"Zwei parallele Schienen des Erlebens"

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Eine spannende Begegnung: Das Verhältnis von Psychoanalyse und Religion stand im Zentrum der "Maimonides Lectures" in Wien. Der israelische Psychoanalytiker H. Shmuel Erlich im Gespräch über die anhaltende Beschäftigung mit dem "ozeanischen Gefühl".

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Eine spannende Begegnung: Das Verhältnis von Psychoanalyse und Religion stand im Zentrum der "Maimonides Lectures" in Wien. Der israelische Psychoanalytiker H. Shmuel Erlich im Gespräch über die anhaltende Beschäftigung mit dem "ozeanischen Gefühl".

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Die "Maimonides Lectures" an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bemühen sich um den Dialog zwischen Wissenschaft und Religion . Die FURCHE traf H. Shmuel Erlich beim vierten Symposium zum aktuellen Thema "psychische Gesundheit".

DIE FURCHE: Als Psychoanalytiker beleuchten Sie die Macht der Lebensgeschichte. Was steckt hinter Freuds kritischem Zugang zur Religion?

H. Shmuel Erlich: Seine ablehnende Haltung hängt zusammen mit seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler und seiner Ausbildung im Zeichen der Helmholtz-Schule, mit ihrem strikt empirischen Ansatz und ihrer atheistischen Doktrin. Freuds Ambitionen zielten darauf ab, diese rigorosen Prinzipien auf die Erforschung des Seelenlebens zu übertragen. Aber seine Auseinandersetzung mit Religion war geradezu unaufhörlich. Das beginnt damit, dass er seiner Frau Martha verbot, die Shabbat-Kerzen anzuzünden, und setzt sich in seinen Briefen und Schriften fort. Egal ob diese klinische oder kulturelle Themen behandeln - quer durch sein ganzes Werk findet sich eine leidenschaftliche und letztlich ambivalente Beschäftigung mit Religion.

DIE FURCHE: Wie bewerten Sie Freuds Aussagen zur Religion?

Erlich: Er verglich religiöse Praktiken mit obsessiven Ritualen und beschrieb Religion als "universelle Zwangsneurose". Er fürchtete ihren Einfluss vor allem deshalb, weil sie zu einer verzerrten Realitätswahrnehmung führen könne. Aber ihm war bewusst, dass Religion ein zu komplexes Phänomen ist, um sie auf nur einen Aspekt zu reduzieren. Im Briefwechsel mit dem Schweizer Pfarrer Oskar Pfister etwa zeigt sich Freud beeindruckt, wie man die Psychoanalyse für die pastorale Arbeit verwenden kann (siehe Beitrag unten). Und es gibt die berühmte Korrespondenz mit dem Schriftsteller Romain Rolland, in dem dieser das "ozeanische Gefühl" als grundlegende religiöse Erfahrung beschreibt. Freud antwortete, dass er dieses Gefühl nicht bei sich entdecken könne. Das bedeutet aber nicht, dass es die Psychoanalyse von vornherein zurückweisen sollte.

DIE FURCHE: Sehen Sie heute mehr Chancen für die schwierige Begegnung von Psychoanalyse und Religion?

Erlich: Im psychologischen Denken fehlt die Thematisierung religiöser Erfahrungen auch heute noch weitgehend. Aber in der Psychoanalyse geht es nicht mehr nur um Triebe und Konflikte. Die letzten Entwicklungen haben zu einer stärkeren Akzeptanz der Erfahrungsdimension geführt. Insofern ist das Umfeld günstiger, sich mit Themen wie Ehrfurcht, Spiritualität und mystischem Erleben auseinanderzusetzen.

DIE FURCHE: Gibt es psychoanalytische Ansätze, in denen auch Raum für das Religiöse vorgesehen ist?

Erlich: Es beginnt bei Milton Erickson, der "grundsätzliches Vertrauen" als erste frühkindliche Entwicklungsphase beschrieb. Ein Resultat daraus ist "Glauben". Das ist nicht unbedingt religiös gemeint, aber es hängt direkt mit der Erfahrung der "Numinosität" der Mutter zusammen, wie Erickson sagt. Da schwingt schon eine religiöse Erfahrungsqualität mit. Der britische Therapeut Wilfred Bion wiederum bezog sich auf eine "ultimative Realität", die über unser Wissen und unsere Wahrnehmung hinausgeht. Menschen, die damit in Verbindung stehen, bezeichnete er als "Mystiker" - obwohl er sein Konzept selbst nicht explizit im religiösen Sinn verstand.

DIE FURCHE: Sie selbst haben in Ihrer Arbeit zwei grundlegende Erfahrungsqualitäten unterschieden: die Dimension des Handelns und die Dimension des Seins...

Erlich: Die Psychoanalyse geht traditionell davon aus, dass das Neugeborene noch nicht zwischen sich und seiner Umwelt differenzieren kann. Allmählich vollzieht sich der Wechsel von der ursprünglichen Dimension des Seins zur Wahrnehmung einer getrennten Welt und der Dimension des Tuns. Einheitserfahrungen, die später im Leben auftreten, werden daher oft als regressiv und pathologisch betrachtet. Mein Modell hingegen geht davon aus, dass unser ganzes Leben hindurch beide Dimensionen vorhanden sind - wie zwei parallele Schienen des Erlebens. Damit kann man religiöse Phänomene viel besser verstehen.

DIE FURCHE: Dieses Modell haben Sie auch zum Verständnis des modernen Dschihad herangezogen - inwiefern?

Erlich: Die geistige Welt der islamistischen Terroristen ist in der Dimension des Seins verhaftet. Die Menschen fühlen sich als Teil eines größeren Ganzen, in diesem Fall einer religiösen Ideologie, und glauben, dass ihr Leben nur innerhalb dessen eine Bedeutung erhält. Die Zeitwahrnehmung in dieser Dimension ist nicht linear fortschreitend, sondern zirkulär. Es gibt keine Ursache und keine Wirkung. Da Selbst und Objekt als vereint wahrgenommen werden, gibt es auch keinen Raum für Verluste.

DIE FURCHE: Für unsere psychische Gesundheit ist also die Entwicklung beider Wahrnehmungsdimensionen essenziell?

Erlich: Ja, beide Dimensionen sind auch wichtig für das Verständnis psychischer Störungen. Neurotische Konflikte wurzeln oft in der Tun-Dimension, aber bei schwererer Beeinträchtigung etwa durch narzisstische Störungen, Borderline-Syndrom oder Schizophrenie ist die "Seinsdimension" beschädigt. Die Betroffenen fühlen sich nicht verbunden, abgeschnitten vom Leben, wie tot. Borderline-Patienten ritzen sich oft sogar blutig, nur um sich lebendig zu fühlen.

DIE FURCHE: Sie haben die Nazareth-Konferenzen für den Austausch von deutschen und israelischen Psychoanalytikern ins Leben gerufen. Was war die Idee hinter diesem weiterhin aktuellen Projekt?

Erlich: Es begann damit, dass deutsche Psychoanalytiker das Gefühl vermittelten, sie hätten mit der Vergangenheit des Holocaust zu kämpfen. Und sie hatten offensichtlich kein Mittel, um damit umzugehen. Bei den Konferenzen geht man durch Gruppenerfahrungen, um unbewusste Projektionen und Verwicklungen aufzudecken. Da stößt man auf Stereotypen und Vorurteile. Wenn man dahinter einen Menschen entdeckt, ist das eine mächtige Erfahrung. Sie kann die eigene Identität verändern, weil diese immer auch darauf beruht, wer der Andere ist. Wenn sich die Wahrnehmung des Anderen verändert, wirkt das auf uns selbst zurück.

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