6647747-1958_34_07.jpg
Digital In Arbeit

„Mental Health“ — wozu?

Werbung
Werbung
Werbung

In Wien wird in der Woche vom 24. bis 29. August die 11. Jahresversammlung der „Internationalen Vereinigung für seelische Gesundheit“ abgehalten, zu der mehrere hundert Delegierte aus allen Teilen der Welt erwartet werden. Das diesjährige Thema lautet „Entwurzelung und Wiedereingliederung“ und umfaßt neben dem weltweiten Flüchtlingsproblem die grundlegenden Fragen der Umwelts- und Ortsbeziehungen, wie sie durch Wohnung und Heim gegeben sind, lieber die Zielsetzung der „Mental-Health“-Bewegung unterrichtet der folgende Aufsatz. (Siehe auch Notiz, Seite 16.)

Als wir vor zwei Jahren an der Auswertung einer über 4000 Personen umfassenden soziologischen Feldforschung in Wien arbeiteten, stießen wir auf ein erstaunliches Ergebnis: Die Bewohner einer „wilden Siedlung“ waren mit den baulich mangelhaften und beengten Behausungen zufriedener als eine ihnen vergleichbare Gruppe, die# schlüsselfertige Wohnungen in einer Stadtrandsiedlung von der öffentlichen Hand zugewiesen erhalten hatte. Nach genaueren Untersuchungen erkannten wir, daß der „Zu-friedenheitsspiegel“ der Bretteldorfleute dadurch entscheidend gehoben wurde, daß sie sich ihre Hütten und Häuser selbst erbaut hatten. Die innere Anteilnahme an den selbstgeschaffenen Wohnstätten ließ deren faktische Nachteile in den Hintergrund treten.

Bei einer jetzt in Auswertung stehenden Untersuchung von Lebensproblemen alter Menschen (auf Grund einer Stichprobe von .über looo Personen) zeigte sich ein ähnliches Resultat in noch schärferer Form. Es ist verständlich, daß kranke und noch dazu.alte Menschen ihre gesamte Lage düster beurteilen. Ueberraschend aber war für uns, daß psychosozio-logische Faktoren, wie Familienkontakte, häufige Besuche, Zufriedenheit mit dem örtlichen Milieu, das Urteil über den eigenen Gesundheitszustand grundlegend bestimmen können. Wer in unseren Forschungen als charakterlich ausgeglichen und sozial „eingebettet“ erschien, hielt sich für gesünder und gab weniger Beschwerden an. Daraus läßt sich wohl ableiten, daß der Begriff der Gesundheit erweitert gefaßt werden muß, denn psychische Faktoren — ausgelöst zum Teil durch soziale Gegebenheiten — scheinen den selbstgefühlten Grad des Wohlbefindens und der Gesundheit festzulegen. Darum werden sie auch zum Gegenstand einer For-schungs- und Arbeitsrichtung, die in den angelsächsischen Ländern den Namen „Mental Health“ führt und im deutschen Sprachgebrauch zumeist „psychische Hygiene“ genannt wird.

Gibt es gesunde und kranke Gesellschaften? Der österreichische Nervenarzt Doktor H. Strotzka lehnt in einer kürzlich erschienenen Studie*) solche in dieser Frage enthaltenen Kollektivurteile ab, doch ist er durchaus der Meinung, daß in einer Gesellschaft Bedingungen bestehen können, die bestimmte Arten körperlicher und seelischer Erkrankungen begünstigen oder eindämmen können. Es ist für die „Mental-Health“-Bestrebungen wichtig, daß solche Bedingungen genau erkannt und beschrieben werden. Die Soziologie ist es, die eine Erkenntnis dieser Bedingungen leistet. Sie geht den Besonderheiten des Bevölkerungsaufbaues nach — etwa dem Ausmaß der Kinderlosigkeit oder der Ueberalterung einer Gesellschaft — und stellt Forschungen darüber an, welche Auswirkungen es auf die Mentalität einer Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen hat, wenn etwa ein Drittel oder die Hälfte der Ehen der mittleren Altersjahrgänge kinderlos sind, oder, wie in Wien, auf zwei Menschen unter 50 Jahren (die Kinder inbegriffen) einer mit 50 Jahren oder mehr Jahren kommt. Das Bild seelischer Störungen sieht, — wie wir aus Pionierstudien auf diesem Gebiet wissen — bei Gesellschaften, die durch den Altersaufbau einen Traditionsüberhang aufweisen, anders aus als dort, wo die jüngeren Jahrgänge schon zahlenmäßig gegenüber den älteren eine feste Position haben.

Um für ihre Aktionen über eine methodisch gesicherte wissenschaftliche Ausgangsbasis zu verfügen, bedarf die psychische Hygiene stets der Soziologie. Diese Meinung hat auch Prof. H. Hoff, der sich nach Prof. E. Stranskys bahnbrechendem Wirken um die Entwicklung der Mental Health in Oesterreich bemüht, wiederholt vertreten. Will die psychische Hygiene nämlich, über Klinik und Ordination hinaus, vorbeugend und korrektiv in die breitere Gesellschaft hineinwirken, so wird sie sich, zusätzlich zum Grundstock ihrer psychologischen und psychiatrischen Erkenntnisse, für ihre Tätigkeit in den verschiedenen Alters- und Berufsgruppen, sozialen Schichten und Milieus, in städtischer oder ländlicher Umgebung, Großstadt und Industrie, Familie und Erziehung sowie für ihre Mitsprache bei Planung und Gesetzgebung soziologische Einsichten und Forschungsergebnisse zunutze machen müssen.

Der Arzt, so sehr er Statistik, Messung und Zahl als Hilfsmittel heranzieht, geht vom ein* zelnen Menschen aus; die Soziologie klärt die bevölkerungsmäßigen Voraussetzungen und Begrenzungen eines psychischen Problems, legt die Proportionen innerhalb einer Gesellschaft dar, forscht nach den Wertvorstellungen, welche Regelmäßigkeiten und Typen in den Handlungen erzeugen. Sie sucht auf Grund von Erhebungen und Befragungen das Bild von Verhaltenssystemen zu erarbeiten, die in gemeinsamen Traditionen verankert und durch allgemeine Erwartungen festgelegt wurden, und brinet die geschichtlichen Wirkkräfte und die Zivilisationsgegebenheiten ins Blickfeld. Die von ihr verfolgten systematischen Zusammenhänge wirken auf die Einzelfälle ein und sind aus ihnen auch wieder abzulesen. 5)

Wenn sich neue, den Menschen direkt be-, treffende „Eorschungs-, und Arbeitsw.eisen.ientr • wickeln, wird oft die Frage nach dem Verhältnis zur Religion gestellt. Dies ist bei der Zielsetzung der psychischen Hygiene besonders verständlich, weil doch in fast allen hochent-widcelten Religionsformen dem Thema der Heilung, des Körpers wie der Seele, ein hervorragender Platz eingeräumt wird.

Wie der belgische Jesuit und Psychotherapeut Prof. P. Ä. G o d i n im Vorjahr bei einem Vortrag in der Wiener Gesellschaft für Psychische Hygiene über „Seelische Gesundheit und christliches Leben“ darlegte, muß zwar ein seelisch gesunder Mensch nicht unbedingt religiös und ein religiöser Mensch nicht unbedingt seelisch gesund sein, da die „Gnade Gottes ihr Heiligungswirken auch in einer sehr gestörten Seele vollführen könne“. Anderseits aber ist die „Integration aller affektiven und intellektuellen Kräfte“ zu einer reifen Persönlichkeit, ist ihre Kontaktbereitschaft und Widerstandskraft gegen Aengste die Voraussetzung für ein unverzerrtes christliches Leben. Prof. Godin legte auf Grund seiner Forschungen ein ausgedehntes System von psychisch-hygienischen Gesichtspunkten für die religiöse Unterweisung und Erziehung in der Kindheit vor. :

Wir können wohl mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß Forschung und Anwendung von Erkenntnissen auf dem Gebiet der „Mental Health“ einerseits und Heils Verkündigung und Heilsglaube der Religion *anderseits voneinander verschieden sind, von Gläubigen jedoch miteinander vereint werden können.

Es sind die Bemühungen der „Mental Health“ auch nicht mit der Utopie verbunden, daß alle menschlichen Spannungen gelöst; oder daß deren Ursachen beseitigt werden könnten. Allerdings suchen die Psychohygieniker von ihrem Standpunkt eine Antwort auf die Frage zu geben, die H. Strotzka formuliert: „Wie kommt man zu kooperierenden Gemeinschaften, deren Spannungen fruchtbringend und nicht zerstörend wirken?“

Zu einer Arbeit in solcher Richtung (in und außerhalb des bevorstehenden Kongresses) kann man wohl ungeteilten Sinnes vollen Erfolg wünschen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung