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Die psychische Hygiene und Österreich

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Psychische Hygiene, der Inbegriff aller Bestrebungen nach seelischer Gesunderhaltung der Gesunden und nach Bewahrung der seelisch Gefährdeten vor seelischer Erkrankung, ist heute Ausdruck und Gegenstand einer“ weltumspannenden Bewegung, die in dieser modernen Gestalt ihren Ausgangspunkt in den Vereinigten Staaten von Amerika gefunden und von :da über Europa, ja über die ganze zivilisierte Welt ihren Weg genommen hat. Dieses neidlos anzuerkennen, ist Pflicht eines jeden, der in dieser Bewegung tätig ist. Es soll aber auch nicht vergessen sein, daß der Urheber dieser Gegenwartsbewegung kein Arzt gewesen ist, kein Fachmann überhaupt, sondern ..ein Laie, Clifiord H. B e e r s, der als Kranker geraume Zeit hindurch Insasse amerikanischer Irrenanstalten war und als solcher Gelegenheit hatte, dort Übelstände am eigenen Leibe zu erleben, derlei die Irrenpflege in den zivilisierten Ländern Europas bereits mehr oder minder überwunden hatte. Das Buch, das ihn zum Verfasser hat, erregte in Amerika gewaltiges

Aufsehen und wurde so zum Motor einer Bewegung, die, mit echt amerikanischem Elan vorwärtsgetrieben, in unaufhaltsamem Siegeszug das Erdenrund sich erobern sollte. Heute ist sie zusammengefaßt in einer im wahren Wortsinne weltumspannenden Organisation, die im vergangenen Sommer zu Genf bereits einen Dritten Internationalen Kongreß abzuhalten imstande war, eine wahre Heerschau aller führenden Vorkämpfer für die Belange seelischer Gesundheit.

Es konnte angesichts dessen nicht wundernehmen, daß es vor allem angelsächsische Fachgenossen, aber auch interessierte und wirksam mitarbeitende Nichtärzte des angelsächsischen Kulturkreises gewesen sind, neben ihnen nur in Minderzahl Gleichstrebende aus allen Kulturstaaten, welche der imposanten Genfer Versammlung die bezeichnende Note gegeben haben. Und doch: Es muß gerade angesichts dieser an sich gewiß berechtigten tatsächlichen Hegemonie betont werden, daß das Ideengut, wie es den Lehren und den Bestrebungen der psychischen Hygiene zugrunde liegt, zu einem sehr wesentlichen Teil nicht bloß aus Europa und auch nicht einfach schlechtweg aus dem deutschen Sprachraum, sondern in,ganz besonderem Maße aus Österreich und hier wiederum aus Wien stammt. Das wird leider nicht nur außerhalb unseres Vaterlandes vielfach nicht gewußt, son-sondern es wird gerade daheim bei uns selbst mehr als einmal übersehen; mag es auch angesichts der drückenden Verhältnisse, unter denen Österreich heute leidet, und mag es auch angesichts der materiellen Förderung, die wir nicht zuletzt eben von Amerika her erfahren, psychologisch bis zu einem gewissen

Grade verständlich sein. Auch zu einer wirksamen Ausgestaltung aller psycho- hygienischen Bestrebungen, gehört Geld, Geld und wiederum Geld. Solches Geld hat das amerikanische Riesenreich genug zur Verfügung; es eignet ihm und seinen Bewohnern aber noch etwas Zweites, nämlich eine tatfreudige Organisationsbegabung, dank derer mit den zur Verfügung stehenden materiellen Mitteln auch planvoll und zielbewußt gearbeitet wird. So ist es nicht verwunderlich, wenn das von CliffordH. Beers gegebene Signal in verhältnismäßig kurzer Zeit zum Werden eines Werkes in.den Vereinigten Staaten den Anstoß gegeben hat, dessen gigantischer Bau unsere uneingeschränkte Bewunderung verdient. Niemandes Bewunderung könnte aufrichtiger sein als jene des Schreibers dieser Zeilen, den seit Jahren, wiewohl er selbst niemals in Amerika gewesen, .die ehrendsten Beziehungen mit hochangesehenen amerikanischen Kollegen und mit einer der angesehensten wissenschaftlichen Gesellschaften Amerikas verbinden.

Eben gerade darum sieht er sich verpflichtet auszusprechen: Der erste, der in, man könnte fast sagen, umfassender Weise, auf wissenschaftlicher Grundlage Grundsätze seelischer Hygiene gelehrt und verkündet hat, war schon im Vormärz, vor mehr als 100 Jahren also, Feuchter s-leben, ein österreichischer Arzt. Es war ferner ein seinerzeit unzweifelhaft als Österreicher anzusprechender Naturforscher, der sudetendeutsche Priester Gregor Mendel, der vor vielen Jahrzehnten schon jene Gesetze entdeckt hat, auf denen fußend sich eine wissenschaftliche Eugenik zu entwickeln vermochte, dieses so sehr wichtige Kernstück aller seelischen Hygiene. Und wiederum war es ein Österreicher, der hochbetagt noch heute in unserer Mitte lebende Professor Erich Tschermak-Seysen-e g g, der neben Correns und de Vries die in Vergessenheit geratenen Mendel sehen Erbgesetze wiederentdeckt und damit moderner menschlicher Erbkunde so recht erst zugänglich gemacht hat. In der Folge waren österreichische Gelehrte führend in der Schar jener europäischen Psychiater zu finden, die, ohne ausdrücklich von psychischer Hygiene zu sprechen und zu schreiben, praktisch psychische Hygiene höchst wirksam betrieben und vorwärtsgetrieben haben, vor allem Wagner-Jaur-e g g, der mit seiner systematischen Kretinismus- und Kropfbekämpfung zur seelischen Assanierung namentlich weiter Kreise der Gebirgsbevölkerung und darüber hinaus zur Vorbeugung seelischer Störungen in breiteren Kreisen der Bevölkerung überhaupt entscheidend beigetragen hat. Und kaum war dann von jenseits des Ozeans das neue Fanal entzündet worden, da traten auch schon Österreicher auf den Plan, um sich in die Reihen der Kämpfer für die seelische Gesundheit führend einzuordnen. Hier sei der Name Berze genannt, der Name eines Mannes, der noch heute hochbetagt unter uns wirkt. Und in jungen Jahren schon hat der zu früh aus unserer Mitte gerissene Otto Kau der s hier energisch mit Hand angelegt und vor allem in persönlichem Einsatz die Fäden geknüpft, welche Wien, die alte Pflanzstätte seelischer Hygiene, mit deren neuem Mutterlande, Amerika, verbinden sollten. Schließlich darf der Schreiber dieser Zeilen darauf hinweisen, daß aus seiner Werkstatt — abgesehen von dem mit einer Reihe von Mitarbeitern herausgegebenen „Leitfaden der psychischen Hygiene“, dem ersten in deutscher Sprache —, vor vielen Jahren schon jene Impulse hervorgegangen und im wissenschaftlichen Sektor auch in die Tat umgesetzt worden sind, die sich heute, wie sich gerade wiederum in Genf gezeigt hat, zu den wesentlichsten Bestrebungen der psychischen Hygiene ausgewachsen haben, vor allem der Impuls zu einer „angewandten Psychopathologie“, will sagen einer Anwendung psychopatho-logischer Erkenntnisse auf sozialpsychologische Belange im allerweitesten Wortsinne, im Interesse der seelischen Gesunderhaltung und der seelischen Prophylaxe nicht nur der Einzelmenschen, sondern auch des sozialen und nationalen Ganzen und der überstaatlichen Beziehungen. Hierüber wurde bei der Tagung in Genf gerade von den angelsächsischen Faktoren eingehend verhandelt und gehandelt, ohne daß sie geahnt hatten, wie sehr sie hier mit dem österreichischen Vorspann pflügten: sie waren ehrlich erstaunt, als ihnen dies vor Augen geführt, ward, sie wußten davon jedoch schier nicht das geringste.

Es ist hier nun noch etwas sehr Wesentliches anzumerken. Psychische Hygiene hat sich, und dies ward vorhin schon deutlich zum Ausdruck gebracht, mit in vorderster Linie mit den durch Anlage oder Milieu Gefährdeten zu befassen, um sie vor weiterem Schaden zu behüten. Die psychische Hygienebewegung, vor allem in den angelsächsischen Ländern, stellt nun gerade diese Bestrebungen in die allervorderste Reihe. Kürzlich hat H. Hof f, der ja durch eine Reihe von Jahren im angelsächsischen Kulturbereiche, vor allem in Amerika, gelebt Und nun hierzulande speziell die vorbeugende Behandlung epileptischer und epilepsiegefährdeter Kinder in die Hand genommen hat, in einem lesenswerten Aufsatze von diesen weitausgreifenden Fürsorgeeinrichtungen, zumal in Amerika, berichtet, aber auch den spezifischen Genius herausgestellt, der dort am Werke ist. Es entspricht nämlich amerikanischer und vielleicht angelsächsischer Mentalität überhaupt, sich bei der Institution und Organisation solcher fürsorgerischer Maßnahmen für die Gefährdeten, die Schwachbegabten, die Epileptischen, die Trinker, die Verwahrlosten, und hier vor allem für die kindlichen Individuen, innerhalb dieser und verwandter Zugehörigkeitsbereiche neben gewissen sentimentalischen Motiven, vor allem auch von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmen zu lassen. Solche seelische Koppelung von Motiven gefühlsmäßiger Caritas und ökonomischer Vernunft trifft man bekanntlich in der angelsächsischen Welt recht häufig an. Dem praktischen Verstände des Amerikaners und vielleicht auch des Angelsachsen überhaupt leuchtet es ein, daß der Staatssäckel und der Säckel des einzelnen in letzter Konsequenz mehr geschont wird, wenn man allen diesen irgendwie Gefährdeten und seelisch von Haus aus Minderwertigen beizeiten vorbeugend hilft und sie dergestalt wenigstens teilweise nicht zu zehrenden, sondern zu produzierenden Mitgliedern der Gemeinschaft werden läßt. Es ist unbestreitbar, daß wir uns hier mit einer großzügigen Konzeption konfrontiert sehen. Nur sei wiederum nicht vergessen, daß mit kleinen bescheidenen Mitteln auch hier gerade Wien vorangearbeitet hat. Der ehemalige Wiener Polizeibezirksart Dr. M e t z 1 hat vor vielen Jahren .schon etwa eine muster-qültige Trinkerheilfürsorge auf freiwillig kooperativer Selbsthilfebasis, wie sie jetzt in Amerika geübt wird, ins Leben gerufen und segensreich durch Jahre fortgeführt. Auch das gerade von angelsächsischer Seite, so erst wiederum in Genf, urgierte Hineintragen psycho-hygienischer Kenntnisse -und Maximen ins Volk und nicht zuletzt unter die Studentenschaft ist vor Jahren schon hier in Wien praktiziert worden und wird nach wie vor weitergeübt; so wurden auf die Initiative des Schreibers dieser Zeileft schon 1932 hier in Wien (und das Jahr darauf in Graz) für die Mittelschulabiturienten solche Vorlesungen abgehalten und wurden und werden sie hier in Wien seit Jahrzehnten in den Volkshochschulen durchgeführt, wobei wir alle mitwirken, die wir psycho-hygienisch tätig gewesen und es heute noch sind; seit zwei Jahren unter der Ägide der von K a u d e r s ins Leben gerufenen und zur Zeit vom Schreiber dieser Zeilen geleiteten österreichischen Gesellschaft für psychische Hygiene, die, vom Sozialministerium durch Subventionierung gefördert, auch für die Ausbildung von Außenfürsorgerinnen Sorge trägt, daran es bei uns noch etwas mangelt. Weiter darf gesagt werden, daß der ungemein rührige junge Wiener Psychohygieniker Dr. J e c h seit einem Jahr schon still und selbstlos und dabei erfolgreich auf dem Gebiete der Psychohygiene in der Industrie, der bewährte Pädagoge Direktor Spiel in auch vom Auslande her als vorbildlich anerkannter Weise auf dem Gebiete psychohygieni-scher Pädagogik tätig ist. Auch in den Bundesländern war man nicht müßig: in der Steiermark hat Professor H o 1 z e r, in Oberösterreich hat Primarius B e i c h 1 verdienstvoll Landesorganisationen ins

Leben gerufen, Tirol wird bald folgen und dann auch andere Länder.

Vor allem aber — und gerade in diesem Punkte' hat der Verfasser und haben darüber hinaus auch andere Wiener Psychohygieniker ihre Stimmen erhoben — ist die weitaus vornehmste Aufgabe seelischer Hygiene die Gesunderhaltung der zumal durch die moderne Industriezivilisation und vollends durch die schrecklichen Gegenwartsverhältnisse aufs äußerste bedrohten, ohnehin auf ein bedenkliches Kleinmaß zusammengeschrumpften Zahl physisch und s e e-lischGesunder, unersetzlichen Kerngutes jedes Landes, jedes Volkes. Europa ist gerade an dieser via regia aller psycho-hygienischen Bestrebungen in ganz besonderem, ja in vitalstem Maße interessiert, sie sind in unserem Erdteil allermindestens ebenso vordringlich wie die Fürsorge für Minderwertige.

Wir Ärzte haben eine dreifache Aufgabe zu erfüllen: Kranke zu heilen, Gefährdete zu schützen, Gesunde zu bewahren. Die letzte von diesen drei Aufgaben scheint heute mehr denn je eine gebieterische. Hier deckt sich psychische Hygiene zu einem Großteil mit wissenschaftlicher Eugenik. Unsere Liebe und Sorge gehört den Kranken, Leidenden und Bedrohten aller Art, die sich uns anvertrauen, gehört aber in nicht minderem Maße allen unseren Brüdern und Schwestern, die, noch gesund an Leib und Seele, heute mehr denn je Gefährdungen physischer wie moralischer Natur ausgesetzt sind! Ihnen in all ihren Belangen und Nöten warnend und vorbeugend und damit helfend zur Seile zu stehen, im Dienste reiner Menschlichkeit und fußend auf rein wissenschaftlichem Erkennen und Wollen und so auch ihren Nachfahren zu dienen, ist unabdingliches Gebot ärztlicher Ethik. Auch hier leistet, gefördert von der Weltgesundheitsorganisation und der internationalen Organisation für psychische Hygiene, unsere österreichische Gesellschaft stille, aber erfolgreiche Arbeit.

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