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Hat die Religion Zukunft?

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Die Fragestellung deutet bereits darauf hin, daß die Religion heutzutage keine selbstverständliche Größe mehr ist. Das Phänomen hängt mit tief reichenden Erschütterungen der überlieferten Religion zusammen, deren Ausmaß uns erst langsam aufgeht.

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Die Fragestellung deutet bereits darauf hin, daß die Religion heutzutage keine selbstverständliche Größe mehr ist. Das Phänomen hängt mit tief reichenden Erschütterungen der überlieferten Religion zusammen, deren Ausmaß uns erst langsam aufgeht.

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Was sich noch als tragfähiger Boden erweist, was abbruchreif ist oder von selbst zusammenbricht, weil es den Bedürfnissen und Nöten des Menschen im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht mehr entspricht, das ist eindeutig noch keineswegs auszumachen. Die „Bregenzerwälder Kulturtage“, die in diesem Jahr zum sechstenmal in Egg, einer schön gelegenen Gemeinde des vorderen Bregenzerwaldes, durchgeführt wurden, stellten sich in einer Vortragsreihe die Frage nach der Zukunft der Religion. Die Kulturtage gehen auf die Initiative einiger Persönlichkeiten zurück, die sich für die Förderung der geistigen und religiösen Urteilsbildung und Unterscheidungskraft in Vorarlberg verantwortlich fühlen, in der Überzeugung, daß ohne das gemeinsame und freimütige Nachdenken über unsere Lebensgrundlagen, Freiheit und Würde des Menschen der vordringenden Herrschaft totalitärer Ideologien zum Opfer fallen können. Diese Gefahr ist im freien Westen viel größer, als man durchschnittlich annimmt. Die besondere Zielsetzung der „BTegenzerwälder Kulturtage“ liegt darin, auch den geistig interessierten Talbewohner anzusprechen und ihn ein wenig mit dem vertraut zu machen, was in Wissenschaft, Politik, Religion und Kunst vor sich geht, daß damit natürlich auch das Problem der sprachlich verständlichen Aussage gegeben ist, damit hatten die Veranstalter von Anfang an ihre Schwierigkeiten.

Die HauptfragesteEung, ob die Religion eine Zukunft habe, wurde von relrigionsphilosophischer, von wissenschaftskritischer, von psychologischer und soziologischer Seite her erläutert. Prof. Wucherer-Huldenfeld, Wien, versuchte in einem von Heideggers Denken geprägten Vortrag das Vorfeld der religiösen Erfahrung philosophisch zu bestimmen. Es ging dabei um die Freilegung der ursprünglichen Erfahrung des menschlichen Daseins und um die Erfahrung des Ursprungs aller Dinge. Es zeigte sich, daß die vorwissenschaftliche Lebenserfahrung, daß Phänomene wie Treue, Liebe, Leid, grundlose Freude, Gelassenheit, weitsichtige Güte, Geduld im Vorfeld des Heiligen, also der Möglichkeit stehen, auch eine letzte religiöse Sinnerfahrung des Lebens zu machen. Alles wissenschaftliche Beweisen, Begründen und Überprüfen hat einmal ein Ende. Die Wissenschaft selbst beruht in ihrer Möglichkeit auf Voraussetzungen nichtwissenschaftlicher Art, über die sie als Wissenschaft nicht nachdenkt. Der Mensch muß, nach Wucherer-Huldenfeld, wieder lernen, darüber zu staunen, daß es überhaupt etwas gibt und sich diesem unerforschlichen „Es gibt“ anvertrauen. Die Frage, auf die der Vortragende nicht einging, bleibt allerdings, wie in der Auslegung ursprünglicher Erfahrung die Möglichkeit des Atheismus, des Unglaubens näher bestimmt werden müßte. Könnte es nicht sein, daß die Empörung gegen Gott angesichts der erschreckenden Wirksamkeit des Bösen in der Geschichte ebenso eine menschliche Urerfahrung ist wie die Anbetung Gottes (Hiob, Dostojewskij, Adorno, Bloch)? Und welche Antwort auf diese in tiefes Dunkel führende Frage gibt die biblische Offenbarung?

Prof. Spämann, München-Salzburg, sprach über den hypothetischen Charakter der modernen Kultur. Dieser Grundzug modernen Denkens habe es mit sich gebracht, daß in der heutigen Gesellschaft Uberzeugungen, werthafte Bindungen, der Kritik entzogene Anerkenntnis von etwas Höherem, nicht vom Menschen Gesetzten, dahinschwinden. Nach Spämann besteht die Gefahr, daß immer mehr Bereiche des Menschseins einem machbaren Rollenwechsei unterworfen werden. Die Rationalisierung und Funktionalsierung der' menscMfchen Lebensverhältnisse auf Widerruf, also gerade ihre Nichtverbindlichkeit, öffne dem ^unheimlichsten aller Gäste“ (Nietzsche), dem Nihilismus, die Tore. Im Widerspruch zum kritischen Rationalismus eines Habermas und einea Alberts setzte sich Spaemann mit großer Entschiedenheit für die Erhaltung nichthypothetischer Zugänge zur Wirklichkeit ein. Das sind zum Beispiel moralische Überzeugungen, philosophische und künstlerische Sinnerfahrungen, religiöse Glaubensvollzüge. Lebenssinn kann nicht geplant, nicht durch rationale Problemlösungsverfahren hergestellt werden. Er entspringt vielmehr einem Vertrauensvorschuß, nämlich der Gewißheit, „daß einzelne Sätze vom Zweifel ausgenommen sind (Wittgenstein)“.

Der Psychotherapeut Professor J. Rudin, Zürich, entwickelte in seinem Beitrag im Leithorizont der Psychologie von C. G. Jung drei Aspekte hinsichtlich der Frage nach psychischen Ansatzpunkten des religiösen Glaubens. Es sind dies Lebensangst, Urvertrauen und Gott als psychische Funktion. Lebensangst, die jeder Mensch so oder so zu bestehen habe, könne ihn für religiöse Grunderfahrungen öffnen, und ohne ein Urvertrauen sei es dem Menschen auf die Dauer überhaupt nicht möglich, zu leben und Lebenskrisen auszubauen. Gerne hätte man erfahren, wo der Psychologe die Quellen dieses Urvertrauens, des Lebensmutes sieht, denn ohne die Unerschöpf-lichikeit dessen, was uns alles schon vor-gegeben ist, damit wir überhaupt leben können, kann sich Urvertrauen nicht bilden. Besonderen Wert iegte Rudin auf die .^irrationale Natur“ des Gottesbildes im Menschen. Der Archetypus des Selbst ist als ein Organ möglicher Gotteserfahrung zu verstehen. Hier wäre allerdings eindringlicher zu fragen, von woher, mit welchen Kriterien das Bewußte vom Unbewußten, das Rationale vom Irrationalen abgegrenzt wird. Es könnte sein, daß der Jung'schen Psychologie ein Bewußtseinsbegriff zugrundeliegt, der vom naturwissenschaftlichen Rationalismus des 19. Jahrhunderts vorbelastet ist und deshalb philosophisch nicht ausreicht, weil er weit von der universalen Vernehmungskraft der Vernunft entfernt ist. Aber es bleibt gleichwohl dabei, was Heraklit schon vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden sagte: „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausschreiten, wohin du auch gingest.“

Der Soziologe Th. Luckmann, Konstanz, sah in der Entinstitutionali-sierung und Privatisierung der Religion eines der Hauptkennzeichen der modernen Entwicklung. Nach seiner Prognose wird der Schrumpfungsprozeß organisierter Religion weitergehen. Und vor allem lasse sich heute angesichts der weiterbestehenden, ja sich verstärkenden Pluralität der Religionen der Absolutheitsanspruch einer Religion nicht mehr aufrechterhalten. Die institutionelle Absicherung des Glaubens werde schwieriger, aber es sei auch damit zu rechnen, daß sich Möglichkeiten der Neugestaltung von religiöser Transzendenzerfahrung zeigen werden. Leider ließ sich LuCkmann auf eine soziologische Analyse neuer Gemeinschafts-

formen des Glaubens, wie sie sich in Tsäze, in der charismatischen Er-neuerunigsbewagunig der christlichen Kirchen oder in den neuen Retligionen Japans manifestieren, nicht ein. Auch der Leitbegriff „Säkularisierung“ wurde ungeprüft übernommen.

Der Kunstwissenschaftler und Anthropologe Prof. Rombold, Linz, setzte sich in einem Lichtbildervortrag mit der Gegenwartskunst unter dem Gesichtspunkt auseinander, ob in ihr Protest und Verheißung auch als eine Grunderfahrung gedeutet werden können, die zu religiöser Lebens- und Weltdeutung hinführt. Es ist sehr zu bedauern, daß es aus Zeitgründen zu keinem Gespräch über diesen Beitrag im Hinblick auf die Ausführungen von Wucherer-Huldenfeld und Spämann kam.

Die diesjährigen „Bregenzerwälder Kulturtage“ ließen bei den Teilnehmern, die sich Aufschlüsse über die Gründe für das Weiterbestehen der Religion erwartet haben, einen merkwürdigen Eindruck zurück. Es wurde nur über und von der Religon, aber nicht aus ihrem eigenen, unverwechselbaren Wahrheitsanspruch heraus gesprochen. Natürlich ist es legitim und notwendig, sich von verschiedenen Wissenschaften her Gedanken über die mögliche Weiterentwicklung der Religion zu machen. Aber wenn schon die Frage als Hauptthema gestellt wurde, ob die Religon nur noch eine vergangene Größe sei, oder ob sie auch in Zukunft eine Lebensmacht bleiben werde, dann hätte mindestens ein theologischer Beitrag nicht fehlen dürfen. Dies wäre um so notwendiger gewesen, als sich alle Vortragenden in auffallender Übereinstimmung von der Frage nach der Wahrheit der Religion dispensiert fühlten.

So kam das Gespräch zwischen Wissenschaft und gelebter Religion, das die Zuhörer sicher sehr gefesselt hätte, überhaupt nicht zustande. Und weil kein Theologe die für unseren Geschichtsraum entscheidende jüdisch-christliche Glaubensüber) ie-ferung vertrat, entließen uns die „Bregenzerwälder Kulturtage“ mit einer großen Frage — und mit einer Erwartung.

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