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EIN THERAPEUT FÜR HUNDERT PATIENTEN

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Die moderne Medizin kann heute akute Krankheiten besser überwinden, es überleben dadurch aber viel mehr Patienten, die rehabilitations- und pflegebedürftig sind. So paradox es klingen mag, die hochentwickelte Medizin macht die Bevölkerung im Durchschnitt kränker und Experten sprechen in diesem Zusammenhang geradezu von einer ..Fortschrittfalle der Medizin".

Jüngste Statistiken zeigen, daß je nach Altersgruppe jeder fünfte bis zehnte Österreicher einmal ein Rehabilitationspatient sein wird. Die Dauer der Rehabilitation ist etwa zehnmal so lang wie die Akutbehandlung. Dazu kommt, daß der Bevölkerungsanteil der über 60jährigen ständig steigt und derzeit über 20 Prozent beträgt, sodaß die Rehabilitationsfälle weiter zunehmen werden.

Trotzdem zeigt sich, „daß unser Gesundheitssystem auf diese Herausforderung der Alters- und Rehabilitationsmedizin noch keineswegs reagiert hat und hier sehr große allgemeine Fehlbestände sowohl in der Ausbildung als auch im medizinischen Angebot liegen", beklagt die derzeitige Situation Universitätsprofessor Gerhard Barolin, Vorstand der Neurologischen Abteilung des Landeskrankenhauses Valduna, Vorarlberg. Einmalig für den deutschsprachigen Raum hat er ein Modell für einen ganzheitlichen Rehabilitationsdienst entwickelt, der vor allem Patienten nach Schlaganfällen betreut und die Zusammenarbeit von Arzt, Therapeut und Familie ermöglicht.

Nach zehnjähriger Tätigkeit liegt jetzt eine stattliche Erfolgsbilanz vor. Grundprinzip dabei ist der fließende Übergang von der Akutbehandlung in die Rehabilitation. „Jeder Patient 4st rehabilitationswürdig", erklärt Barolin, „die Trennung in Behand-lungs-, Rehabilitations- und Pflegefälle kann in einer modernen Medizin nicht mehr aufrechterhalten werden."

Jeder neurologische Patient, der das Krankenhaus Valduna verläßt, wird ein halbes Jahr hindurch regelmäßig von Rehabilitationshelfern besucht, bisher wurden über 16.000 Hausbesuche durchgeführt. Die Angehörigen werden schon im Krankenhaus eingeschult und weiter beraten. Allerdings muß die Verantwortlichkeit für Familienangehörige oft erst geweckt werden. Zu sehr ist man gewöhnt, sich auf das soziale Sicherheitsnetz zu verlassen, es muß erst ein Lernund Gewöhnungsprozeß auf beiden Seiten stattfinden.

„Rehabilitation" definieren die Experten als „mit der Behinderung bestmöglich leben, mit dem Leben möglichst selbständig fertig werden. Das permanente Training von Körper und Geist soll so rasch wie möglich beginnen. Ebenso wie beim Herzinfarktpatienten ist die beste Voraussetzung für einen Erfolg eine sofort einsetzende Behandlung. Neurologen vergleichen das Gehirn mit einem Computer, nach einem Schlaganfall fehlen Teile der Software, die wieder ersetzt werden müssen; und dieses Neuprogrammieren geschieht durch Wiedererlernen und Übung.

Die Auswertung der Ergebnisse des Vorarlberger Modells bestätigen das: während der ersten drei Monate wird bei den meisten Patienten eine deutliche Verbesserung oder zumindest ein Gleichbleiben des Zustandes erreicht, aber selbst nach einem Jahr sind immer noch Verbesserungen möglich, auch die Kontinuität der Behandlung ist ungemein wichtig.

Derzeit kommt im Durchschnitt in Österreich allerdings nur etwa ein Fünftel der Schlaganfallpatienten in den Genuß einer kompetenten Rehabilitation. In Anbetracht dessen schlägt Barolin ein neues Berufsbild, den Rehabilitations-Assistenten vor. Darunter ist ein Mitarbeiter des Arztes zu verstehen, der über Fachkenntnisse in Physio-, Ergo- oder Beschäftigungstherapie und psychologischer Betreuung verfügt. Eigenverantwortlichkeit und ein höheres Sozialprestige sollen den neuen Beruf auch für junge Menschen attraktiver machen als der kürzlich eingeführte Stand des „Altenpflegehelfers".

Jüngste Berechnungen haben ergeben, daß pro zehn unbeweglichen Patienten zwei Physiotherapeuten notwendig wären. Tatsächlich aber kommt im Durchschnitt derzeit auf 100 Patienten nur ein einziger Therapeut! Die Ausbildung des Rehabilitations-Assistenten könnte in Spitälern und auf universitärer Ebene erfolgen.

Ebenso notwendig wie die Heranbildung von Fachkräften ist aber „eine gesamte Umstellung unserer geistigen Einstellung dem schwerstbehin-derten und alten Menschen gegenüber", fordert Barolin in seinem kürzlich erschienenen Buch „Unser Gesundheitssystem auf dem Prüfstand" (Maudrich Verlag). Rehabilitation ist nicht nur als ärztliche Tätigkeit zu verstehen, sondern auch als soziale und humanitäre Aufgabe.

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