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Wer kennt wirklich meine Leiden?

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So gut sich die moderne Medizin bei der Behandlung von Krankheiten bewährt, so unbeholfen geht sie immer noch mit der Psyche der Patienten um. Vor allem Frauen fühlen sich oft einfach abgefertigt.

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So gut sich die moderne Medizin bei der Behandlung von Krankheiten bewährt, so unbeholfen geht sie immer noch mit der Psyche der Patienten um. Vor allem Frauen fühlen sich oft einfach abgefertigt.

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Durch hohe Spezialisierung hat die Medizin im Laufe der Zeit die Ganzheit des Menschen als Einheit von Leib und Seele aus den Augen verloren. Patienten klagen, für den Arzt „nur eine Nummer” zu sein („Weder spricht er mit mir, noch hört er mir zu”). Nach knappen fünf Minuten ist man auch schon abgefertigt: „Der Nächste bitte!” Viele Mediziner, wie beispielsweise die Wiener praktische Ärztin Judith Binder bestätigen, daß körperliche Beschwerden meist lediglich auf der körperlichen Ebene behandelt werden und der seelische Aspekt unter den Tisch fällt. „ Ich wei -se meine Patienten darauf hin, daß beispielsweise ein Antibiotikum nur gegen Bakterien wirkt - nicht aber den Auslöser der Beschwerden, den psychischen Konfliktbehebt. Mein Motto lautet, Menschen so zu behandeln, wie ich gerne behandelt werden möchte. Das heißt auch, daß man freundlich erklärt bekommt, worum es geht und nicht autoritär abgefertigt wird.”

Vor zehn Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Gesundheitsbegriff mit ganzheitlichem Anspruch in ihje Verfassung aufgenommen. Demnach wird Gesundheit als das völlige körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden und nicht nur das Fernsein von Krankheit und Gebrechen verstanden. Die erste internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung fand 1986 in Ottawa statt. Ihr Motto: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen”.

In diesem Sinne sollte ein Prozeß in Gang gesetzt werden, der dazu beiträgt, vor allem Frauen in höherem Maß zur Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermächtigen. Geschlechtsspezifische Unterschiede müssen in allen medizinischen Analysen und Interventionen berücksichtigt werden.

Nach langem Dornröschenschlaf dürfte sich nun auch in Österreich ein Bewußtsein für eine „frauenfreundliche Medizin” regen. Eine Initiative wurde vor kurzem vom Wiener Gesundheitsstadtrat Sepp Bieder gestartet. Seines Erachtens müssen sich die „Gesundheitseinrichtungen in Zukunft stärker auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen einstellen”, da die Medizin nach wie vor „männlich orientiert” sei (siehe dazu FuRCHlcNr. 45, Seite 4). Zur Umsetzung wurde damit Beate Wimmer-Puchinger, Leiterin des Ludwig-Boltzman Institutes für Gesundheitspsychologie der Frau, beauftragt: „Es geht darum, daß Frauenrechte in der Medizin mehr verankert werden sollen - also Selbstbestimmung und Mitspracherecht. Es heißt eben nicht, daß man Frauen einfach Befunde zuschickt oder in einer Fachsprache mit ihnen redet. Daß man nicht versteht, wie sich eine Frau fühlt, und was zum Beispiel eine Totgeburt oder die Diagnose Brustkrebs für sie bedeuten kann.”

Nicht nur auf politischer Ebene werden Akzente gesetzt - auch auf privater Basis wird versucht, ein neues Bewußtsein zu aktivieren.

Zusammengesetzt aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Fachleuten und interessierten Menschen aus der Bevölkerung, hat sich ein Österreichischer Arbeitskreis zur Förderung der Frauengesundheit entwickelt. Die Leitsätze bauen auf der Prämisse auf, daß Wesen, Wirklichkeit und Würde der Frauen im heutigen „Medizinalbetrieb” viel zu wenig Berücksichtigung finden.

Als Nahziel formuliert Initiator Professor Erwin Schiller die Schaffung von Wahlmöglichkeiten für die medizinische Betreuung von Frauen. So geht es ihm darum, daß Frauen „ohne Schwierigkeiten die Dienste einer Ärztin auch im Krankenhaus in Anspruch nehmen können”. Weiters sollen Schwangere freie Entscheidung bei der

Wahl der Geburt haben - zu Hause oder im Krankenhaus. Den Handlungsbedarf bestätigen jüngste Ergebnisse eines österreichweiten sowie des Wiener Frauengesundheitsberichtes: „Betrachtet man die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes, so fühlen sich deutlich mehr Frauen als Männer gesundheitlich beeinträchtigt: rund ein Drittel der Wiener Männer, aber lediglich ein Fünftel der Wienerinnen stufen sich als völlig gesund ein.”

Beispielsweise werden psychiatrische und neurologische Diagnosen wie affektive (gefühls-betonte) Psychosen, funktionelle Störungen mit psychischem Ursprung und multiple Sklerose bei Frauen doppelt so häufig gestellt als bei Männern. Typische vegetative Begleitsymptome von beeinträchtigtem Wohlbefinden, wie Kopfschmerz und Schlafstörungen, sind ebenfalls überwiegend bei Frauen zu beobachten.

Frauen unterliegen nicht nur am Arbeitsplatz spezifischen Belastungsfaktoren, sondern sie sind zum Teil auch durch Haushalt und Kindererziehung doppelt und dreifach belastet. Und das hat Auswirkungen.

Um diese Probleme will sich nun die Wiener Frauengesundheitsbeauftragte Beate Wimmer-Puchinger kümmern. Sie will drei Schwerpunktthemen setzen: ■ Forcierung der Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen: „Aufgrund des Wiener Frauengesundheitsberichtes haben wir gesehen, daß Brustkrebsvorsorge bei Frauen jjHHlf a leidci- nicht so / wahrgenommen >wird wie es notwendig und erfolgversprechend wäre. Durch einen Aktionstag soll die weibliche Bevölkerung an die nächste Möglichkeit für eine Brustkrebsvorsorgeuntersuchung erinnert werden.” ■ Gesundheit von Ausländerinnen: „Konkrete Daten zum Gesundheitszustand ausländischer Frauen fehlen, denn bei den meisten Erhebungen werden sie nicht berücksichtigt.” In den Bereichen, in denen Daten zur Verfügung stehen, „schaut es aber sehr düster aus”. Beispielsweise zeigen Studien, daß ausländische Frauen mehr zu Frühgeburten neigen und daher vermehrt auf ärztliche (männliche?) Hilfe angewiesen sind. „Wir müssen schauen, warum das so ist, und was diese Frauen wirklich brauchen.”

■Die Möglichkeiten zu Vorsorge und Versorgung von Frauen sollen besser werden: „Ich habe mir überlegt, gemeinsam mit diversen Institutionen auf Bezirksebene Modelle zu entwickeln, um eine gleichmäßige Verteilung der Arztpraxen zu gewährleisten.”

Derzeit gibt es in Österreich zumindest einige Anlaufstellen, die Hilfestellungen und Beratungsservice besonders für Frauen anbieten (siehe Kasten). Bundesweit fehlt es aber noch an flächendeckenden Einrichtungen. Sowohl hier als auch im Bereich der „Gesprächsführung” will Wimmer-Puchinger Aktionen starten. „Nachhilfe in zwischenmenschlicher Kommunikation” soll Ärzten Möglichkeiten für eine zufriedenstellendere Behandlung zeigen.

„Frauenfreundliche Medizin bedeutet vor allem, daß auch auf psychischer Ebene immer mitgedacht werden muß.” Wichtige Grundsätze, die im Grunde natürlich für die Behandlung beider Geschlechter gelten muß, sind: Sensibilität, Ehrlichkeit und menschliche Zuwendung.

Es ist ein Appell, daß Medizin auch eine soziale Medizin sein sollte. „Es geht vor allem darum, daß Mediziner nicht nur einfach ein Pulverl verschreiben, sondern auch soziale Aufgaben erfüllen”, betont AVimmer-Pu-chinger.

Dazu gehören natürlich auch Patienten, die nicht die gesamte Verantwortung dem „Mann im weißen Kittel” übertragen und seinem Bezept-block hörig folgen.

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