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Psychologie und Praxis

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Die Frage „wer bin ich?“ oder „was bin ich?“ hat der Mensch zu allen Zeiten gestellt. Allein, die Akzentuierung dieser Frage nach der ruhig wägenden oder gefühlsbetonten Seite ist eine grundverschiedene, ob sich der Mensch in einer Epoche harmonischer Kulturentfalturtg oder Ent-sidierung aller Lebenskreise befindet, wie wir sie nach den zwei Weltkriegen erleben.

Zum Ausklang des sogenannten „bürgerlichen Zeitalters“, wie es durch seine Unecht-heit und Heuchelei gekennzeichnet und in dies-er Art durch Ibsen, Dostojewskij, Lewis und andere festgehalten wurde, ist Sigmund Freud mir seiner Psychoanalyse in einen Sirenenton verfallen, der jahrzehntelang ungezählte Menschen bezauberte. Die außerordentlich große Wirkung, die Freud in Laienkreisen hervorrufen konnte, ist nur so zu erklären, daß dieser Zwiespalt zwischen Schein und Sein, der in der Gesellschaft immer deutlicher geworden war und im großen Kriege zum Zusammenbruch einer Schichte geführt hatte, von Freud für das Seelenleben radikal und schomingslos aufgedeckt wurde.

Es kein Zufall, daß auch heute wieder das Interesse für die Psychoanalyse rege ist. So viel weiß der Laie von der Freudschen Lehre, daß sie die Triebforsdiung behandelt. In der Triebentfesselung, einer immer wiederkehrenden Verwahrlosung nach Kriegen, ist vielleicht der tiefste Grund für das erneute Auftauchen psychologischer Fragen zu sehen. Dazu wird in weiten Kreisen Psychoanalyse mit Psychologie gleichgesetzt.

Es ist zunächst zu sagen, daß die Psychoanalyse nach der Aussage ihres Begründers nichts anderes darstellt als ein Verfahren, nervös Kranke ärztlich zu behandeln. Damit wird der Rahmen der Psychoanalyse für ein Gebiet abgesteckt, das streng genommen der Persönlichkeitsbildung des Gesunden oder gar der Aufrichtung eines Weltbildes nicht dienen kann. Das Neue und die Neugier sosehr Erweckende an Freuds Lehre und übrigens auch sein bleibendes Verdienst, ist sein eindringlicher Hinweis auf die triebhaften Grundlagen bewußten Erlebens. Freud erhebt die Kraft des Sexualtriebes (libido) zum alles bestimmenden Faktor im seelischen Geschehen. Fast jede Lebensregung wird als Ausdrucksbewegung der Sexualorgane gesehen, so daß beinahe alle Lebensäußerungen Symbolcharakter tragen. Diese Einseitigkeit der Auswertung ist der verhängnisvolle Irrtum der Freudschen Lehre, zudem hat die übertriebene Symbolfindung das Abgleiten ins Unwissenschaftliche zur Folge gehabt.

Freud selbst sieht seine Leistung ia erster Linie in der Lehre vom Unbewußten und von der „Verdrängung“. Was das ist, läßt sidi folgendermaßen ganz kurz beschreiben: in jedem Leben gibt es unangenehme Ereignisse, Mißerfolge, Dinge, deren man sich schämt. Solche Erlebnisse sind immer nach der Seite der Unlust hin gefühlsbetont. Man mag nicht an sie denken, sie werden „verdrängt“. Wohin aber? In das Unbewußte. Man sollte meinen, damit sei alles erledigt. Dem ist aber nicht so nach Freuds Lehre — und auch der Wahrheit entsprechend. Die verdrängten Erlebnisse tauchen unversehens wieder auf, allerdings in vielerlei Maskierungen: im Traum, im Versprechen, im Vergessen usw. —

Das Unbewußte nun besteht nadi Freuds ausdrücklicher Aussage aus „psychischen Erscheinungen“. Woher soll man aber über diese etwas wissen, wenn sie unbewußt ablaufen? So i ist- das unbewußt Psychische keine aus der Erfahrung gewonnene Tatsache, sondern nur eine Annahme freilich eine. Arbeitshypothese, die ungemein ergiebig ist. Jedenfalls stellen die unbewußten psychischen Erscheinungen eine bequeme und praktisdie Annahme dar, mit der sich viel erklären läßt. Man könnte aber auch der Ansicht sein, daß psychische Vorgänge und Zustände • immer bewußte Vorgänge und

Zustände sind; unbewußt ist das Erregungs-gesdiehen im Gehirn, aus dem sie hervorgehen.

Die Tatsache, daß psychoanalytische Schlagworte in Laienkreisen heute abgegriffene Münze geworden sind, spricht noch keineswegs für den wissenschaftlichen Erfolg der Lehre. Dabei ist aber festzuhalten, daß durch Freud die Triebforschung in Gang gebracht wurde, die inzwischen auch die Fachpsychologie in ihren Arbeitsgang einbezogen hat. Es ist sein unleugbares Verdienst auf seelische Ursachen für körperliche Krankheitszeichen hingewiesen zu haben und schließlich fiel in diesem ganzen Zusammenhang; das Stichwort der Psychotherapie. Diese hat, ohne es zu wissen, bemerkt, daß das Kranksein an irgendeiner Stelle nicht nur mit dem objektiven Werte eines Menschen zusammenhängt, sondern sie ist an den Tatbestand angestoßen, demzufolge die G e-s u n d h e i t eines Menschen etwas mit einer Wahrheit zu tun hat. seine- Krankheit etwas mit einer Unwahrheit. Dies kann an Hand der sogenannten Neurosen nachgewiesen werden. Sie sind nicht be-wäligte Lebenskonflikte, die sich in irgendeine Art von Kranksein festfahren.

Bei C. G. Jung (Nervenarzt in Zürich), der Freudschen Ansätzen folgt, wird die Wesenheit des Menschen stammesgesdiidit-lich bedingt gesehen. So spielt neben dem personalen Unbewußten das kollektive Unbewußte eine große Rolle. A. Adler hingegen hebt den Zweck hervor, um den sich die menschlichen Verhaltensweisen gruppieren.

Das Übereinstimmende aller drei Grundrichtungen der analytischen Psychologie ist nun, den Mensdien lediglich als Geschöpf der Ratio, allein als Naturwesen zu betrachten. Das Problem der Person und ihrer Einheit wird völlig übersehen.

Viktor E. F r a n k 1 tastet sich mit seiner Logotherapie einen Schritt vorwärts. Er verlangt nicht nur die Analyse der Seele, sondern der ganzen Existenz des Menschen. Frankl anerkennt durchaus die vom Geiste geformte Einheit der Person. Der Mensch hat das „Bewußtsein in Verantwortlichkeit“. Somit führt Frankl etwas für den Menschen überaus Wesentliches ein: die Kategorie der Entscheidung. Denn erst sie ist die Kategorie der ganzen Fülle seiner Existenz. Doch läßt er offen, ob er den Menschen wirklich in der ganzen Fülle seiner Existenz erfaßt hat oder ob er auch in die Idee der Humanität verfangen ist, die die Wahrheit des Menschen vom Menschen aus bestimmt. Niemals vermag der Mensch in seinem Bewuß'sein die Lösung der Rätsel seines Bewußtseins zu entdecken, um die es sich hier handelt, und die tierische sowie die unbelebte Natur spiegeln ihm die eigen Wahrheit nicht zurück.

Die Wahrheit ist nun die — und deren gibt es nur eine einzige —, daß der Mensch Person ist, nicht Individuum, das in der gesichts- und geschichtslosen Reihe einer Werkschar zu irgendeiner Leistung antritt, sondern ein mit Verstand und freiem Willen ganz in sich ruhendes Ich. Die Bedeutung des Ich freilich hat die Psychoanalyse genügend laut in die Welt geschrieen. Doch die De-maskierung einer langwierigen Analyse hat das sdimale Ich zutage gefördert, das allein in der Welt steht, ohne daß sein Standpunkt ontologisch fixiert wäre. Und damit ist das Ich des Fundaments beraubt, es sinkt in Flugsand ein und ist wiederum nicht gehfähig.

Das Ich ist nur ganz gesehen, wenn seine Stellung in der Welt herausgehoben wird. Kein Atom, kein Abfall ist das Ich von einer etwa überall flutenden Weltseele, keine Absdinürung einer endlosen Kette von Stammesseelen. Das Ich ist eindeutig und einmalig zu bestimmen als vom absohlten Ich, von Gott erschaffen. Das

Ich ist erst ganz erhellt als Geschöpf im Antlitz Gottes.

Wir glauben, daß die Neurosebereitschaft der Modernen gerade in der inneren Wurzellosigkeit am tiefsten begründet ist. Es besteht kein Zweifel, daß das Leben wirklich fragwürdig geworden ist. Selbstverständlich ist der Aspekt, aus dem heraus man den Sinn des Lebens zu deuten versucht, nicht ganz unwesentlich. Wenn auch der Arzt keinen „weltanschaulichen“ Druck auf seine Patienten ausüben darf, so muß die Psychologie, wenn sie außerhalb der ärztlichen Ordination persönlichkeitsbildend sein will, den letzten Bezug des Menschen mindestens andeuten.

Di Lehre von der Seelenzergliederung oder der Seele bleibt ein Fragment, wenn sie die Seele als solche leugnet. Wenn die wissenschaftliche Psychologie auch, nur die Aufgabe hat, seelische Erscheinungen zu beschreiben und zu deuten, soweit das möglich ist und sie nach der Frage der, Einheit der Seele nicht vorzustoßen braucht, so ist der Satz von der den Menschen formenden substanziellen Seele doch an den Anfang einer Charakter- oder Persönlichkeitskunde zu stellen.

Uberhaupt erwarten die meisten Menschen von der Psychologie, daß sie imstande sei, den Charakter des einzelnen zu erfassen. Sie soll in die verborgensten Winkel seiner Seele Einblick geben. Darum haben die Entschleierungen der Psychoanalyse so anziehend gewirkt. Die wissenschaftliche Psychologie verfügt aber ebensowenig wie die Psychoanalyse über eine Methode, mit deren Hilfe sich der Charakter eines Menschen schnell und sicher feststellen ließe. Zunächst gilt es allgemeine Tatsachen des Se*lisdien herauszuheben. Aber gerade hier spielt das Individuelle eine so große Rolle. Im „Charakter“ sieht man die Grundlage des individuellen Verhaltens im weitesten Sinne des Wortes. Er ist also soviel wie die persönliche Eigenart des einzelnen Menschen.

Demgegenüber bedeutet „Persönlichkeit“ etwas viel Engeres: sie ist dasjenige, was man jeweils ist, Charakter, soweit und inwieweit er bisher zur Entwicklung und Auswirkung gekommen ist. Persönlichkeit ist das jeweils Aktuelle und Manifeste. Die Persönlichkeit kann sich im Laufe des Lebens ändern, der Charakter nicht; der Charakter umfaßt alle Möglichkeiten, die einem Menschen in das Leben mitgegeben sind; die Persönlichkeit ist nur dasjenige, was von ihnen bisher Wirklichkeit geworden ist.

Die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Persönlichkeitsdiagnose sind heute noch dürftig und werden sich erheblich erweitern, wenn die sich im Fluß befindliche Forschung über Psychologie und Physiologie des vegetativen Nervensystems noch weiter vorgetrieben sein wird. Bedeutsam sind heute die Forschungen von Professor E. Kretschmer (Marburg), der auf Grund sorgfältiger und sehr zahlreicher Untersuchungen Körperbautypen mit bestimmten Charaktertypen in Beziehung setzen konnte. So finden sich bei besonderen körperlichen Zeichen, bei eigentümlicher Bauweise, Charaktereigenschaften ebenfalls eigentümlicher Ausprägung. Aus den sehr umfangreichen Arbeiten wuchs eine sehr brauchbare Typenlehre Gesunder, die in mannigfacher Weise praktische Anwendung findet. Andere naturwissenschaftlichexperimentelle Erfahrungen kamen zu anderer Typeneinteilung. So ging E. R. J a e n s c h von der Beobachtung der Eidetik (Nachbildsehen) aus, G. P f a h-1 e r wieder versuchte eine Erbcharak-terologie zu begründen. Weitere Wege zur Persönlichkeitsdiagnose sind Leistungsbeobachtungen (Binet und Simon, Stern) und Ausdruckserfassung (Klages).

Jedenfalls ist es unmöglich die Vielfalt der Persönlichkeitsbilder, die sich aus den möglichen Kombinationen überwiegender Interessen, Triebe und Haltungen ergeben, in ein Schema zu pressen. Je grobmaschiger die Psychologie das Netz des jeweiligen Schemas knüpft, um so wissenschaftlicher geht sie vor. Die Feinheit der Persönlichkeit ist Sache der Einzeldarstellung und dem Genie des Dichters vorbehalten. Immerhin helfen die Ergebnisse der psychologischen Forschung die Entstehung der Persönlichkeit zu erklären. Es läßt sich zeigen, daß in fast jedem Menschen Bestrebungen gegensätzlicher Art vorhanden sind (Ambivalenz) und man darf wohl von der Zwie-, beziehungsweise Vielspältigkeit, des Menschen des 20. Jahrhunderts sprechen.

Allein, wir sehen aus diesen kurzen Andeutungen schon, daß die Psychologie, welcher Richtung wir auch folgen wollen, Phänomene beschreibt. In der Frage des Menschen, besonders, wenn er sie in einer Zeitenwende, wie der augenblicklichen, stellt, „Wer bin ich?“ oder „Was bin ich?“ schwingt die Beziehungsfrage mit: „Wohin gehöre ich?“

Die Beantwortung dieser Frage übersteigt allerdings das Sachgebiet der Psychologie, denn sie ist eine metaphysische. Doch gipfelt die Erkenntnis des Menschen eben in dem Bewußt werden seiner metaphysischen Verwurzelung, wenn sie zum wesenhaft Humanen aufgebrochen ist. Gerade die Gegensätzlichkeit seiner Interessen, das Ausschwingen des Pendels eines präzis arbeitenden Wertmessers, seines Gewissens, spricht für die Gültigkeit einer Norm, die dem Menschen von einem ewigen Wertbereich gegeben ist. In der Anerkennung dieses Absoluten, in der Hinwendung zum ewigen Prinzip verschmelzen die komplizierten Methoden seelenzergliedernder Sondierung in den Akt vollkommener Hingabe an den liebenden Willen des Schöpfers.

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