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Der künstliche Winterschlaf

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Mit den modernen Anästhesieverfahren, die uns heute zur Verfügung stehen, ist es nicht sehr schwer, große und langdauernde chirurgische Eingriffe schmerzfrei auszuführen; viel eher ist es ein Problem, den Allgemeinzustand eines Kranken derart zu überwachen, daß er eine große Operation mit einem möglichst kleinen Schock, mit anderen Worten, mit dem Minimum an Schädigung übersteht. Allergrößtem Interesse begegnen nun jene Verfahren, die es ermöglichen, auch solche Patienten zu operieren, bei denen bisher ein Eingriff wegen des reduzierten Allgemeinzustandes nicht gewagt werden konnte; länger dauernde konsumierende Krankheiten oder rapid fortschreitender Kräfteverfall beispielsweise als Folge einer Peritonitis (Bauchfellentzündung) fordern von einem Organismus Kräfte in einem solchen Ausmaß, daß es unwahrscheinlich ist, daß dieser auch noch der Beanspruchung einer — möglicherweise lebensrettenden — Operation standhält.

Der menschliche Organismus ist in der Lage, sich der Umwelt anzupassen und Schäden verschiedener Art, zum Beispiel infektiöser,

toxischer oder traumatischer Natur, auf seine Weise zu begegnen. Eine große Zahl von Schutz- und Notfallreflexen werden in kürzester Zeit in Gang gesetzt, wenn eine Belastung oder ein Schaden den Körper trifft. Ein Teil dieser Reflexmechanismen kommt einem zum Bewußtsein, wenn man zum Beispiel durch irgendeine Verletzung zusammenzuckt und zurückfährt und im gleichen Augenblick auch den Schmerz empfindet. Die Mehrzahl dieser Reflexe aber dient zur Steuerung der wichtigen Grundfunktionen, wie Kreislauftätigkeit und Atmung, Stoffwechsel und Wärmehaushalt. Die Steuerung dieser Funktionen erfolgt nun teils auf endokrin-humoralem Weg, zum Großteil aber unbewußt über das vegetative, autonome Nervensystem. Kommt es zum Beispiel wieder infolge einer Verletzung zu einem größeren Blutverlust, reagiert der Organismus nicht nur mit einer Beschleunigung der Herztätigkeit, sondern auch mit einer Verengung der Gefäße, indem sich vor allem die Ringmuskulatur der Arterien kontrahiert. Auf diese Weise wird die Strombahn verkürzt und der Körper kann auch

mit der verringerten zirkulierenden Blutmenge auskommen. Die Impulse zur Kontraktion der Gefäßmuskulatur und zur Intensivierung der Herztätigkeit werden über das vegetative Nervensystem vermittelt.

Die Erfahrung hat nun gezeigt, daß diese Regulationsmechanismen einmal in einem zu geringen Ausmaß arbeiten können, vor allem bei sehr geschwächten (kachektischen) Kranken; das andere Mal schießen sie über das Ziel hinaus und kosten dem Organismus Energie, die wahrscheinlich bei einer anderen Gelegenheit besser eingesetzt wäre. Schließlich kann auch der Fall eintreten, daß an sich „zweckmäßige“ Regulationen „unzweckmäßig“ eingesetzt werden. So dient zum Beispiel das Schwitzen der Wärmeabgabe bei erhöhter Außentemperatur; bei dem vorher erwähnten Blutverlust kann es auch zu Schwitzen kommen, obwohl für einen ausgebluteten Patienten weder die Abgabe von Wärme noch det Flüssigkeitsverlust günstig ist.

In den letzten Jahren wurden Medikamente entwickelt, welche die autonomen Ganglien blockieren, das heißt die Reizübertragung an den Schaltstellen des vegetativen Nervensystems unterbinden können. Diese Beeinflussung des autonomen Systems auf pharmakologischem Weg hat eine Reihe von sehr überraschenden Resultaten gezeitigt. Die Hexamethioniumpräparate (P a-ton, Zaimis; Enderby) und das Pendiomid (Bein, Meier) können als typische Ganglienblocker den Blutdruck wesentlich herabsetzen; wird ihre Anwendung noch mit einer Neigungslagerung kombiniert, kann der Blutdruck vorübergehend in einem solchen Ausmaße gesenkt werden, daß praktisch ohne Blutung operiert werden kann. Dies erleichtert Eingriffe an besonders blutreichen Organen und vor allem übersteht der Kranke große Operationen mit. Hilfe dieser Methode besser als mit anderen Verfahren; der postoperative Schock ist geringfügig, das Befinden der Patienten überraschend gut. Es ist wohl überflüssig, zu betonen, daß diese „kontrollierte Blutdrucksenkung“ nicht wahllos angewendet und nur Fachleuten überantwortet wird.

Eine besonders wichtige Rolle unter diesen Mitteln spielen die Phenothiazinpräparate, wie zum Beispiel das Phenergan oder das Largactyl. Diese Medikamente haben nicht nur eine ganglienblockierende Wirkung, sondern besitzen auch schmerzstillende, hypnotische und sedative Eigenschaften; bei ihrer Anwendung werden die Verbrennungsvorgänge im Organismus gehemmt, die Temperatur gesenkt und die Kapillarpermeabilität verringert; schließlich sind sie auch zur Behandlung von Ueber-empfindlichkeitsreaktionen (zum Beispiel Nesselsucht) geeignet. Auch das Novocain und seine Abkömmlinge — schon seit langem zur örtlichen Betäubung in Verwendung — haben hei intravenöser Zufuhr weitgehend ähnliche Eigenschaften.

Es stehen also der modernen Medizin Pharmaka zur Verfügung, mit deren Hilfe die Reflexmechanismen des Organismus, die im Gefolge einer Aggression auftreten, weitgehend gesteuert werden können. Das Zuviel an Regulation wird gebremst, das vegetative Netvensystem „stabilisiert“. Besonderes Interesse erweckt nun der künstliche Winterschlaf, die von den Franzosen L a b o r i t und H u;g u e n a r d ausgearbeitete Methode dei „Hibernation artificille“. Eine Kombination der obenerwähnten Medikamente, die durch längere Zeit in wechselnder Reihenfolge und Dosierung verabreicht wird, bewirkt eine Blockade des vegetativen Systems mit all ihrer Vorteilen. Die Stoffwechselwirkung dei Phenothiainderivate führt zu einem haus hälterischen Dämmerleben mit herabgesetzten Verbrennung s Vorgängen; in manchen Fällen wird noer diese allgemeine Inhibition dutch Unter k ü h 1 u n g mit Hilfe einer Anzahl von Eis beuteln unterstützt. Es zeigt sich nun der Pa< tient, der sich in „Hibernation“ befindet, un empfindlich und schlafend; die Herztätigkei ist regelmäßig und verlangsamt, der Blutdrucl erniedrigt, die Temperatur zwischen 29 unc 35 Grad ohne Kältereaktion, wie 2um Beispie Zittern, die Verdauungstätigkeit und die Harn bereitung eingeschränkt. Dieser Zustand de: „herabgesetzten“ oder „auf klein gedrehten' Lebens versetzt den Schwerstgeschädigten, ge' brechlichen und geschwächten Organismus ir die Lage, irgendeiner Aggression mit seiner Kräften noch standzuhalten und ohne nach teilige Folgen Schäden zu ertragen, denen e: sonst nicht gewachsen gewesen wäre. Mi normalen Methoden inoperable Patienten konn ten auf diese Weise operiert werden, schwer Eingriffe unter schlechten Vorbedingungen ver lieren an Risiko; auch andere massive Schädi gung?n, wie zum Beispiel eine ausgedehnt Verbrennung (44 Prozent!), konnten mit Hilft wochenlanger Hibernation gehei't wer den.

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