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Digital In Arbeit

„Brot und Arbeit!“

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Früher einmal, und so lange ist es gar nicht her, versprachen die politischen Parteien den Wählern „Arbeit und Brot!“. Eine Parole, die heute kaum noch in Mitteleuropa Anklang finden dürfte. Politiker versprechen heute ein Leben ohne Arbeit und Brot!

Februar 1946. Arlbergexpreß der Ennsbrücke.

Dutch den überfüllten Zug drängen sich russische Soldaten, kontrollieren die Viersprachenausweise, die man ihnen teils gleichgültig, teils angsterfüllt zeigt. Der Blick gleitet hinaus auf die liebliche Gegend rings um die Ennsbrücke, und man erkennt eine vielköpfige Gruppe entlassener Kriegsgefangener, die in unvorstellbar zerrissenen Uniformen halbverhungert warten, bis man sie endlich über den Fluß nach Westen hinüberläßt. Und plötzlich wirft irgend jemand ein Stück Brot den Männern zu, die wie elektrisiert aus ihrer Lethargie erwachen und sich fast balgen. Weitere Lebensmittel werden aus den Fenstern geworfen. Die Männer, denen das durchgemachte Leid der östlichen Gefangenschaft noch in das Gesicht geprägt ist, huschen die Waggons entlang. Und bücken sich nach dem kleinsten Speiserest.

Jänner 1961.

Das Abendprogramm des Fernsehens beginnt mit „Zeit im Bild“.

Man sitzt gemütlich vor dem Fernsehschirm und hört die letzten Abendnachrichten, dann kommen die ersten Bildberichte. Zuerst zeigt man die Hungersnot im Kongo: Kinder werden sichtbar, ausgemergelt bis zum Skelett, denen die Haut über den Knochen aufgeplatzt ist und deren' große, in tiefen Höhlen liegende Augen eine einzige Anklage sind. Man sieht Menschen elend verhungert auf der Straße liegen und die Stimme des Ansagers nennt Zahlen, grauenhaft hohe Zahlen. Man verfolgt diese schrecklichen Darstellungen voll Interesse, man hat eben gut genachtmahlt und wundert sich, daß solcherlei überhaupt möglich ist …

Wien, Juni 1961.

Man streikt.

Und die Lebensmittel, das Obst, das Gemüse, das in diesen Tagen verdirbt? Wen kümmert das schon ᾠ

Die veränderte Ernährungsgewohnheit

Über den Verbrauch der einzelnen Nahrungsmittel werden genaue Statistiken geführt. Man kann relativ leicht den Durchschnitt berechnen und gewinnt auf diese Weise einen Überblick über die Ernährungsgewohnheiten. über die Geschmacksrichtungen und den Aufwand für Lebensmittel. Und da zeigen sich doch große regio nale Unterschiede, die zu einem recht erheblichen Teil die ganze wirtschaftliche Situation widerspiegeln. In manchen Ländern langt es kaum zu einer einmaligen Sättigung pro Tag, wo man glücklich ist, wenn man eine Handvoll Reis bekommt und wo Fleisch ein unerreichbarer Luxus ist.

. gibt Miįionęn Erdenbürger, die ständig hungern und unsagbar kümmerlich dahinvegetieren, während anderswo infolge Übersättigung eine ausgesprochene Launenhaftigkeit des Appetits und zunehmende Übergewichtigkeit um sich greifen.

Wer ißt eigentlich noch Brot, dieses einst so wichtige Nahrungsmittel? Unbestechlich zeigen die Berichte, daß der Brotverbrauch immer mehr zurückgeht. Man ißt Weißgebäck, viel mehr Mehlspeisen und andere zuckerhaltige Speisen. Der Durchschnittsbürger nimmt während eines einzigen Monats mehr als zweieinhalb Kilogramm Zucker in irgendeiner Form zu sich. Schon die Schulkinder bekommen heute kaum noch Brot mit, sondern Schnitten und andere Leckereien. Vom Mittagstisch ist das Brot so gut wie überall geschwunden, und selbst dort, wo noch Brot gegessen wird, fordert man immer neue Geschmacksänderungen. Lediglich die verschiedenen Diätbrote zeigen eine leichte Umsatzsteigerung, die herkömmlichen Brotsorten kommen hingegen immer mehr aus der Mode. Und auch der kleinste Bäcker führt heute Mehlspeisen, Kuchen in allen Formen und macht damit ein wesentlich besseres Geschäft als mit dem Brot, dessen Preis fixiert ist.

Unübersehbare Folgen!

Durch das Brot wurde in früheren Zeiten des Menschen Vitaminbedarf an Bx gedeckt. Der Tagesbedarf beträgt ungefähr 1,6 Milligramm, und dieses Mindestquantum ist für die Gesundheit unerläßlich. Längeres Fehlen bewirkt schwere, komplexe Störungen der Körperfunktionen, und in ganz besonderen Fällen kann es zu lebensbedrohlichen Krankheiten kommen. Die Darmflora wird zerstört, die Körperzellen zeigen eine wesentlich her abgesetzte Regenerationskraft, und das ganze Nervensystem wird weitgehend geschädigt. Brot führt dem Organismus aber auch die für den Stoffwechsel so notwendigen Mineralien zu, die allein das Knochenwachstum, die Erhaltung des natürlichen Gefüges be- wirkcn. • Mfflsslewihrw.. .führt zu vorzeitiger Degeneration am Skelettsystem, zu chronischen Darmstörungen und bildet die Basis für viele andere Krankheiten.

Seit der Brotverbrauch in den westlichen Ländern ständig zurückgeht und obendrein — allen medizinischen Aufklärungen zum Trotz — durch das Ausmahlen die Vitamine und Mineralstoffe weitgehend aus dem Mehl eliminiert werden, muß es früher oder später zu entsprechenden organischen Veränderungen kommen. Man zieht immer mehr das praktisch wertlose Weißgebäck vor, wenn man nicht überhaupt nur Mehlspeisen zu sich nimmt, und ist allen Ermahnungen gegenüber wie taub. So ist man in manchen Ländern (USA, England, Dänemark und Israel) dazu übergegangen, die Revitaminisierung des Brotmehles gesetzlich vorzuschreiben, womit man allerdings nur einen gewissen Teilerfolg erzielt. Denn damit wird wohl das verzehrte Brot vitaminhaltiger, der Brotverbrauch im ganzen bleibt aber gleich — oder sinkt weiterhin ab.

Es geht um die Zukunft

Man hat sich bekanntlich oft gefragt, wie die Menschen in Mitteleuropa und die Soldaten an der Front während des zweiten Weltkrieges diese ungeheuren Strapazen überhaupt ertragen konnten. Es gab keine Infektionskrankheiten und einen überdurchschnittlich guten Gesundheitszustand. Und oft fehlten frisches Gemüse und Obst, und die erwarteten Schäden blieben trotzdem aus. Denn es gab während des ganzen Krieges ein sehr gesundes und im biologischen Sinn hochwertvolles Brot, das besonders als Kommißbrot das Hauptnahrungsmittel während vieler Jahre darstellte. Stoffwechselkrankheiten gingen fast bis zum völligen Verschwinden zurück und man war auch den größten körperlichen Anstrengungen gewachsen.

Ähnliches geschieht heute noch in vielen Ländern des Ostens, wo man — von Staats wegen — das Ausmahlen des Mehls weitgehend unterbindet. Das Brot, um das die Menschen jahrhundertelang inbrünstig gebetet haben, ist nach wie vor die Grundlage der richtigen, der lebenserhaltenden Ernährung.

Man hat dies manchenorts vergessen.

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