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Das vielseitige Medikament Novokain

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1884 schlug die Geburtsstunde der Lokalanästhesie: Der Wiener Augenarzt Koller träufelte eine Kokainlösung in den Bindehautsack des Auges und konnte so eine örtliche Betäubung eines äußerst empfindlichen Orgines erreichen. Etliche Jahre später wurde neuerdings eine bahnbrechende Entdeckung gemacht (Reclus 1889 und Schleich 1892), nämlich die Infiltrationsanästhesie; diesmal wurde eine Kokainlösung mit Nadel und Spritze schichtweise in die Gewebe injiziert. Das durchtränkte Gebiet war unempfindlich, und es wurde die Möglichkeit geschaffen, auch große chirurgische Eingriffe schmerzfrei auszuführen. Nun war das Kokain infolge seiner Giftigkeit weder harmlos noch praktisch, also war die Suche nach synthetischen Ersatzmitteln berechtigt.

Von diesen hat das Novokain (Prokain), von Einhorn um die Jahrhundertwende dargestellt, am meisten Bedeutung erlangt, denn es ist weitaus weniger toxisch als das Kokain, reizlos und gut verträglich. Auch heute noch dürfte es eines der am häufigsten verwendeten Medikamente sein. Besonders bei der örtlichen Betäubung haben das Prokain und ähnliche Mittel weite Verbreitung gefunden. Novokain hat die Eigenschaft, die Leitungstätigkeit des Nervs — bei der chirurgischen Anwendung handelt es sich in erster Linie um die sensiblen Rezeptoren (Endorgane) und um die schmerzleitenden Fasern des Nervensystems — zu hemmen oder zu unterbinden. Wie kommt nun diese Schmerzunempfind-lichkeit bzw. Blockierung des Nervs zustande? Erst in den letzten Jahren konnte etwas Licht in dieses Problem gebracht werden. Das periphere Nervensystem ist nämlich funktionell ein Leitungsorgan, und wenn eine Erregungswelle über eine Nervenfaser abläuft, kommt es zum Austritt von Kaliumionen und zur Einwanderung von Natriumjonen bzw. zu einem elektrischen Potentialablauf. Prokain setzt nun die Durchlässigkeit der Zellwand herab — mit anderen Worten: es wirkt membranverdichtend —, so daß der Austausch der intrazellulären Kaliumionen und der extrazellulären Natriumionen bzw. die elektrische Depolarisation gehemmt oder verhindert wird. Diese membranverdichtende Wirkung des Novokajns am Nerv erklärt uns zunächst die Unterbrechung der Leitungstätigkeit und somit die Ausschaltung des Schmerzempfindens. Auch auf die Muskulatur erfolgt eine Wirkung, ein lähmender, krampflösender Effekt; es herrschen nämlich weitgehend ähnliche Verhältnisse bei der Kontraktur der Muskelfaser wie bei Erregung des Nervs. Diese Erfahrungen konnten gemacht werden, nachdem entsprechend verdünnte Prokainlösungen intravenös zugeführt wurden und das Medikament in kurzer Zeit durch den Kreislauf in den ganzen Organismus gebracht wird.

Bei einer Reihe von Krankheiten spielt die erhöhte Durchlässigkeit der Zellwand eine wichtige Rolle. Vor allem bei Allergien, das sind Ueberempfindlichkeitsreaktionen, wie zum Beispiel Nesselsucht oder Serumkrankheit, wird die erhöhte Permeabilität der Zellmembran und der Kapillaren als Ursache angesehen. Tatsächlich konnten Lokalanästhetika bei solchen Fällen erfolgreich angewendet werden. Im allgemeinen wurden solche allergische Reaktionen mit Kalzium oder antiallergischen Mitteln (Dibcndrin, Phenergan) behandelt, da diese Medikamente besonders gefäß- und membranverdichtende Eigenschaften haben. Es lag nun die Vermutung nahe, ob nicht ein Antiallergikum oder Kalzium auch lokalanästhetisch wirksam sind; tatsächlich sind Kalzium oder zum Beispiel Phenergan zur örtlichen Betäubung geeignet, zum Teil sogar stärker wirksam als Novokain. Die parallele Wirksamkeit der (vor allem intravenös zugeführten) Lokalanästhetika und der Antiallergika geht aber noch weiter: beide Gruppen sind schmerzlindernd und beruhigend, zum Teil auch als Schlafmittel wirksam.

Die intravenöse Zufuhr von Prokain und ähnlichen Mitteln hat noch eine sehr bedeutsame Wirkung: es kommt zur Blockade der vegetativen Ganglien, das heißt die Schaltstellen des autonomen (vegetativen) Nervensystems werden gelähmt. Dieses vegetative Nervensystem steuert im wesentlichen unbewußt vor allem Kreislauf- und Atemfunktionen, um sie den wechselnden Bedürfnissen des Organismus anzupassen und vermittelt die lebenserhaltenden Schutz- und Notfallreflexe. So wird zum Beispiel nach einem Blutverlust die Herztätigkeit intensiviert und der Spannungszustand der Gefäße erhöht, um so auch mit einer verringerten Blutmenge die Kreislauftätigkeit aufrechterhalten zu können — dies geschieht durch Vermittlung des vegetativen Systems. Die Erfahrung hat gezeigt, daß auch unerwünschte vegetative Reflexe auftreten können, die gelegentlich bei Operationen — zum Beispiel im Herzen — lebensbedrohliche Zwischenfälle verursachen. Es können solche Regulationsmechanismen auch zu intensiv ablaufen oder über das Ziel hinausschießen und so dem Organismus unnötig Energie kosten. Das Novokain bewirkt nun eine Blockade der vegetativen Ganglien bzw. führt zur „Stabilisierung“ des autonomen Nervensystems. Die Wahrscheinlichkeit, daß bei komplizierten chirurgischen Eingriffen unerwünschte Zwischenfälle eintreten, wird mit Hilfe ganglienblockierender Verfahren verringert, ebenso wird das schockierende Moment großer Operationen reduziert: Das Befinden von Kranken, die mit Hilfe solcher Mittel operiert bzw. narkotisiert wurden, ist nach der Operation auffallend gut. Am meisten zu schätzen ist aber die Atmosphäre der Sicherheit, welche die Anwendung dieser Mittel mit sich bringt.

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