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Individualpsychologen in Wien

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Zu Anfang September fand auf dem traditionsreichen Boden der Wiener psychiatrisch-neurologischen Universitätsklinik der Internationale Kongreß für Individualpsychologie statt. Alle wissenschaftlichen Arbeitssitzungen waren der näheren Bestimmung eines Begriffes gewidmet, welcher in der heutigen Zeit von besonderer Bedeutung ist, des Gemeinschaftsgefühles. Bekanntlich war der Begründer der Individualpsychologie, der geniale Wiener Arzt Alfred Adler, lange Zeit Schüler Freuds gewesen, bis er sich schließlich mit dessen Konzept der Erfassung der menschlichen Persönlichkeit nicht mehr einverstanden erklären konnte. Vor allem schien ihm Freud allzu einseitig den persönlich^ privaten Bereich zu sehen, während die Frage der Einordnung in die soziale Gemeinschaft kaum berücksichtigt wurde. Gerade diese Dimension war aber Adler besonders wichtig, und daher begann er sein Lehrgebäude zu entwerfen, wejches den Menschen als Einzelindividuum und im ständigen Spannungsfeld mit den Problemen der Einordnung in das Gemeinschaftsleben sah. So kam es zur Unterscheidung zweier prinzipieller menschlicher Verhaltensweisen der „Ichhaft igkeit* und der „Wirhaftigkeit“, um es mit den Worten Künkels zu sagen, zur Gegenüberstellung des krankhaften Macht- und Geltungsstrebens, das die Forderungen des einzelnen auf Kosten anderer durchzusetzen versucht, mit dem Gemeinschaftsgefühl, welches nach den Worten von Adler, die Bereitschaft bedeutet, den anderen Wohlwollen, Arbeit und Liebe entgegenzubringen, ihnen das Leben zu erleichtern und zu verschönern. Seither läuft jede Therapie, die im Zeichen Adlers durchgeführt wird, darauf hinaus, den Patienten für die Gemeinschaft reif zu machen und ihn besser als bisher in das Gemeinschaftsleben, das vor allem durch Familie und Beruf repräsentiert wird, einzuordnen. Vom Beginn dieser Entwicklung an wurde immer wieder kritisch vermerkt, daß Adler eigentlich sehr oft vom Gemeinschaftsgefühl gesprochen hatte, aber jeder festlegenden Definition dieses Begriffes ausgewichen war. Charakteristisch für diesen Tatbestand ist eine seiner Äußerungen, die er abgab, als man ihn fragte, was denn eigentlich

unter Gemeirllchaftsgefühl zu verstehen sei. Er antwortete: „Wenn ihr das jetzt noch nicht wißt, dann kann ich euch nicht helfen.“ So blieben viele Fragen offen: Vor allem die, ob mit diesem Gemeinschaftsbegriff jene Form gemeint sei, die in einem bestimmten Kulturkreis herrscht - und bekanntlich sind diese Formen von Kreis zu Kreis sehr verschieden —, oder aber jene höchste Form der Gemeinschaft, die als ein Ideal, als erst zu verwirklichende Idee vor jedem Menschen mahnend steht. Es konnte auch nicht verborgen bleiben, daß die Anpassung an die jeweils in einer Gemeinschaft herrschenden Normen keineswegs immer das Zeichen der seelischen Gesundheit ist. In gewissen Zeiten — und wir haben sie erlebt - haben sich gerade die Besten gegen jene Gesetze erhoben, die zwangsweise von diktatorischen Regierungen als allgemeingültige deklariert wurden; man kann somit keineswegs sagen, daß die Abweichung von den Gesetzen der Gemeinschaft immer ein Symptom der Neurose sei; in bestimmten Zeiten ist ganz im Gegenteil das Aufgehen in der Gemeinschaft, die dann allerdings gewöhnlich eine Masse darstellt, ein neurotisches, eben ein massenneurotisches Phänomen.

Um so dankenswerter war es daher, daß dieses ebenso schwierige wie wichtige Thema auf dem Kongreß gründlich abgehandelt wurde. Dabei wurde in echter universalistischer Betrachtung die Rolle des Gemeinschaftsgefühls auf verschiedenen Gebieten — in der Psycho- und Gruppentherapie, in der Sozialpsychologie, in der Psychiatrie, in der Sexualpathologie, in der Erziehung, in der Kinderpsychiatrie und schließlich in der Biologie und Physiologie — geprüft. Erfreulich war dabei, zu sehen, daß an dieser fruchtbaren Diskussion nicht nur Persönlichkeiten teilnahmen, die im besten Sinne des Wortes die alte individualpsychologische Tradition repräsentieren (es seien nur die Namen Dreikurs, Bierer, Papanek, Ronge, Schaffer, Oskar Spiel und Weinmann genannt), sondern daß auch die junge individualpsychologische Schule sehr aktiv und gestaltend in Erscheinung trat. Das Ergebnis der vielfachen Resultate und Gespräche könnte man vielleicht dahingehend zusammenfassen, daß sowohl in Erziehung als auch in allen Formen der Psychotherapie das Gemeinschaftsgefühl eine dominierende Rolle spielt, vor allem auch in dem Sinne, daß es den Pädagogen, ebenso wie den Psychotherapeuten zwingend veranlaßt, sich selbst Rechenschaft zugeben, zu welchen Zielen er den Menschen fuhren will. Bei allen Unterschieden, die zwischen Pädagogik und Psychotherapie gegeben sind (Pädagogik — Formung der Persönlichkeit, Psychagogik — Förderung der gegestörten Persönlichkeit, Psychotherapie — Heilung der erkrankten Persönlichkeit, wie es Oskar Spiel formulierte) bleibt ihnen doch eines gemeinsam: daß ohne Weltanschauung weder Pädagogik noch Psychotherapie durchführbar sind und daß die Vorstellung einer sogenannten „neutralen“ Psychotherapie bzw. Pädagogik einfach eine Illusion bedeutet. An jede Analyse muß sich eine Synthese anschließen, in welcher Phase der Therapeut bei aller Zurückhaltung grundsätzlichen menschlichen und damit ethischen Entscheidungen nicht ausweichen kann. Darum stellt die philosophische Fundierung der Individualpsychologie, als eineT Form der Psychotherapie, eine Notwendigkeit dar (Brachfeld), darum führt sie letztlich zu einem Gemeinschaftsbegriff, der fundiert ist durch die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes (Ringel).

Vor Jahren hat hier in Wien der verstorbene große Individualpsychologe Ferdinand Birnbaum die Frage gestellt, ob es eine Konvergenz der tiefenpsychologischen Lehrmeinungen geben könne. Der abgelaufene Kongreß hat gezeigt, daß diese Frage absolut zu bejahen ist. Zumindest auf österreichischem Boden scheint die Zeit, da die einzelnen tiefenpsychologischen Richtungen einander erbittert bekämpften und das traurige Beispiel gegenseitigen Nichtverstehens boten, überwunden. Dies kam am deutlichsten in der feierlichen Eröffnungssitzung, bei der Ehrenpräsident Professor Hoff die Eröffnungsansprache und Frau Professor Alexandra Adler, die Tochter Alfred Adlers, den Eröffnungsvortrag hielten, zum Ausdruck. Begrüßten doch bei dieser Gelegenheit die Vertreter der anderen tiefenpsychologischen Richtungen, die in Wien Geltung haben, den Kongreß aufs herzlichste und wünschten ihm vollen Erfolg. Für die psychoanalytische Gesellschaft sprach Dozent Solms, für den Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie Professor Caruso und für die ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie Professor Frankl; alle diese Ansprachen waren von der Bereitschaft zur Zusammenarbeit getragen. Die Referate und Diskussionen des Kongresses ihrerseits aber zeigten keine starre Enge, sondern — wie bereits beschrieben — eine Aufgeschlossenheit gegenüber allen psychologischen und psychotherapeutischen Problemen, die ebenfalls als ein Beitrag zur Konvergenz der tiefenpsychologischen Lehrmeinungen anzusehen ist. So stellte der Kongreß, sowohl in seinem offiziellen als auch in seinem privaten Teil (der ebenfalb voll gelungen schien und die Teilnehmer aus den verschiedensten Ländern dei Welt einander wesentlich näherbrachte) eine echte Beitragsleistung (ein Lieblingswort Adlers) zur näheren Erschließung des Gemeinschaftsgefühls dar.

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