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Ein Oberschenkel zum Verstellen

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Über das AKH-Monstrum, das seiner Fertigstellung entgegensieht, wird in Wien mehr gesprochen als über die vielfältige Forschungstätigkeit in der I nstitution AKH. Sehr zu Unrecht!

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Über das AKH-Monstrum, das seiner Fertigstellung entgegensieht, wird in Wien mehr gesprochen als über die vielfältige Forschungstätigkeit in der I nstitution AKH. Sehr zu Unrecht!

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AKH ist nicht gleich AKH. Während das Bauwerk Allgemeines Krankenhaus, da es nun wirklich nicht mehr als Investitionsruine abgeschrieben werden kann, seinen Vätern keineswegs zum Ruhme der Fertigstellung entgegengeht, ist in der . Institution Allgemeines Krankenhaus neben dem medizini:.. sehen Versorgungs-Alltag eine kaum mehr übersehbare Fülle Österreich sehr wohl zum Ruhm gereichender Forschungstätigkeiten im Gang, deren Beteiligte sich von der Übersiedlung in den Neubau vor allem günstigere Raumverhältnisse erhoffen:

Versorgungs-Alltag, das heißt heute im Wiener AKH jährlich rund 60.000 stationäre Patienten, 40.000 Operationen aller Schweregrade, zwei Millionen Untersuchungen und Behandlungen, 14 Millionen Laboruntersuchungen, heißt pro Tag 8.200 ambulante Patienten und 5.800 Besucher. Heißt Kostenexplosion nicht nur durch neue Behandlungsmöglichkeiten, sondern auch und vor allem durch die ra.:. sante Entwicklung der Diagnostik in allen Bereichen der Medizin. Der Anteil der Diagnostik an den Krari ????enhauskosten -ist auf 60 Prozent gestiegen.

Bei den Forschungsleistungen im AKH, die österreichischen Wissenschaftsjournalisten dieser Tage in Form zweier Beispiele präsentiert wurden, dominiert im Bereich der Dermatologie die Diagnostik, während die Orthopädie durch Fortschritte beeindruckt, die Hilfe . in noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit so gut wie aussichtslosen Fällen ermöglichen . .

Der Vorstand der Orthopädischen Universitätsklinik, Universitätsprofessor Rainer Kotz, berichtete unter anderem über die Verpflanzung großer Teile menschlicher Spender-Becken nach ausgedehnten Tumoroperationen. Am New Yorker Memorial-Hospital wurden diese Operationen nach fünf Versuchen vorläufig eingestellt, nachdem bei allen fünf Patienten Infektionen aufgetreten und bei vier von ihnen tödlich verlaufen waren. An der Wiener Klinik wurden bereits zwei solche Operationen durchgeführt, wobei es zu keiner Infektion kam und ein Patient „über den Berg" ist.

Der Erfolg solcher Operationen hängt nicht nur vom Können des Chirurgen, sondern in hohem Maß auch von der Spitalsorganisation und vom Zeitfaktor ab, da das tote Gewebe des Spenderbeckens Keimen hervorragende Überlebensund Vermehrungsbedingungen bietet. Derartige Beckenoperationen zählen zu den größten heute möglichen und dauern rund zwölf Stunden, selbst, so Kotz, „wenn man es sehr gut kann". Da es darauf ankommt, in unmittelbarer Nachbarschaft vorbeiführender großer Gefäße möglichst viel Nervensubstanz zu erhalten, erfordern diese Operationen höchste Kunstfertigkeit.

Ein junges Gebiet, auf dem auch in Wien konsequent geforscht wird, ist die Befestigung von Sehnen und Muskeln an Knochenprothesen. Verschiedene Wege bieten sich an,

etwa Verankern der Sehne oder des Muskels auf einem Stück natürlichen Knochens, der sodann mit der Prothese verschraubt wird, oder Gewinnung von Spenderknochen mit Knochen- und Sehnenansätzen.

Die Orthopädie ist nicht nur in den letzten 20 Jahren zu einem der großen chirurgischen Fächer geworden, sie ist auch mit besonders tragischen Schicksalen konfrontiert, beziehungsweise solchen, die einst immer tragisch endeten: Knochentumorep von Kindern und jungen Menschen. Ihre Zahl ist mit jährlich rund vier Fällen pro Million Einwohner etwa konstant. Knochentumore der Gliedmaßen und des Beckens bedeuteten noch vor 1 5 Jahren fast immer den Tod. Heute liegt die Überlebenschance bei 80 Prozent.

Wiens Orthopädische Universitätsklinik hat auf dem Gebiet der Beckenoperationen aufgrund der Arbeiten von Adolf Lorenz und Karl Chiari eine große Tradition, Bekkenprothesen und Transplantationen stellen die logische Fortsetzung dieser Arbeiten dar.

Entscheidend für den Behandlungserfolg ist das Verhindern von Metastasen und das Devitalisieren des Primärtumors durch Chemotherapie und dessen radikale Entfernung. Modernste Röntgen- und Computertechnik (3 D) ermöglicht s,odann die Anfertigung des perfekt }>assenden „modularen Tumorprothesenmodells".

Ein Gebiet, auf dem die Klinik ebenfalls in vorderster Front an der Entwicklung beteiligt ist, ist das der Wachstumsprothesen. Es geht nicht nur darum, Knochentumorpatienten im Kindes- oder jugendlichen Alter das nackte Leben zu retten, es soll ihnen auch ein Höchstmaß an Lebensqualität ge- . boten werden. Dies bedingt Vorkehrungen, die das weitere Wachstum beispielsweise eines mit einer Knochenprothese versorgten Beines ermöglichen. Der sowjetische Chirurg Ilisarov entwickelte eine Methode, die Knochenprothese durch eine von Tag zu Tag vorgenommene langsame Drehung zu verlängern, die in Wien verbessert werden konnte.

Es gibt heute nicht nur Streckapparate, die außerhalb des Körpers angebracht werden und die fürs Wachstum notwendige Dehnung sicherstellen oder nachstellbare Knochenprothesen, die in zweitägigen Spitalsaufenthalten um je- . weils ein Zentimeter nachgestellt werden. Da ein möglichst kontinuierlicher Streckvorgang ·die beste Kallusbildung (Bildung von Knochengewebe

vergleichbar dem Vorgang nach einem Bruch) sicherstellt, wurden in Wien Streckungsprothesen entwickelt, die über aus dem Körper hängende Drahtenden täglich durch Ziehen um einen Millimeter oder, noch besser, vierbis fünfmal pro Tag um jeweils 0,25 beziehungsweise 0,2 Millimeter nachgestellt werden. Eine Tätigkeit, der sich die Kinder mit Hingabe und Sorgfalt widmen.

Beim angeborenen „Femurdefekt" wurde noch vor wenigen Jahren das verkürzte Bein um 180 Grad gedreht und das Sprunggelenk zum Kniegelenk. Heute findet in diesem Fall sowie nach Tumoroperationen Mehrfachverlängerung statt - bei einer Fünfzehnjährigen . um 1 6,5 Zentimeter!

Bei Spender-Beckenknochen besteht das Problem, daß sie nicht mitwachsen. Einem jungen Patienten wurde daher vor wenigen Jahren ein damals etwas zu großes Becken implantiert.

Der jüngste in Wien behandelte Knochentumor-Patient war vier Jahre alt und konnte infolge von Tumor-Neubildungen nicht gerettet werden, der jüngste lebende Patient ist acht, andere sind zehn, 1 6 und 22 Jahre alt. Wenn innerhalb von drei Jahren keine Neubildung eintritt, kann der Patient als dauerhaft geheilt betrachtet wer ????en und mit einer normalen Lebens- ????auer rechnen. ·

Wurde er mit einem künstlichen Gelenk versorgt, dann muß er mit den Abnützungserscheinungen der verwendeten Kunststoffe leben. Das als Gleitpartner der Metall- und Keramikteile ver'Wendete Polyäthylen übersteht rund fünf Millionen Bewegungszyklen, das heißt, es hält bei einem jungen Menschen dem täglichen Abrieb rund zehn Jahre stand. Bei älteren Menschen, die sich weniger bewegen, entsprechend länger. Ist das Gelenk abgenützt, wird eine sogenannte Serviceoperation fällig, die aber Routine geworden ist

Übrigens wurde im Wiener AKH ein eigenes Depot gefriergetrockneter, strahlensterilisierter menschlicher Spenderknochen errichtet.

Der Vorstand der Ersten Universitäts- Hautklinik, U niversitätsprofessor Herbert Hönigsmann, berichtete unter anderem über Erfahrungen mit der Diagnose bösartiger, aber noch kaum millimetergroßer Hauttumoren mittels Auflicht-Mikroskopie. Botschaft an alle, die die „Angst vor der Wahrheit" zu lange von der Untersuchung verdächtiger Hauterscheinungen fernhält: frühzeitig erkannt, sind die Heilungschancen hervorragend. Die modernen Lebensgewohnheiten (Sonne, Strand ... ) erhöhen das Risiko, neue Methoden zur Diagnose konnten die Zunahme der Melanome auf eine Verdoppelung alle zehn Jahre einbremsen. Derzeit hält man bei zwölf Fällen jährlich pro 1 00.000 Einwohner

Jeder sollte sich mindestens alle · ein bis zwei Jahre untersuchen lassen. Vor allem Angehörige der Risikogruppen, zu denen vorzugsweise helläugige Rothaarige mit Sommersprossen ( „kel tischer Typ") und alle Menschen mit behaarten Muttermalen gehören. Allerdings sind in manchen Bundesländern Dermatologen Mangelware - im Burgenland gibt es ihrer keine drei.

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