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Das Menetekel von Meknes

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Fette, so lernte man in der Schule, sind Verbindungen des Glyzerins mit Fettsäuren. Sie können flüssig oder fest sein, je nach der Natur dieser Fettsäuren; flüssige Fettsäuren können durch ein katalytisches Verfahren gehärtet, also in feste umgewandelt werden, was bei der Kunstfetterzeugung eine wichtige Rolle spielt. Daß die Fettsäuren gesättigt und ungesättigt sein können, fand kaum besondere Beachtung und wurde bald wieder vergessen. Fette, so lehrt uns die Ernährungskunde, sind der wichtigste Baustein unserer Nahrung und innerhalb unseres Stoffwechsels. Der Mensch soll, will er gesund bleiben, täglich zumindest eine Menge von 50 Gramm davon zu sich nehmen; leider fehlt in fast allen Diätbüchern eine nähere Erläuterung über Wert und Unwert der einzelnen Fettarten. Schließlich lehrt uns die Auswertung weltweiter Statistiken, daß der Fettkonsum in den einzelnen Ländern und bei den verschiedensten Völkern verschieden ist. In Japan und vielen Ländern Südostasiens wird ganz wenig Fett verzehrt, in den USA besteht die tägliche Nahrung fast zu 40 Prozent aus Fetten, die Produktion von Kunstfetten ist am größten in der Deut; sehen Bundesrepublik (mehr als in Rußland und den USA!), und in Italien verwendet man fast nur Öle. Es läßt sich nachweisen, daß sehr viele Krankheiten direkt mit dem Fettkonsum in Zusammenhang stehen. Trotzdem gibt es keine wirksame Volksaufklärung auf diesem Gebiet.

Organentartungen

Krankheiten können zwei Ursachen haben. Entweder führte die Entartung eines Organs oder einer Funktion zur Krankheit oder der Organismus wurde das Opfer einer Infektion. Und es ist dem modernen, in der Zivilisation wohlig dahinvegetierenden Menschen kaum bewußt, welch grandiosen Erfolg die Ausrottung nahezu aller Infektionskrankheiten in den letzten fünf- zigs-Jahren durch die naturwissenschaftliche Medizin darstellt.

So konzentriert sich die medizinische Forschung heute auf die Entartungskrankheiten. Überall, im Westen wie auch im Osten, schenkt man den abbauenden Prozessen die allergrößte Beachtung, denn was nützt die Verlängerung des Lebens,' wenn man krank und siech an einen Rollstuhl gefesselt ist? Überwiegen die Entartungsprozesse der Gelenke, dann wird der Mensch krumm und lahm; überwiegt die Entartung des Lungengewebes, dann peinigt das Emphysem, die begleitende Bronchitis mit -der schrecklichen Atemnot; und wird letztlich der Kreislauf von den Abnützungserscheinungen im Herzen und in den Gefäßen vorwiegend betroffen, dann resultiert daraus eine bunte und höchst individuelle Fülle schwerer und allerschwerster Gesundheitsstörungen. Die Verkalkung in all ihren Varianten gehört hierher, und sie kann bekanntlich schon vorzeitig einen Menschen vollkommen verkrüppeln. Dem Laien unbekannt ist die ungeheure Forschung auf diesen Gebieten der Pathologie, und hier wurden schon seit langer Zeit engste Beziehungen zur Ernährungsform gefunden. Immer deutlicher wird die große Rolle, die dem Nahrungsfett bei den Verkalkungsprozessen zukommt.

Hohelied auf Erdnuß und Sonnenblume

Im Blut des Menschen kreist ständig eine bestimmte Menge Cholesterin. Diese fettähnliche Substanz wird, vom Körper selbst hergestellt, zeigt aber eine gewisse Abhängigkeit von der Fettzufuhr in der Nahrung. Bei der Mangelernährung schwindet das Cholesterin weitgehend, bei fetter und üppiger Kost aber kann sich die Cholesterinmenge weit über die Norm hinaus vermehren. Das Blut wird zäh, und an den Gefäßwänden lagert sich das Fett ab. Hier haben unzählige Versuche höchst interessante Zusammenhänge klären können. Denn es spielt nicht nur die Menge des Fettes eine entscheidende Rolle, es kommt auch auf die Zusammensetzung selbst an. Exakte Experimente haben bewiesen, daß die einzelnen Nahrungsfette verschieden lang im Blut kreisen und der Gehalt an mehrfach ungesättigten Fettsäuren eine wichtige Rollespielt. Denn diese vermögen auf eine bisher noch nicht ganz geklärte Weise den Cholesteringehalt im Blut zu senken. Überall dort, wo Fette verwendet werden, die reich an ungesättigten Fettsäuren sind, kommt es selten oder erst sehr spät zur Arteriensklerose. Es gibt Länder, wo ausschließlich Öle verwendet werden und wo weder der Infarkt noch die Zuckerkrankheit vorkommen. Biologisch wertvoll ist daher das Sojabohnenöl, das Sonnenblumenöl, das Maisöl, das Speiseleinöl, das Erdnußöl und auch das Olivenöl. Sie enthalten mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die man chemisch mittels der sogenannten Jodzahl bestimmen kann, und es ist eigentlich fast unbekannt, daß die billigen Erdnuß- und Sonnenblumenöle viel nützlicher sind als das teure Olivenöl. Schmalz und Butter enthalten auch ungesättigte Fettsäuren, freilich in wesentlich geringerer Menge, während die Kunstfette dieses für die Verhinderung der Sklerose so wichtige Prinzip vermissen lassen.

Das große Geschäft

Wenn das Fett im Blut kreist und nicht in das Gewebe gelangt, so kommt es, wie bereits erwähnt, zur Schädigung der Arterien, darüber hinaus aber leidet der Mensch unter einem ausgesprochenen Fetthunger. Er beginnt sich fettreichen Mahlzeiten zuzuwenden, und je fetter eine Speise zubereitet wird, um so mehr schmeckt sie auch. Das Kind mit einem niedrigen Cholesterinspiegel im Blut und einer rasanten Fettverdauung „mag" keine fetten Speisen. Der verkalkte und oft schon ganz abgebaute Mensch aber kann davon nicht genug bekommen. Symptomatisch dafür sind die Berichte nach Spitalsentlassungen und nach einem Urlaubsaufenthalt. Alles wird lediglich darnach bewertet, ob die Mahlzeiten auch reichlich, das heißt fettreich gewesen sind. Und von dieser biologischen Tatsache profitiert eine gigantische Industrie, die billige und wohlschmeckende Kunstfette erzeugt. Biologische Erwägungen stehen dabei nicht immer im Vordergrund. Jedes Kilogramm Übergewicht ist bekanntlich eine Verringerung der Lebenserwartung, übermäßige Fetternährung und die Verwendung wertloser Fettarten — sie mögen noch so wohlschmeckend sein — führen zur vorzeitigen Verkalkung. Aber wer will davon hören?

Drei Vorfälle

Das Grundprinzip des großen Geschäftes mit Fetten ist höchst einfach. Es gilt, minderwertiges und billiges Fett so umzuwandeln, daß es als Speisefett verwendet werden kann und wofür man natürlich auch einen ganz anderen Preis erhält. Wie weit man hier gehen kann, beweist die Katastrophe von Meknes in Nordafrika im September 1959. Dort hatten gewissenlose Geschäftsleute Speiseöle mit einem Schmiermittel, das weitgehend einem geruchlosen Öl gleicht, dem sogenannten Trikresylphosphat, vermengt und in großer Menge in den Handel gebracht. Meknes liegt in Marokko, kaum 200 Kilometer vom europäischen Festland entfernt, und die arabischen Tischsitten sehen vor, daß die übliche Speise, eine Schüssel mit Kuskus, zuerst den Männern gereicht wird. Mehr an der Oberfläche ist die Hirse, mehr dem Gefäßboden zu das Öl. Und so kam es, daß viel fnehr Frauen als Männer das Opfer dieser entsetzlichen Vergiftung wurden. Zahlreich wanen die Todesopfer, mehr als zehntausend Menschen sind ein Leben lang gelähmt und mehr alsvierzigtausend direkt oder indirekt von dieser Massenvergiftung betroffen. Reine Geldgier hatte hier zu hundertfachem Tod und tausendfachem Siechtum geführt.

Knapp ein Jahr später kam es in Europa zu einer Massenerkrankung durch Kunstfette. Eine Großfirma brachte eine neue Marke mit rotem Aufdruck in den Handel. „Schmecken Sie die Verbesserung?“ wurde der Konsument gefragt, nachdem man einen neuen Emulgator bei der Erzeugung verwendet hatte. Die Folge dieser Verbesserung bekamen mehr als 100.000 Menschen zu spüren, die an einer Bläschenkranikheit erkrankten. Zwei der Kranken starben auch daran.

Und wieder ein Jahr später konnte in Wien eine schier unglaubliche Manipulation mit Fett aufgedeckt werden. „Gute“ Geschäftsleute hatten im Ausland minderwertiges Fett eingekauft, dieses mit einem Farbstoff versehen und als Industriefett billig eingeführt. Hier in Wien wurde der Farbstoff wieder entfernt und das auf diese Weise veränderte Fett an eine öffentliche Küche verschachert. Hunderttausende aßen monatelang Speisen, die mit qualitativ ganz minderwertigem Fett zubereitet waren. Wenn auch erkannte Schädigungen der Gesundheit nicht bekannt wurden, so zeigt die aufgedeckte Methode doch mit einer ganz entsetzlichen Deutlichkeit, mit welch skrupellosen Methoden man in der Jetztzeit Nahrungsmittel verändert und an den Konsumenten heranbringt.

Große Entscheidungen

Die ungeheure Bedeutung dieses Problems, der Nahrungsverfälschung und das beharrliche Ignorieren wichtigster Erkenntnisse der Ernährungslehre aus gewinnsüchtigen Erwägungen heraus, wird weitgehend nicht erkannt. Denn die Schädigungen durch konstante Fehlernährung tfžtėn ja nicht sofort, in ihrem kausalen Zusammenhang dem Laien verständlich auf. Es können Jahrzehnte vergehen, ehe körperliche Gebrechen auftreten, und bei der immer mehr sich ausbreitenden Oberflächlichkeit und der Gier nach augenblicklichem Genuß, ohne Rücksicht auf spätere Folgen, ist es einfach unmöglich, die breite Masse der Bevölkerung zu einer Umkehr zu bewegen. Wie schwerwiegend aber alle diese Fragen sind, läßt sich aus der gegenwärtigen Weltlage unschwer ableiten. Denn die Welt ist — wie schon so oft — wieder einmal ideologisch in zwei Teile gespalten, und nur die Angst vor den unübersehbaren Folgen eines Atomkrieges hat bisher die ernsteste Konsequenz verhindert. Immer mehr aber erkennt man, daß dieser Konflikt auch ohne Krieg ausgetragen werden kann, indem man eben außer der technischen Kapazität auch die rein menschlichen Qualitäten mißt. Und wenn sich Millionenheere vorzeitig körperlich und geistig abgebauter Menschen auf der einen Seite, aktiver und für das entsprechende Alter noch rüstiger auf der anderen Seite gegenüberstehen, dann kann der Ausgang ja kaum zweifelhaft sein. Daher ist man im Osten unnachsichtig streng und gewährt der Bevölkerung viele „Genüsse“ nicht, die sich bei näherer Betrachtung als extrem gesundheitsschädlich herausstellen. Man weiß ganz genau, daß üppige wie auch fehlerhafte Ernährung, vor allem falscher Fettkonsum zu vorzeitigem Siechtum führen, und das unfreiwillige Massenexperiment des zweiten Weltkrieges hat bewiesen, daß knappe Ernährung gesund erhält.

Doch im Westen hat man daraus nichts zu lernen verstanden. Alljährlich ereignen sich Katastrophen durch die Bearbeitung und Verfälschung der Nahrungsmittel, und auch so aufrüttelnde Fanale wie das nationale Unglück von. Meknes regen das Denken nicht an. Die Grundlagen moderner Ernährungslehre hat man mitten in der Hochkonjunktur in, Zentraleuropa weitgehend vergessen, die Verantwortlichen an der Spitze der Völker haben noch gar nicht erkannt, wie weltentscheidend hier richtige Maßnahmen wären.

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