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Der Mensch im Zentrum

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6000 Teilnehmer, an die 2000 Referate - der VII. Weltkongreß für Psychiatrie in Wien vom 11. bis 16. Juli zeichnete das Bild einer Wissenschaft in Bewegung - und auch die Politik spielte eine Rolle.

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6000 Teilnehmer, an die 2000 Referate - der VII. Weltkongreß für Psychiatrie in Wien vom 11. bis 16. Juli zeichnete das Bild einer Wissenschaft in Bewegung - und auch die Politik spielte eine Rolle.

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Vor hundert Jahren schon glaubte die moderne Medizin, ihren wissenschaftlichen Standard erreicht zu haben und im Reigen der Naturwissenschaften permanenten Fortschritt spielen zu können.

Sie hatte „tabula rasa“ gemacht mit aller Tradition, um mit bewährten physikalischen und chemischen Methoden jener umfassenden Heiltechnik den Weg zu bahnen, die zu immer weiteren Erfolgen prädestiniert schien.

In diese Entwicklung der neueren Medizin eingeschlossen wurde — zwar verspätet, aber dann doch auffallend systematisch — auch die moderne Psychiatrie.

Dieses wissenschaftliche Fundament ist in den letzten Jahrzehnten erschüttert worden.

Die Medizin gilt — wenn man den kritischen Stimmen glauben will — längst nicht mehr als die Wohltäterin der Menschheit; sie dient eher der Profitmaximierung einer bürgerlichen Leistungsgesellschaft. Der Arzt wird folglich definiert und diffamiert als der „Kesselflicker des Kapitals“, insonderheit der Psychiater.

Dem Psychiater wird vorgeworfen, er betreibe seine Gehirnwäsche, um aus wachen und unruhigen Kranken brave und gesunde Marionetten zu machen, wo es doch seine Aufgabe sein sollte, psychisches Leiden transparent zu halten, um es zu transformieren auf politische Aktion.

Mit Sigmund Freud hat — so scheint es — eine gewaltige dionysische Gegenbewegung eingesetzt gegen die Grundpositionen jener Medizin, die seit jeher auf das Apollinische eingeschworen war: auf Apollon, den Arzt, den Heilgott.

Auf keinem Gebiete unserer Wissenschaft hat sich denn auch die Theorie von den „zwei Kulturen“ unheilvoller auswirken können als in den psychiatrischen Disziplinen.

Hervorgegangen aus einem humanisierenden Engagement, kam es auch in der Psychiatrie zu einer charakteristischen Konversion zur naturwissenschaftlichen Methodik, ehe sie wieder aufgebrochen wurde in die personalen Dimensionen.

Neben solchen methodologischen Grundfragen werden in Zukunft zweifellos auch konkretere Realitäten dominieren: das massenhafte Auftreten akuter exogener Zustandsbilder, etwa der Süchte, die erschreckende Zunahme der Defekt- und Abbausyndrome, etwa bei Alterspsychosen, die mißlungenen Anpassungssyndrome einer unter- wie auch überentwickelten Massengesellschaft und damit ein eklatanter Wandel der psychiatrischen Klientel.

Unter dem Stichwort der „Anti- Psychiatrie“ läßt sich denn auch die mit den siebziger Jahren auf- kommende elementare Unsicher heit auf allen Gebieten der Psychiatrie am ehesten verstehen als eine fundamentale Verunsicherung dieser für Ideologien so anfälligen Disziplin.

Auf keinem Felde der modernen Medizin hat sich die Kluft zwischen Theorie und Praxis verhängnisvoller ausgewirkt:

Hier die vornehmere Installation einer letztlich im akademischen Raum doch nicht anerkannten Universitäts-Psychiatrie, dort die Asyle, die Heilanstalten einer blassen Versorgungspsychiatrie, während doch Forschung und Lehre, Behandlung und Versorgung zugleich nur möglich erscheinen in einem hochkomplexen, integrativen Verbundsystem.

Ethische Grundfragen begleiten und belasten heute das gesamte Indikationsspektrum der Psychiatrie, angefangen vom immer bedenklichen Eingriff und einer Motivation zum Eingreifen über die ganze Kette intervenierender Maßnahmen, der Prävention und Kuration ebenso wie der Rehabilitation und Resozialisierung, bis hin zur immer von neuem notwendigen Legitimation eines Eingriffs, der immer auch verbunden bleibt mit Mißgriff, Fehlgriff, Übergriffen.

Versuchsplanung und Qualitätssicherung, sie sind neuerdings, und in Zukunft vermehrt, zum Thema sogenannter „Ethikkommissionen“ geworden, wie sie in Europa allerorts von Ärztegremien, medizinischen Fakultäten und Standesorganisationen eingerichtet werden und bald auch im Raum der Psychiatrie.

Als Kern aller Psychiatrie bleibt der ärztliche Auftrag, fachkundige Hilfe zu leisten in seelischer Not, um die Not zu wenden, zu lindern, zu helfen, zu heilen.

Aus dem reißenden Strudel begrifflicher Relativierung rettet uns letzten Endes immer wieder und immer nur die klinische Erfahrung, das, was einem Arzt an Erscheinungen begegnet mit jedem einzelnen Kranken.

Der klinische Aspekt bildet nun einmal das Zentrum: als der Blick auf den einzelnen Menschen, der gestört ist und gekränkt wurde und nun als krank erscheint.

Wenn abschließend von der „patientenorientierten“, der sogenannten anthropologischen Psychiatrie die Rede sein soll, dann ist nichts weniger gemeint als die Begegnung einer medizinischen Disziplin mit den Geistesund Sozialwissenschaften, aber auch die wechselseitige Befruchtung biologischer, psychologischer und soziologischer Partialwissenschaften.

Ein neues, integratives Plateau der modernen Psychiatrie in Bewegung verlangt die Umstrukturierung der Anstalten, eine Rehu- manisierung der Pflege- und Behandlungsformen, die Optimierung der Rehabilitation und stellt nicht zuletzt auch die primäre Prävention wieder vor Augen: eine Resozialisierungskette in jener „therapeutischen Gemeinschaft“, die letzten Endes eine Kulturbewegung in Gang bringt.

Von daher lassen sich neue Strategien einer umfassenden Hygiene in allen Lebensbereichen erwarten: eine primäre Grundversorgung mit Methoden und Modellen jener präventiven Medizin, die im Umgang mit Kranksein und einer Partizipation an der pathischen Situation versucht, eine Prophylaxe großen Stils auf weltweitem Niveau zur Vermeidung seelischer Leiden in die Wege zu leiten.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Heidelberg.

Schon in der Eröffnungssitzung bedauerten alle Redner den Schatten, den die Politik auf diesen VII. Weltkongreß für Psychiatrie in Wien geworfen hatte. Tatsächlich konnte der Austritt der sowjetischen Psychiater aus dem Weltverband den Eindruck nur verstärken, daß die Psychiatrie weltweit ständig der Gefahr ausgesetzt ist, politisch vereinnahmt zu werden.

So gab es denn am Rande des Kongresses mehrere Veranstaltungen, bei denen auf den Mißbrauch der Psychiatrie vor allem in den totalitären Staaten hingewiesen wurde. Daß die Psychiater insgesamt diese Gefahr erkannt haben, beweist schon die Wahl des sowjetischen Psychiaters Anatoli Ko- ryagin zum Ehrenmitglied des Weltverbandes. Koryagin gehörte seit 1979 zu einer Arbeitskommission, die sich innerhalb der Sowjetunion die Aufklä rung des Mißbrauches der Psychiatrie zu politischen Zwecken zum Ziel gesetzt hatte (siehe auch untenstehenden Beitrag). Für diese seine als „antisowjetisch“ angesehene Tätigkeit wurde Koryagin 1981 auch zu sieben Jahren Straflager verurteilt.

Aber auch in den westlichen Demokratien ist die Psychiatrie in den letzten Jahren durch die sogenannte Antipsychia- trie-Bewegung zunehmend unter öffentlichen Beschuß geraten. Positiv zu vermerken ist jedenfalls,daß die Schulpsychiatrie — das hat auch dieser Weltkongreß bewiesen — die Bereitschaft erkennen hat lassen, über die Kritik nachzudenken. „Im großen und ganzen wird die Psychiatrie besser — sie ist aber noch immer schlecht genug“, zieht der Wiener Tiefenpsychologe Hans Strotzka ein Resümee der Kongreßarbeit. T. T.

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