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Der Krieg und der Urmensch

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War der Krieg, „Kampf mit bewaffneter Hand zwischen zwei Völkern oder zwei Parteien“, eine der ersten Äußerungen kollektiven Lebens? Kann er, wie uns unter Berufung auf die verschiedenen Reflexe unserer sehr langen Geschichte versichert wird, mit dem Tage angesetzt werden, an dem die Menschen in Erscheinung traten?

Es wird behauptet, daß der Krieg uhs irgendwie „im Blute liege“, daß er Bestandteil unseres physiologischen Erbgutes sei. Man spricht vom Zeitalter des Höhlenmenschen (ohne sich viel um chronologische Präzision zu kümmern, die dieser Ausdruck erfordert), mit dem Empfinden, daß der Mensch schon vom ersten Tage an ein Wolf für den Menschen war.

Die Archäologen haben die vielen Jahrtausende, die seit dem Auftauchen der Menschen bis zum Augenblick, da ihre Geschichte aufgeschrieben wurde, verstrichen sind, in zwei Hauptgruppen von chronologisch sehr verschiedener Bedeutung eingeteilt: die paläolithische Epoche oder Altsteinzeit und die neolithische oder jüngere Steinzeit, das Bronze- und Eisenzeitalter. Zwischen diesen beiden großen Gruppen schiebt sich die mesolithische Epoche ein, von der man sich einst vorstellte, daß in jener Periode Europa unbewohnt war.

Der Krieg ist ein Kampf der Interessen; diese können, offen oder verschleiert, von sehr verschiedener Beschaffenheit sein. Was die „nichtzivilisierten“ Völker betrifft, darf angenommen werden,’ daß das wichtigste Interesse das der Nahrungssuche war. Bildete sie nicht die Basis aller übrigen Interessen? Für ein derartiges Unternehmen haben die Jägervölker, unsere Vorfahren, vielleicht sehr rasch unter sich Gebiete abgegrenzt, in die die Nachbarn nicht eindrin- gen durften. (Auch die heutigen Jägervölker machen es noch so). Diese Abgrenzungen wurden respektiert.

In seinen Anfängen konnte sich das Leben des Menschen in einem sehr günstigen Klima entwickeln. Man hat es mit dem der Azoren oder Kanarischen Inseln verglichen. Die Tierwelt war damals allem Anschein nach reichlich vertreten. Die Menschen sind noch spärlich. Unter solchen primitiven Verhältnissen war die Kindersterblichkeit sehr groß. Überdies war — wie uns Skelette fossiler Menschen gezeigt haben — die Dauer des menschlichen Daseins sehr kurz.

Dies Menschen sind Jäger und also Nomaden. Sie sind auf weite Distanzen verstreut, Ganz Europa (wir sprechen hier nur von den Europäern) ist ihre Domäne. Während vieler Jahrtausende bleibt sich ihre Existenz gleich, bis zum Einbruch der Eiszeit. Diese war, im Gegensatz zu dem, was man anfänglich annahm, in gewisser Hinsicht ein günstiges Phänomen für die menschliche Ernährung. Da die Gletscher einen Großteil Europas bedeckten, sammelten sich die wilden Tierherden auf beschränktem Raum an. Und die Jäger hatten fast überall eine reichliche und Abwechslung bietende Speisekammer zu ihrer Verfügung. Das war besonders in Frankreich der Fall, auf dessen Boden sich die verschiedenen Kapitel der Urgeschichte klarer abzeichneten. (Darum ist es so reich an paläolithischen Fundstationen.)

Erst Jahrtausende später, wenn ein weniger kaltes und trockeneres Klima herrschen und die Eisschmelze diese Fülle einschränken wird, verziehen sich die Tiergattungen in alle Richtungen und die Vegetation wird von ihrem früheren Erdstrich wieder Besitz nehmen.

Ohne der Phantasie in dieser Beziehung die Zügel schießen zu lassen, ist an Hand der beiden Faktoren: Menschen in geringer Zahl und Überfluß an Nahrungsmitteln, die Annahme erlaubt, daß in jener fernen Zeit ein sozialer Zustand herrschte, in dem die üblichen Beziehungen zwischen Individuen friedlicher Natur waren.

Das Zeitalter des Höhlenmenschen erscheint demnach nicht als eine Epoche, in der die noch unzulänglichen Menschen, zu Gruppen vereinigt, sich gegenseitig erschlagen hätten, sobald sie einander begegneten. Im Gegensatz zu dieser schlechten Meinung darf an die fromme Sorgfalt erinnert werden, die die Menschen des Paläo- lithikums manchen ihrer Toten zuteil werden ließen; die erste Kunde von einem Jenseits wird so durch die Bestattung offenbar. Nein! Der Mensch der Steinzeit war kein wildes Tier, wie man so gerne wähnt, um gleichsam durch diesen verhängnisvollen Atavismus die Greuel unserer Epoche zu entschuldigen. Keine erbliche ursächliche Beziehung zu unseren Jägervorfahren kann ins Treffen geführt werden. Es sind erst die seßhaften Menschen, die den Krieg ersonnen haben.

Am Ende der paläolithischen Periode, nach dem einzigartigen Zeitabschnitt, den die Entfaltung der Magdalenienkunst darstellt, erleidet das menschliche Dasein in seiner materiellen Struktur tiefe Veränderungen. Das Inventar der Tiergattungen weist Lücken auf. Mehrere von ihnen sind verschwunden, ausgestorben. Viele sind ausgewandert. Das Rentier und der Moschusochse dem Norden zu, der Vielfraß und der Lemming folgen; in die Höhen treibt es die Gemse, ‘das Murmeltier, den Steinbock und den Alpenhasen. Wieder andere wandten sich der asiatischen Steppe zu, wie die Saiga-Antilope. So haben die Jäger, die in ihren früheren Behausungen Westeuropas verblieben waren, die wilden Tierherden nur mehr in verminderter Zahl vorgefunden. Zum erstenmal sind die Menschen gezwungen, sich infolge ungenügender Nahrungsmittel an den Küsten des Ozeans niederzulassen, um sich dort dem Muschelsammeln zu widmen. Sie werden Reste ihrer Mahlzeiten in oft unvorstellbaren Mengen an den Ufern zurücklassen. Um sich von der Veränderung der Ernährung zu überzeugen, muß man die berühmten Depots von Mugėm im südlichen Portugal, einer herrlichen Region, gesehen haben oder jene des dänischen Küstenstrichs.

Zu jenem Zeitpunkt begibt sich ein wichtiges Ereignis, dem in den Annalen der Zivilisation Rechnung getragen werden muß: der Haushund taucht auf.

Bald wird sich die große Umwälzung der gesamten europäischen Geschichte ankündigen: die erster; seßhaften Völker, Ackerbauern und Hirten, lassen sich nieder.

Nun wird es zu Kriegen kommen.

In der Folge wird der Versuch unternommen, jenes grausame Abenteuer zu demonstrieren, das die Zivilisation der sogenannten jüngeren Steinzeit über Europa brachte.

Der Krieg, „Kampf zwischen Völkern und Parteien“, kann aller Wahrscheinlichkeit nach nicht am Beginn der paläolithischen Periode der Menschheitsgeschichte angenommen werden, vielmehr muß man sich mit fast völliger Gewißheit vorstellen, daß er zum erstenmal in der neolithischen Periode auftaucht. Erinnern wir daran, daß die Menschen der Altsteinzeit ausschließlich Jäger, Nomaden waren. Ihr tägliches Dasein erschöpfte sich in der Jagd auf wild schweifende Tiere und der Ernte von Früchten. Das neolithische Zeitalter kennt vor allem den seßhaften Menschen, den Ackerbauer und Hirten, die sich fast überall auf dem Kontinent in Dörfern niedergelassen haben, die an manchen Orten — Hendaye — sogar zu großen Ansiedlungen anwuchsen oder in Pfahlbauten lebten. Diese Menschen säen den Weizen, die Gerste, die Hirse, sie haben bereits den Haushund und züchten das Rind, die Ziege, das Schaf und das Schwein.

Ein solches Diptychon gibt demnach von zwei sehr verschiedenen Stadien der Zivilisation Kunde.

Und hier dürfen vir daran erinnern, daß die Archäologen zwischen der paläolithischen und der früheren Steinzeit wegen ihres Klimas, ihrer Tierwelt und Zivilisation usw. eine Zwischenperiode eingeschaltet haben: das mesolithische Zeitalter. Wir haben Grund anzunehmen, daß dieser Zeitpunkt sich für die Jäger sehr schwierig erwies, weil sich das Wild nicht mehr im Überfluß früherer Zeiten zeigte. Diese aller Wahrscheinlichkeit nach in geringer Zahl vorhandenen Nomaden finden sich auch noch in der neolithischen Epoche und ihr heutigen Nachkommen bilden in einem Teil Südeuropas jene Rasse von kleinem Wuchs und dunkler Hautfarbe, die wir mit Homo meridionalis bezeichnen.

Kann man sich nicht vorstellen, daß dies besitzlosen Nomaden, die niemals durch eigene Kraft die Jägeretappe hätten überschreiten können, auf ihren zahlreichen wenig lohnenden Streifzügen die Reichtümer der Ackerbauern und Hirten wahrnahmen und daran ihren Anteil haben wollten? Ein Begriff von Gemeinschaft, der voraussetzt, daß alle Güter dieser Welt jedem gehören und daß alle Individuen einer Grupp gleiches Recht auf Besitz haben, ist im Bereich der Völkerkunde nicht unbekannt.

Wir können nur Hypothesen darüber aufstellen, was sich zwischen den beiden Menschengruppen im Augenblick ihres ersten Zusammentreffens ereignet hat. Wir wissen jedoch, daß in der Frühsteinzeit schwere Konflikte zwischen den Menschen existierten, denn was ihre Erdbehausungen betrifft, findet man besonders wichtige Verteidigungsmittel: Verschanzungen, Erd- und Steinwälle, Trennungsgräben, die nie ohne ernstliche Gründe errichtet worden waren. Auf den Gewässern präsentierten die Pfahlbauhütten aller Wahrscheinlichkeit nach gleichfalls ein Mittel wirksamen Schutzes.

So scheinen alle Funde der prähistorischen Archäologie die Notwendigkeit zu beweisen, eich an allen Orten gegen eventuelle Angreifer wirksam verteidigen zu können. Bestanden diese Angreifer nur aus Nomadenjägern, von welchen hier schon die Rede war?

Kann nicht vermutet werden, daß die Ankömmlinge nicht nur die früheren Besitzer des Bodens zu Gegnern hatten, sondern auch die Mitglieder des eigenen Stammes oder der Horde? Unter ihnen existierten zweifellos Gruppen, welchen es nicht gelungen war, fruchtbare Erdstriche zu besetzen, weshalb sie sich günstigerer Gebiete zu bemächtigen suchten. Das materielle Interesse überwog das nationale oder Sippensolidaritätsempfinden und lockerte es. Die am meisten Begünstigten unter den Menschen des Neolithikums hatten es demnach mit zweierlei Feinden zu tun: mit denen, die zuerst von einem Terrain Besitz ergriffen hatten, und außerdem mit ihren eigenen unzufriedenen Stammesgenossen.

So waren es offenbar materielle Interessen, die die ersten Kriege verursachten: die Besitzlosen suchten sich das anzueignen, was ihnen mangelte. Haben sich die Motive eines Angriffs — trotz aller Verschleierung — seit der jüngeren Steinzeit geändert?

Um andererseits das Existieren von Kriegen während der neolithischen Epoche mit Hilfe von noch gültigeren Beobachtungen als jenen der Befestigungsgürtel aufzuzeigen, genügt es, sich der menschlichen Skelette zu erinnern, die noch tiefeingedrungene Pfeil- und Speerspitzen aus Kieselstein aufweisen. Diese Zeugen von Kämpfen finden sich an manchen Orten. Bei den Grabungen in den Marnegrotten entdeckte Baron de Baye eine gewisse Anzahl dieser gefährlichen Waffen, die noch in der Wirbelsäule, im Schienbein, im Darmbein usw. staken. Dr. Prunieres, der glückliche Erforscher der Grotten von Lozere, konnte seinerseits eine ganze Kollektion ernten. Die Waffen mußten mit besonderer Kraft ge- handhabt worden sein, um tief bis auf die Knochen einzudringen und sich dort einzukerben. Jene Waffen, die nur durch das Fleisch gedrungen waren, konnten natürlich nicht an der ursprünglichen Stelle gefunden werden. Doch ermöglichen einige sehr sorgfältig vorgenommen Höhlenforschungen die Kenntnis weiterer Details. In einer dieser Höhlen und der Erdschicht unter ihr entdeckte Baron de Baye übereinander gelagerte Skelette, deren Knochen im allgemeinen noch die anatomischen Zusammenhänge konserviert hatten. Einer der Wirbelknochen, der nodi seine Position im Rückgrat einnahm, zeigte ein Projektil aut Kieselstein, das tief im rückwärtigen Teil festsaß. Der Krieger der jüngeren Steinzeit hatte demnach den Pfeil von vorne empfangen. Eine große Zahl gleidiartiger Pfeile lag auf dem Boden. Sie „waren offensichtlich von den Leichen gefallen, als die Zeit ihr zerstörendes Werk auf das Fleisch vollbracht hatte. Die Grotte enthielt nur Männer, die durch ihren Wuchs und ihr Alter befähigt waren, dem Kampf tandzuhalten. Die Opfer dieses Kampfes waren zu gleicher Zeit begraben worden“. (Cartailhac)

Vom Neolithikum an wird also den Besitzern besseren Bodens, besseren Klimas oder eines sonst begünstigten Landstrichs der Krieg erklärt von jenen, die minder bedacht erscheinen. Noch sind es nicht die Handelsund Industriekriege, denn die Ausnützung der Schätze der Erdtiefe — mit Ausnahme des Kieselsteins — hat noch nicht begonnen. Sie werden nicht lange auf sich warten lassen.

Das Bronzezeitalter mit all seinen Erfindungen und den wirtschaftlich-sozialen Folgen, die sich daraus ergeben, wird bald den ersten Anlaß bilden zur Entfesselung dieser Art von Kriegen.

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