6786923-1970_17_11.jpg
Digital In Arbeit

Der unteilbare Mensch

19451960198020002020

Manes Sperber, als Essayist und Erzähler gleichermaßen engagiert, ist sich auch diesmal treu geblieben. Er hat über Alfred Adler, den neben C. G. Jung bedeutendsten Schüler und Widerpart Sigmund Freuds, ein höchst engagiertes und zugleich höchst informatives Buch geschrieben. Das Engagement äußert sich in zweifacher Hinsicht, in sachlicher und in persönlicher: Sperber ist nicht nur gelernter Indi-vidualpsychologe, sondern der Mann, bei dem er's gelernt hat, war Alfred Adler selbst Und was die Informativität betrifft, so tritt auch hier — und hier schon ganz im Sinn der Adlersehen Lehre — eine gewisse Zweigeleisigkeit hervor: das Buch sagt über seinen Verfasser ebensoviel wie über seinen Gegenstand, die Lehre und ihren Lehrer.

19451960198020002020

Manes Sperber, als Essayist und Erzähler gleichermaßen engagiert, ist sich auch diesmal treu geblieben. Er hat über Alfred Adler, den neben C. G. Jung bedeutendsten Schüler und Widerpart Sigmund Freuds, ein höchst engagiertes und zugleich höchst informatives Buch geschrieben. Das Engagement äußert sich in zweifacher Hinsicht, in sachlicher und in persönlicher: Sperber ist nicht nur gelernter Indi-vidualpsychologe, sondern der Mann, bei dem er's gelernt hat, war Alfred Adler selbst Und was die Informativität betrifft, so tritt auch hier — und hier schon ganz im Sinn der Adlersehen Lehre — eine gewisse Zweigeleisigkeit hervor: das Buch sagt über seinen Verfasser ebensoviel wie über seinen Gegenstand, die Lehre und ihren Lehrer.

Werbung
Werbung
Werbung

Hätte sich nicht erst vor kurzem der Geburtstag Alfred Adlers zum 100. Male gejährt und wären da nicht die üblichen Gedenkartikel erschienen, dann wüßte die Öffentlichkeit — von den fachlich Interessierten abgesehen — über diesen Gegenstand kaum noch Bescheid. Die Individualpsychologie ist von ihrer Urmutter Psychoanalyse allem Anschein nach in die Ecke gedrängt worden.

Wer heute an moderne Seelenforschung denkt oder von ihr spricht, meint die Lehre Sigmund Freuds und verwendet ihre Fachausdrücke unbekümmert und meistens falsch im Alltags Jargon. Wer sich die Zigarette verkehrt anzündet oder Herrn Meier mit „Herr Müller“ anredet, zeiht sich mit souveränem Lächeln einer „Freudschen Fehlleistung“, obwohl sie keineswegs von Freud begangen wurde und obwohl die „Fehlleistung“ auch schon den „Freud“ enthält (denn eine andere als die von ihm so benannte gibt es nicht). Und wer die Rede auf einen eigenen oder fremden „Minderwertigkeitskomplex“ bringt, ahnt nur in den seltensten Fällen, daß er sich mit diesem Ausdruck — der besser „Minderwer-tigkeitsg e f ü h 1“ hieße — auf einen Fundamentalbegriff der Adlerschen Lehre bezieht.

Daß die Individualpsychologie jemals in ein solches Hintertreffen geraten könnte, war zur Zeit ihres Auf- und Hochkommens völlig unvorstellbar. Zumal am Ort ihrer Entstehung, im Wien der Zwischenkriegszeit, herrschte zwischen den beiden Schulen eine Rivalität, wie sie höchstens noch unter den Anhängern zweier um den Meistertitel kämpfenden Fußballklubs ein Gegenstück findet. Nie hätte sich ein Freudianer in einem Stammcafe der Adlerianer blicken lassen und vice versa. Anekdotenschmiede waren in beiden Lagern am Werk, um Geschichten in Umlauf zu setzen, die den Gegner diskreditieren sollten und das auf manchmal recht witzige Art besorgten. So wurde etwa von einem Diskussionsabend in der „Individualpsychologischen Gesellschaft“ berichtet, wo eine Teilnehmerin aus den USA sich heftig zu Wort gemeldet hätte, um zur Behandlung eines gänzlich andern Themas (sagen wir „Verbrechen und Strafe“) die stolze Mitteilung beizutragen: „Uir Amerikaner haben auch unsere Minderwertigkeitsgefühle“; und hätte sich wieder hingesetzt, im Vollbewußtsein eines gelungenen Schlags in Adlers Lieblingskerbe. Die Revanche aus dem Cafe Silier, der individualpsychologischen Hochburg, ließ nicht lange auf sich warten. Sie machten sich den Fall eines bekannten Wiener Privatbankiers zunutze, dessen Sohn unter der Manie litt, sich überall Geld auszuborgen, und da der Papa für jeden Betrag gut war, ging's überall glatt. Nach dem Versagen aller anderen Gegenmaßnahmen sei der junge Mann in psychoanalytische Behandlung gekommen und die Ab-schlußrechnung des Analytikers hätte gelautet: „10 Sitzungen ä 50S — 500 S, dem Herrn Sohn bar geborgt 300 S, zusammen 800 S.“

Es war eine schlechterdings weltanschauliche Kluft, die sich zwischen den beiden Schulen aufgetan hatte, und sie ging nicht nur auf den zu persönlicher Feindschaft verhärteten Bruch zwischen ihren Führern zurück, nicht nur darauf, daß die Psychoanalytiker in Adler einen Dissidenten sahen und die Individual-psychologen in Freud einen Despoten. Sie ging tiefer; und ihr weltanschaulicher Aspekt darf in der Tat nicht übersehen werden.

Er lag eigentlich schon der Trennung zugrunde. Wenn Adler dem „Primat der Sexualität“, dem Freud eine so übermächtige Rolle zuwies, nicht anerkennen wollte; wenn er dem Bild des vom Triebleben abhängigen Individuums das Postulat des „Gemeinschaftsgefühls“ entgegenstellte; wenn er die Schwierigkeiten des Einzelnen im Umgang mit der Gesellschaft für erheblicher und be-seitigenswerter hielt als die Schwierigkeiten im Umgang mit der Libido und sich mehr für „Minderwertigkeitsgefühl“ oder „Überkompensation“ interessierte als für „Ödipuskomplex“ oder „Sublimierung“, so tat er das alles im Hinblick auf eine ganz bestimmte Funktion seiner Lehre: der pädagogische Alfred Adler glaubte an die Möglichkeit, den Menschen zu erziehen. Er war ein Optimist und Sozialdemokrat. An dieser Stelle empfiehlt sich die Bereinigung eines formalen Mißverständnisses, dem die Individualpsychologie seit jeher ausgesetzt war. Sie heißt nicht deshalb so, weil sie sich den individuellen Kümmernissen des Menschen widmet, sondern weil sie den Menschen als eine im ursprünglichen Wortsinn individu-ale, als eine unteilbare Persönlichkeit betrachtet und behandelt. Sie opponiert also nicht einer etwa kollektivistischen Lehre Freuds, sondern im Gegenteil deren Neigung, aus dem unteilbaren Ganzen einen (irrationalen oder unbewußten) Teil herauszusondern, der alles übrige, was den Menschen ausmacht, beherrscht.

Mit Fug und Verdienst weist Sperber in diesem Zusammenhang auf die soziale Bedingtheit der von Freud entdeckten seelischen Krankheitssymptome hin, genauer auf ihre ökonomische Begrenzung: „(Es war) undenkbar, geradezu lächerlich, daß eine Frau des Volkes sich über ihre Nervosität beklagen könnte. Nervös war man erst von einem bestimmten Stand oder von einer bestimmten Einkommenshöhe aufwärts ...

Lärmempfindlichkeit, häufiges, durch nichts begründetes Unwohlsein... melodramatische Ohnmachtsanfälle, Überempfindlichkeit der Sinne... des Herzens und des Magens — all das war ein unabdingbar charakteristisches Attribut einer Person, die den besseren. Ständen angehörte.“ Daß auch Arbeiter und Arbeiterfrauen seelische Schwierigkeiten haben, zu deren Bewältigung sie ärztlicher Hilfe bedürfen: dieser Vorstoß in psychotherapeutisches Neuland war eine der großen Leistungen Alfred Adlers. Die individualpsychologischen Beratungsstellen und die in öffentlichen Fürsorgeinstitutionen tätigen Individualpsychologen haben sehr viel Gutes getan — „Gutes“ nicht im altbürgerlichen Sinn einer humanitären Almosenverteilung, sondern im Sinn einer humanistischen Erziehungsarbeit, wie Adler sie anstrebte.

Indessen muß vor allzu naiven Antithesen und allzu klobigen Definitionen gewarnt werden. Daß die Psychoanalyse eine „kausale“ und die Individualpsychologie eine „finale“ Methode sei, daß Freud nach dem „Warum“ menschlichen Verhaltens fragt und Adler nach dem „Wozu“ — mit solcher Vulgärunterscheidung war von Anfang an nicht viel Staat zu machen. Kein „Warum“, das sich nicht aufs „Wozu“ ausweiten würde, kein „Wozu“ ohne Rückgriff auf das „Warum“. In der Praxis hat sich die Angleichung ohnehin längst vollzogen, ist die einstige Divergenz längst zur Konvergenz geworden. Aber selbst in ihren Anfängen wiesen die Zielsetzungen der beiden Schulen mehr Gemeinsames als Trennendes auf. Natürlich wäre die Adlersche Therapie, ja seine ganze Lehre, völlig undenkbar ohne die Psychoanalyse, von der sie abstammt, natürlich waren Technik und Systematik wesensgleich, natürlich war Freud das bahnbrechende Genie und Adler der „down to earth“ operierende Anwender. Aber das macht ihn noch lange nicht zum Epigonen. Er hat die von Freud gebrochene Bahn in eine Richtung gelenkt, die durchaus Eigenständigkeit beanspruchen darf, er hat Verbindungswege hergestellt, die im „weiten Land der Seele“ (wie Arthur Schnitzler es nannte) eine bessere Kommunikation ermöglichten.

Es liegt auf der Hand und liegt in der Natur der Sache — nämlich des Menschen —, daß er dabei vielfach die gleichen Ausgangspunkte wahrnahm, also beispielsweise die Eindrücke der frühesten Kindheit als ebenso bestimmend für den in Formung begriffenen Menschen ansah, wie Freud es tat. Allerdings — und auch das wird von Sperber sehr einleuchtend dargelegt — erschienen ihm die unbewußt sexuellen Kindheitserlebnisse minder aufschlußreich als etwa die „Sprechverweigerung“, mittels derer ein von der Familie verzärteltes Kind den drohenden Verlust seiner Mittelpunktsposition zu verhindern sucht und sich solcherart anschickt, späterhin kein Auslangen mit der menschlichen Gemeinschaft zu finden. Offen bliebe die Frage, ob die glaubhafteren Schlüsse aus der egozentrischen Situation des Kleinkindes zu ziehen sind oder aus der libidinösen. „Sprechverweigerung“, im übrigen, ist eine jener glücklichen Wortschöpfungen, mit denen Adler manch einen komplizierten Sachverhalt blitzartig erhellt und umreißt. Zu diesen von Sperber hervorgehobenen „Schlüsselworten der Adlerschen Entlarvungspsychologie“ gehört auch der „Kunstgriff“, der aus vorgeblich Unbewußtem eine Gewissensentlastung hervorholt, gehört der „Aggressionstrieb“, der sich im Bedarfsfall zu einem „Arrangement“ mit der Umwelt versteht, ohne darum sein Ziel aufzugeben, gehört der ohneweiters verständliche „Gruppenegoismus“ und das „tendenziöse Apperzeptions-Schema“, von Sperber des öfteren und mit Recht durch die weniger anspruchsvolle Leseart ersetzt, daß man immer nur das akzeptiert, was einem „in den Kram paßt“.

Wie Sperber denn überhaupt mit Formulierungen aufwartet, die an Präzision und Prägnanz denen seines Lehrers um nichts nachstehen. So etwa, wenn er von der „Priori-tätshascherei“ konkurrierender Forscher spricht, von planmäßigen “Entwertungsverfahren“ und vom „Pathos des Verkanntseins“, wenn er den Unterschied zwischen „berechtigt“ und „begründet“ oder zwischen einer „deutungsbedürftigen Fehlleistung“ und einer „erklärungsbedürftigen Fehlhandlung“ definiert. Er ist, ungeachtet seines doch eher äußerlichen Abfalls von Alfred Adler, ungeachtet aller Widersprüche, die er anmeldet (und manchmal auch hervorruft), ein Adler-Schüler par excel-lence, ein exzellenter Individualpsy-cholpge.

Das zeigt sich nicht zuletzt in der selbstkritischen Unsicherheit, die ihn zu Fragestellungen veranlaßt, wo andere sich mit Feststellungen begnügen würden. Und es sind keine „Scheinfragen, die den Zugang zum wirklichen Problem blockieren“. Es sind Fragen aus echtem, produktivem Zweifel. Sperber hat den „Mut zur Unvollkommenheit“. Er weiß und sagt, daß man „zuerst lernen muß, wie man lernt, und schließlich, wie man lebt“. Er weiß und sagt, daß es „nicht genügt, als Mensch geboren zu sein; man muß lernen, als Mitmensch zu leben“.

Wenn aber dem allen so ist — worin bestünde dann das im Untertitel seines Buchs präsentierte „Elend der Psychologie“?

Nun: eben darin, daß all diese Erkenntnisse zwar zu Recht bestehen, aber zu keiner Wirkung kommen, dem Menschen, wenn's hoch kommt, zwar zu besserem Selbstverständnis verhelfen, nicht aber den Menschen zu gegenseitigem Verstehen; daß sie kurz gesagt, an der condition humaine nichts oder nur sehr wenig geändert haben. Das ungelöste „Restproblem“ (um noch rasch einen Adlerschen Terminus zu gebrauchen) ist größer als alle gelösten Probleme zusammen.

Immerhin wird, wer das Buch von Manes Sperber gelesen hat, besser als zuvor in der Lage sein, an der Abdeckung des Restes mitzuwirken.

MANES SPERBER: „Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie.“ Verlag Fritz Molden, Wien. In der Reihe „Glanz und Elend der Meister“. 300 Seiten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung