Mystische Erfahrung hängt eng mit der Erfahrung von Sinn zusammen. Die Wahrheit von Sinn wird heute nach dem Ende der Ideologien daran gemessen, ob sie dem Indivduum subjektiv einsichtig scheint. Glaubwürdigkeit und das Engagement dessen, der sie vertritt, sind ein wichtiger Maßstab dafür, ob etwas für „wahr” gehalten wird: Wahrheit ist nicht mehr etwas, das man in Worte fassen kann, sie „passiert” zwischen Personen. So ist sie an Beziehung, Betroffenheit und Vertrauen gebunden und kann weltanschauliches Gedankengut, Lebenshilfe, eben „Sinn” für den einzelnen werden. Dieser Vorgang wird dann oft als „mystische Erfahrung” bezeichnet, die dazu dient, das Leben zu erklären und zu bewältigen. Auch die christliche Tradition bietet seit jeher Sinn und Wahrheit an, aber es scheint deren dogmatisch-autoritäre und selten die zwischenmenschlich verwirklichte Form zu sein, die sie dem heutigen Menschen verdächtig macht. Sinn vollzieht sich heute nicht mehr universal, sondern innerlich. Gerade diesem Bückzug in die Innerlichkeit, der sich der gesellschaftlichen Verantwortung entzieht, könnte christliche Mystik etwas entgegenhalten, die seit jeher sozial und politisch engagiert ist.

Als mystisch gelten ferner jene naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die versuchen, der Komplexität der Welt gerecht zu werden, indem sie ganzheitlich und interdisziplinär arbeiten. Trivialisierungen von Systemtheorie und Kybernetik genießen großes Ansehen, auch die Relati-vitäts- oder die Chaostheorie eröffnen so mystische Dimensionen, weil sie die Relativität und Polarität der Welt und damit anscheinend aucji die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis anerkennen. Alles ist „Energie” und „Bewegung”, „Alles entwickelt sich”, so lauten die trivialen Populärfassungen dieser Wissenschaften. Diese „Bescheidenheit” erhebt sie für viele in den Bang mystischer Sinnsysteme. Nicht zufällig klingen solche populärwissenschaftliche Erkenntnisse wie esoterische Lehren. In beiden Fällen wird das Geheimnis der Natur verkürzt, aber verständlich erklärt. Man kann sich einordnen und sich als Teil des Kosmos verstehen, ohne mit der Wissenschaft in Konflikt zu geraten. Die Natur wird so zu jenem Ort, an dem man durch wissenschaftliche Erklärungen mystische Erfahrungen machen kann. Christliche Schöpfungstheologie und christli- -ches Menschenbild können da nicht mehr mithalten. Man wirft ihnen An-thropozentrismus und Naturvergessenheit vor. Dem Christentum geht es aber weniger um Funktionieren oder Definieren von Naturgeheimnissen als um Aussagen über das Verhältnis zwischen Mensch und Gott.

Als „mystisch” werden neuerdings auch wieder Traditionen und Praktiken gehandelt, die man meinte, durch Aufklärung und Bildung längst hinter sich gelassen zu haben. Magie ist „in” und gilt als „mystisch”. Parapsychologisches wie Astrologie, okkulte Techniken wie Tischerlrücken oder Wahrsagerei werden wieder als Wege zum Göttlichen benutzt. Das sind Wege, die Jesus und die christliche Tradition immer abgelehnt haben, weil sie allzuoft Schaden anrichten. Sie haben mit dem Göttlichen meist weniger zu tun als mit menschlicher Dummheit, Unreife bzw. psychischer Krankheit oder Bösartigkeit. Magie mag durchaus mystische Erfahrung ermöglichen, stellt jedoch einen für erwachsene Menschen regressiven Zugang zum Heiligen dar.

Mystische Erfahrung beinhaltet wesentlich die Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit. „Via regia” (Königsweg) dorthin ist die oft geschmähte, sogenannte Esoterik. Es gibt allerdings durchaus anspruchsvolle esoterische Lehren, denen wirklich am Heil des Menschen und dessen Zugang zum Heiligen gelegen ist. Esoterische Erfahrung als mystisch zu bezeichnen hieße dann, mit dem göttlichen Geheimnis in Berührung zu kommen.

Göttliches Prinzip — auch im Alltag

Ursprünglich ist Esoterik ein Jahrhunderte altes, synkretistisches Glaubenssystem, das sich auf die Aufzeichnungen des ägyptischen Weisheitslehrers Hermes Trismegistis beruft. Ihre vielen verschiedenen Formen waren ehemals nur Eingeweihten zugänglich. Heute gelten ihre zentralen Botschaften als bevorzugte „Eingangstore” zu mystischer Erfahrung: „Wie oben, so unten”, „Alles ist polar”. Solche Erklärungsmuster sind scheinbar einfach zu verstehen. Man kann sich durch diesen naiven Symbolismus gegen das Schicksal absichern, indem man sich in die gelüfteten Geheimnisse des „Ganzen” einfügt. Ernsthafte Esoterik lüftet aber eben keine Geheimnisse, sondern bringt in Kontakt mit den transzendenten Geheimnissen. Diese Form der Esoterik ähnelt der christlichen, denn auch sie will Mensch und Gott zusammenführen.

Nach christlichem Verständnis ist mystische Erfahrung die Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit. Dies schließt mit Ausnahme der Magie keinen der oben genannten Aspekte aus, im Gegenteil: Gott ist über das Selbst und Andere, über Heil und Sinn, Natur und Geheimnis zu erfahren. All das führt zu Gott, ist aber nicht

Gott selbst. Die christliche Mystik macht immer wieder darauf aufmerksam, daß Gott nicht „ist”, daß er eher „Nichts” ist, als daß er „etwas” ist. Durch dieses Nichts und damit durch die eigene Nichtigkeit hindurch muß der christliche Mystiker und hofft dort Gott zu schauen, um dann zu entscheiden, ob er sich Ihm anvertraut oder nicht. So ist mystische Erfahrung für den Christen ein riskanter und lebenslanger Weg.

Am Denken zweier großer Mystiker, Meister Eckhart und Teilhard de Chardin, zeigen sich wesentliche Merkmale christlicher Mystik. Gott wird in erster Linie nicht als Ganzheit, sondern als Liebe erfahren, in der der einzelne er selbst werden kann. Diese Erfahrung göttlicher Liebe führt zur Hinwendung, zum Leben und zur Liebe zum Menschen. Christliche Mystik endet - anders als neureligiöse Mystik - nicht in der Auflösung des Selbst in einem diffusen Einheitsgefühl, sondern in der Selbstwer-dung. Daher führt christliche Mystik zu politischem und sozialem Engagement. Was heute als „mystisch” bezeichnet wird, hat diese Dimensionen allzu oft nicht.

Allen mystischen Sehnsüchten und Erfahrungen ist eines gemeinsam: die Sehnsucht nach Vereinigung mit einem göttlichen Prinzip, damit das alltägliche Leben geheilt, transzendiert und auch verändert wird. Der Mensch der mystischen Erfahrung sehnt sich nach Übereinstimmung mit sich selbst und anderen, nach Sinn, Natur und nach dem göttlichen Geheimnis. Das wußte schon Augustinus, als er betete: „Ruhelos ist unser Herz, bis daß es seine Ruhe hat in Dir!”

Wer heute die Rolle dieses „Du” übernehmen soll, ist allerdings unklar.

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