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Die Welt kann man in Machtblöcke, Klimazonen oder Erdteile einteilen, aber auch danach, was, wie und womit gegessen wird. Essen und Trinken sind der Schnittpunkt des Lebens des/der einzelnen mit gesellschaftlicher Ordnung und wirtschaftlicher Entwicklung, mit Kultur und Religion. Die Slow Food-Bewegung und eine Philosophie des Genusses, ein Gespräch mit Gourmetkritiker Christoph Wagner, ein Plädoyer für den grünen Tee und eine Geschichte des "Lustgetränkes" Schokolade erwarten Sie auf den kommenden Seiten. Redaktion: Cornelius Hell

Essen ist von der Gemeinschaft geprägt und bestimmt. Man ist gewohnt, das Essen nicht nur gemeinsam einzunehmen, sondern das Vorhandene auch mit anderen aufzuteilen. Es sind Begriffe des Essens, die wesentliche Aspekte unseres Gemeinschaftsdenkens bestimmen. Kumpane, Kumpel und Compagnons sind jene, mit denen das Brot geteilt wird, bei Tisch, im Hause, im Krieg und im Wirtschaftsleben, es sind die, mit denen man auf Gedeih und Verderb verbunden ist, auch wenn unter Kumpeln und Kumpanen inzwischen mehr die Zechgenossen als die Essgenossen verstanden werden.

Am gleichen Tisch zu sitzen, mit gleichem Besteck zu agieren, vom gleichen Geschirr zu essen, die gleichen Gerichte zu verzehren, macht die Tischnachbarn, die gemeinsam genießen, zu Genossen. Das Mahl trennt die Tischgenossen von den Ausgeschlossenen. Die gemeinsame Mahlzeit gilt als Form der Treuebekundung, die die Sicherheit des Zusammengehörens bekräftigt, bei Festen, Geschäftsanbahnungen und Verträgen.

Tischgenossen

Allein zu speisen, mythischen Traditionen folgend, war einmal Vorrecht der Könige. Allein zu essen wird häufig entweder als asoziales Verhalten oder als Schlemmerei angesehen. Die "Völlerei" wurde im mittelalterlichen Todsündenkatalog häufig in dieser Art dargestellt. Allein oder in Stillschweigen zu essen galt auch als Form besonderer Askese, die von strengen Büßerorden, etwa den Kartäusern, geübt wurde. An Wochentagen isst der strenge Kartäuser allein in seiner Zelle. Die Speise wird ihm durch eine Öffnung neben der Tür gereicht. Nur an Sonn- und Feiertagen wird die Mahlzeit, die immer fleischlos ist, gemeinsam eingenommen.

Genau genommen kann man essen und trinken ohnehin nur als Einzelner: "Was einer isst, kann kein anderer essen", schrieb schon Georg Simmel in seiner berühmten "Soziologie der Mahlzeit". Die Nahrung ist im strengen Sinne mit niemandem teilbar, weil sie im Akt des Konsumierens vom Einzelnen verbraucht und vernichtet wird und anders als Kleidungsstücke, Möbel oder Automobile von niemand anderem mehr ein zweites Mal oder gemeinsam verwendet werden kann. Es gibt keinen natürlichen Zwang, Essen gemeinschaftlich auszuüben. Essen trennt mehr als es verbindet.

Die Esssitten und -rituale, die geschmacklichen Vorlieben und Peinlichkeitsschwellen wie die Formen des gemeinsamen Essens sind Resultate sozialer Übereinkunft und individueller Selbstdarstellung. Man isst in Gemeinschaft. Gleichzeitig ist der moderne Mensch peinlich bemüht, mit dem Essen anderer nicht in Berührung zu kommen: es erfüllt viele mit Ekel, aus einer gemeinsamen Schüssel essen zu müssen oder ein benütztes Essbesteck oder Glas zu erwischen.

Essen trennt und verbindet

In der Ordnung des Essens spiegeln sich komplexe soziale Beziehungen und Ordnungen: Freundschaft, Herrschaft, Ansehen. Allein die Aufzählung entsprechender Beziehungswörter spricht Bände: Tischgemeinschaft, Tischsitten, Tischordnung, Tischpartner, Tischgespräch, Tischrede, Tischmusik, Tischlesung, Tischgebet... Es sind mythische Wurzeln: das Opfermahl, das Gastmahl, das Festmahl, das Teilen und Vereinigen, das Feiern und Fasten. Dass die wichtigsten Überlebensmittel, die Nahrungsmittel, unter den Mitgliedern der Gemeinschaft aufgeteilt werden, ist altes Herkommen. Dass dabei Hierarchien und Geschlechterrollen zum Ausdruck kommen, ist eigentlich selbstverständlich.

Essen bedeutet mehr als den Hunger stillen: Nicht nur, was man isst, ist von Bedeutung, sondern auch wie und mit wem. Zuvorderst steht aber das "was" und das "wie viel": Dass der prozentuelle Anteil der Ausgaben für Essen und Trinken mit steigendem Einkommen rückläufig ist, stellte schon der sächsische Statistiker Ernst Engel fest, was als "Engelsches Gesetz" in die Grundkurse für Nationalökonomie eingegangen ist. Auch dass es Produkte gibt, deren Verzehr mit steigendem Einkommen abnimmt oder überhaupt aufgegeben wird, passt in dieses "Gesetz": Hafer, Dinkel, Mais, Kartoffeln gehören hieher, was nicht ausschließt, dass derartige Nahrungsmittel in der Reform- und Gesundheitsküche in neuer Form und Verwendung wieder auftauchen.

Der Wunsch nach Abwechslung und das Beharren auf Vertrautem stehen in einem eigentümlichen Spannungsgefüge: Mutters Küche und die Vorliebe für heimische Gerichte kämpfen mit dem Boom exotischer Lokale und neuer Geschmackseindrücke. Der Drang nach Abwechslung konkurriert mit den genormten Standardgerichten internationaler Fastfood-Ketten.

Erdteile der Esskultur

Man kann die Welt in vielerlei Weise aufteilen, nach Machtblöcken und Einflusssphären, nach Kontinenten und Himmelsrichtungen, aber auch nach Essen mit den Fingern, mit Stäbchen und mit Messer und Gabel, nach Tischsitten und Umgangsformen, nach dem, was wir gewohnt sind, unter Zivilisation zu verstehen, und dem, was wir allzu voreilig als unzivilisiertes Verhalten einstufen. Mit den Fingern zuzugreifen ist die ursprüngliche Essmanier, mit Stäbchen isst man in Fernost seit drei- bis viertausend Jahren, mit Messer und Gabel in Europa seit etwa drei- bis vierhundert Jahren. Etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung isst mit Messer, Gabel und Löffel, ein Drittel benutzt Stäbchen, die Hälfte isst mit den Fingern.

Teller und Individuum

Dem Essen aus einer gemeinsamen Schüssel und dem Trinken aus einem gemeinsamen Krug kommt ein uralter, magischer Sinn zu. Es verbindet, es macht eins. Zu den Grundmerkmalen der europäischen Zivilisationsentwicklung der Neuzeit gehören die Individualisierung der Teller, Trinkgefäße und Essbestecke und die Herstellung vornehmer Distanz. Teller sind der Ausdruck radikaler Individualisierung. Der Esser, die Esserin kommen mit niemand anderem in Berührung. Gleichzeitig wird das Essen portioniert und die gegessene Menge kontrollierbar. Die Bestimmung der Essgeschwindigkeit und des Rhythmus wird dem Einzelnen überlassen. Ähnlich war es mit dem individuellen Trinkglas statt des rundum kreisenden Kruges. Die neuen Tisch- und Tafelsitten brachten einen erheblichen Aufwand an Tellern, Bestecken und Tischtextilien, die nicht nur in der Anschaffung entsprechend zu Buche schlugen und daher schon vom Preis her eine ständische Differenzierung schufen, sondern auch durch das Wissen, wie etikettegemäß damit richtig umzugehen war, Distanz herstellten.

Frauen essen anders als Männer, nicht nur was Mengen und Art der konsumierten Speisen und Getränke betrifft. Natürlich geht es zuerst einmal um die Quantitäten. Viel zu essen spiegelte einst Macht, Reichtum und Stärke: Das "starke" Geschlecht, die Götter und Helden, Herrscher und Krieger, Kapitalisten und Pfaffen wurden und werden in der Karikatur immer noch, durch starkes Essen gekennzeichnet. Esshunger und Machthunger waren einst eng beieinander.

Die Menge dessen, was jemand zu essen bekam, war, solange nichts so knapp war wie das Essen, nicht nur ein deutlicher Indikator der sozialen Stellung, sondern auch der Geschlechterrolle. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Essens, dass die Herrscher prassten und das Volk darbte. Dass der König eine Fassbreit dicker sein musste als seine Untertanen, wurde zum Stereotyp.

Hagere Revolutionäre

Die hagere Statur und das knochige Gesicht wurden den Fanatikern, Fundamentalisten und Despoten zugeordnet, von Savonarola über Robespierre bis Goebbels und Khomeini. Nur wer zu hungern versteht, sei zur Revolution fähig, so ein weit verbreitetes Vorurteil. Der Wettstreit zwischen beleibten und asketischen Eliten neigte sich seit der Aufklärung immer mehr zu Gunsten der schlanken Figur. Edle Schlankheit wurde zum Körperideal. Bis ins 19. Jahrhundert hatte der Irrglaube vorgeherrscht, dass dickere Menschen krankheitsresistenter seien. Im 20. Jahrhundert wurde Schlankheit nicht nur zu einer Frage von Gesundheit und Ästhetik, sondern auch zum Zeichen der Leistungs-, Freizeit- und Sportgesellschaft. Wenn die Mächtigen des 20. Jahrhunderts dick waren, Winston Churchill, Ludwig Erhard, Julius Raab oder Helmut Kohl, so war man zwar immer noch geneigt, damit Vertrauen zu verbinden, Vertrauen in Sicherheit, Wirtschaftswunder oder Durchschlagskraft. Dynamik aber wurde immer mehr mit dem Ideal der Sportlichkeit verknüpft.

Hungerkatastrophen ...

In Wohlstandsgesellschaften hat sich die Essenspyramide umgekehrt: Angehörige der Unterschichten nehmen mehr Kalorien zu sich als der Oberschichten. Die Menge des Essens ist kein Indikator für Einkommen und Wohlstand mehr. In der modernen Gesellschaft sind die Eliten schlank oder zumindest um Erreichung von Schlankheit bemüht. Übergewicht und Fettleibigkeit wurden zu Attributen der Unterschicht. Viel zu essen kann auch kaum mehr als Zeichen der Männlichkeit gewertet werden. Allerdings gibt es noch Reste derartigen Selbstverständnisses, in folkloristisch belustigenden Knödeless-Wettkämpfen und ähnlich archaisch oder ländlichtouristisch anmutenden Bewerben.

Das wichtigste am Essen allerdings ist immer noch, genug zu essen zu haben: Hunger ist uns fremd geworden, obwohl er in unserer Welt allgegenwärtig ist. Die letzten Hungerjahre in unserem Land liegen fast 60 Jahre zurück. Wir kennen Hunger nur von Schlankheitskuren und aus Fernsehbildern.

Die Hungerkatastrophen ereignen sich nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit. So langsam, schweigsam und unerbittlich wie sie ablaufen, eignen sie sich wenig für spektakuläre Meldungen. Die folgenreichste Hungerkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wahrscheinlich der ganzen Menschheitsgeschichte überhaupt, die große chinesische Hungersnot 1958-1961, war von der Weltöffentlichkeit jahrzehntelang nicht wahrgenommen worden. Auch heute ist sie selbst in angesehenen Geschichtswerken und Fachbüchern nicht enthalten.

Gewalt und Hunger gehören zusammen. Es zieht sich wie eine rote Linie durch die Geschichte der Menschheit: der Hunger, der Gewalt produziert, in Aufständen und revolutionären Bewegungen, und die Diktaturen und totalitären Systeme, die Hunger produzierten, von der großen Russischen Hungersnot nach der Oktoberrevolution über den Stalinschen Hungerholocaust in der Ukraine in den Jahren 1929-1933, der Hungerterror, den das nationalsozialistische System entfaltete, in den Konzentrationslagern, im Verhungernlassen von fast drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, in der ungleichen Verteilung der Nahrungsmittelrationen zwischen dem Reich und den besetzten und eroberten Gebieten, in der Hungerblockade Hollands im Jahr 1944 und in der Belagerung und dem Aushungern von Leningrad/St. Petersburg.

Die große ukrainische Hungersnot der Stalinzeit forderte 14 bis 20 Millionen Tote, verursacht nicht durch Wetterunbilden oder Übervölkerung, sondern durch Terror und Unfähigkeit. Aus dem von Mao Tse-Tung verkündeten "Großen Sprung nach vorn" wurde ein großer Sprung in die Hungersnot. Nach neuesten Forschungen waren Ende der fünfziger Jahre in China mindestens 30, wahrscheinlich bis zu 75 Millionen Hungertote zu beklagen.

Die Liste reicht von Lenin und Stalin über Hitler und Mao bis zu Kambodscha unter den Roten Khmers, Äthiopien 1983-1985 unter Präsident Mengistu und Nordkorea heute ... Man schätzt, dass in Nordkorea 1995-1997 rund 2,5 Millionen Menschen verhungerten. Und wie viele werden es im Irak sein?

... vom Menschen gemacht

Die Bedrohung durch Hunger hätte eigentlich kleiner werden müssen. Die Weltgetreideproduktion stieg von 1870 bis 1990 fast doppelt so rasch wie die Weltbevölkerung. Hunger bis ins 19. Jahrhundert war von Natur und Mensch gemacht. Hunger im 20. Jahrhundert war fast nur von Menschen gemacht. Die Herausforderungen für das 21. Jahrhundert sind gewaltig. Die Weltbevölkerung wird weiter steigen. Wird der Boden, das Wasser, die Energie, der agrartechnische Fortschritt für die Abdeckung des steigenden Bedarfes reichen? Und werden wir aus den großen Terrorkatastrophen des 20. Jahrhunderts endlich lernen, Hunger ökologisch und politisch unmöglich zu machen?

Der Autor ist Professor für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Linz.

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