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Mehr als mir Anpassung?

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Alfred Adler, Schüler und später größter Widersacher Sigmund Freuds, der Begründer der Individual-psychologie, war zu Lebzeiten umstritten, angefeindet, von der Wissenschaft kaum beachtet. Ein Abtrünniger, der anscheinend nichts Wesentliches zu sagen hatte. Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurden seine Lehre und seine therapeutische Praxis in den Vereinigten Staaten wieder aufgegriffen, was symptomatisch für die radikal pragmatische und theoriefeindliche Haltung der Amerikaner ist.

Adlers Neurosenkonzeption geht vom Moment der Kompensation aus, vom Moment der Macht. Neurosen, seelische Konflikte und generell gesprochen, die Bildung der Persönlichkeit entstehen seiner Ansicht nach durch Minderwertigkeiten, die bereits in der Kindheit aufgetreten sind. Die kindliche Phantasie, die infantilen Sexualwünsche und -Verdrängungen, die Freud so betont, sind nach Adler nicht relevant. Gewiß ein sehr einseitiges und reduktives Konzept, gegen das Sigmund Freud oft genug polemisierte.

Kann Adlers Konzept heute überhaupt noch akzeptiert werden? Nach, Professor Ringel ja. Denn das zentrale Problem der heutigen Gesellschaft sei ein Machtproblem. Ein Machtproblem, das sich nicht nur in großen, übergeordneten Strukturen zeigt, sondern vor allem in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Machtstreben ist nichts anderes als eine Uberkompensation von „Minderwertigkeiten“, von Ängsten. Diese Machtkonstellationen sollten nach Ringel abgebaut werden, in der spezifischen Situation der Analyse. Das heißt, der Therapeut sollte seine Autorität dem Patienten gegenüber abbauen, beide sollten „ein partnerschaftliches Verhältnis“ anstreben.

Ringels Interpretation der Adler-schen Theorie läuft auf einen Abbau von Autorität hinaus, auf eine Ausschaltung von Macht, auf eine größere Widerstandsfähigkeit gesellschaftlicher Macht gegenüber, „denn nur eine Ichstärkung führt zu einer gesellschaftlichen Stärkung und zu Partnerschaft“.

Ringel wehrt sich vehement gegen den Vorwurf der gesellschaftlichen Anpassung, die eine Individualthe-rapie nach sich ziehen könnte: „Die Individualpsychologie bezieht die Gesellschaft bewußt in die Analyse mit ein, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verbessern“. Eine gewagte These, denn wie aus der geschlossenen psychoanalytischen Situation die Außenwelt bewältigt werden kann, vermag auch Ringel nicht recht zu erklären. Wenn Partnerschaft kein Schlagwort bleiben soll, muß sie wohl mehr sein als das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten.

Doch gerade in dieser Problematik scheint Adlers Theorie einer nackten Reduzierung der menschlichen Psyche auf einen Kompensationsmechanismus von Minderwertigkeitsgefühlen fragwürdig. Macht als einziges und dominierendes Prinzip menschlichen Handelns zu definieren, ist halt doch etwas einfach und reduzierend. Ist Adler heute wirklich noch modern? Diese Frage konnte Ringel auch in seinem gewiß brillant formulierten und durchdachten Vortrag nicht schlüssig beantworten.

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