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Die Menschheit eine Familie

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Herodot, der „Vater der Geschichte“, hat zielweisend für alle Zukunft den Auftrag ausgegeben: „Das Studium des Menschen ist der Mensch!“ In den Jahrhunderten, die seitdem vergangen sind, ist Vieles und Bedeutsames in der Menschheitsgeschichte geklärt worden; ein berufener Sachkenner, der amerikanische Physiologe und Nobelpreisträger Alecis Carrel, mußte trotzdem erst vor wenigen Jahren auf sein gedankenreiches Buch die Aufschrift prägen: „Man-the unknown“ („Der Mensch, das unbekannte Wesen“).

Sehr spät erst hat die Wissenschaft vom körperlichen Sein des Menschen sich als Anthropologe oder Rassenkunde selbständig gemacht. Ihre Aufgabe sieht sie int Ergründen der „Naturgeschichte der Hominiden in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung“ (nach Rudolf Martin); sie untersucht alles Körperliche im gesamten menschlichen Formenkreise, kennzeichnet die menschlichen Rassenmerkmale und begründet deren Entstehen, Vererben und Abwandeln; sie vergleicht die jetztzeitlichen Menschenformen mit jenen, deren spärliche Reste aus tiefgelagerten Erdschichten gehoben werden. Zeitlidie Tiefen und räumliche Weiten, in welche einzudringen die Anthropologie sich bemüht, finden allein dort ihre Grenzen, wo der Mensch selbst erstmalig erscheint.

Einen ansprechend bequemen und durchaus verläßlichen Einblick in das Werden und Wirken, in die Ziele und Erfolge der naturwissenschaftlichen Menschheitskunde will die kürzlich im Naturhistorischen Museum eröffnete Sonderschau allen jenen vermitteln, die diesem Bereich noch nicht nahe genug gekommen sind. Auftraggeber ist das Bundesministerium für Unterricht, das eine allgemeine Aufklärung über den gegenwärtigen Stand der Menschheitsforschung anstrebt und das bemüht ist, die letzten Spuren unheilvollen Mißbrauches dieses Wissenszweiges auszulöschen.

Mithin braucht diese Sonderschau sich nicht eigens zu empfehlen. Beim Eingang leuchtet unübersehbar jedem Besuchet die Frage in die Augen: „Was will die 'Ausstellung?“ Als Antwort liest er: „Sie will Einblick gewähren in die vorurteilslose naturwissenschaftliche Menschheitsforschung, zumal in die menschlichen , Körperformen und Kulturen von der Frühzeit bis zur Gegenwart.“ Und schon sieht der Besucher vor sich aufgeschlagen die außerordentlich reichhaltige Dokumentation aus einer Jahrtausende alten Geschichte unseres Geschlechtes; nicht als Papyrusstreifen, Pergamentrollen oder tiefgründige Buchweisheit, sondern als wirkliche Gegenstände oder genaue Nachbildungen, als graphische Erläuterungen und echte, untrügliche Photographien. Lebensvoll spricht ihn diese Ausstellung nicht minder deshalb an, weil aus allem Verfall und Hinschwinden, von dem sie berichten muß, die Menschheit sich in fortlaufender Umbildung unaufhaltsam erneuert hat. Seit mehr als 600.000 Jahren siedeln unsere Artgenossen auf dieser Erde, trotz der ruhelos wechselnden Oberflächengestaltung; im Ablauf von etwa 20.000 Geschlechterfolgen haben sich die gegenwärtigen Menschenformen geprägt, und nebenher ist das Übermaß auswahlreicher Kulturgüter zustande gekommen, dessen Besitzes wir Kinder des 20. Jahrhunderts uns rühmen.

Kulturgeschichtliche Zeugnisse, die tief in die menschliche Frühzeit zurückreichen, bekunden ebenso bestimmt wie die aus tiefen Erdschichten gehobenen Skeletteile für damals schon eine unzweifelhafte Mehrheit von Körperbauformen, beziehungsweise Rassen und Typen. Darin liegt eine überaus bedeutsame Erweiterung unserer Erkenntnis. Nicht genug damit, verhelfen beispielsweise Mumien und Schädel, Abbildungen und Plastiken aus vorderasiatischen Ländern zu einer wirklichkeitsnahen Vor" Stellung von der gestaltlichen Ausrüstung ihrer einstigen Bewohner, die um Jahrtausende vor uns gelebt haben. Anfänglich hat sich die Anthropologie damit begnügt, die vielgestaltigen Menschenformen ein- fachhin nach diesem oder jenem äußeren Merkmal zu ordnen. Unser jetziges Wissen vom Erbgeschehen beruht auf den Mendel- sehen Gesetzen; von ihnen ausgehend und über die Chromosomentheorie Morgans hinweg wurden mit Hilfe der Zwillingsforschung in mühsamer Kleinarbeit die Grundlagen der Genetik (Erblehre) geschaffen,- Zugleich .mit diesen neuen Erkenntnissen rückte die entscheidende, Einflußnahme der Umwelt auf die Typenbildung in das Blickfeld der Bewertung, und es gelang schließlich, die menschliche Gestaltprägung mit ihren Wesensmerkmalen als ein Ergebnis der Selbstdomestikation zu deuten.

Alle Formenkreise und Rassen, Varietäten und Typen, als welche die Menschheit sich gegenwärtig vorstellt, bilden nur einen Bruchteil aus der breiten Gesamtheit, die über dieses Erdenrund hinweggegangen ist. Mit Behelfen aus der Erdkunde läßt sich jetzt schon ziemlich deutlich eine geschichtliche Aufeinanderfolge der Menschheitsformen in vier Stufen darstellen; es sind die Frühmenschen (Sinanthropus, Pithecanthropus, Äfricanthropus), Urmenschen (Neandertaler der Alten Welt), Altmenschen (Cro-Magnoh-Leute), Jetztzeitmenschen.

Bis zur ältesten Stufe hinunter erscheint der Mensch als eine geistbegabte, intelligente Persönlichkeit, als Erfinder und Gestalter wirklicher Kulturgüter, als frei sich betätigender Schöpfer eigener Gesellschaftsordnungen und organisierter Verbände, als Träger einer sittlichen und religiösen Gedankenwelt. Immer und überall ist das echte Menschliche die wesentliche Gründstruktur der Völker und Rassen; mögen ihre sonstigen Anlagen und Befähigungen, ihre gestaltlichen Modelungen und geistig-charakterlichen Eigenheiten noch so mannigfaltig sein.

Alles und jedes, nicht zuletzt die reiche Fülle gegenständlicher Güter aus dem Eigenbesitz ältester, jüngerer und jüngster Natur- wie Kulturvölker, beweist die Gattungseinheit der gesamten Menschheit zufolge ihrer Wesensmerkmale und deren verwandtschaftlichen Zusammenhang auf Grund ihrer geistigen Ausrüstung. Die Menschheit eine Familie!

Abschließend ein kurzes Wort zur technischen Durchführung dieser Ausstellung. Treu der seit seinem Bestehen gewissenhaft gewahrten, streng wissenschaftlichen Aufgabe unseres weltberühmten Naturhistorischen Museums in Wien, bietet diese neue Gelegenheitsausstellung nicht anderes als einwandfreie Belehrung der Besucher. Demnach schalten alle parteipolitischen oder systemgebundenen Rücksichten völlig aus; zu einem Panoptikum oder einer Schießbudenschau durfte sie sich ebensowenig herabwürdigen. Im großen und ganzen mußte sie sich an eine' Darbietungstechnik halten, die für Dauermuseen sich heutigentags empfiehlt. Bewußt ist von vornherein alles ungeklärt Theoretische und zweifelhaft Problematische im, weiten Forschungsgebiet der Menschheitskunde beiseite gelassen worden. Ernstes Mühen, bester Wille und viel Geschick haben, diese, inhaltsreiche Ausstellung geschaffen; den Erbauern gebührt volle Anerkennung, jedermann sei die Besichtigung bestens empfohlen.

Unsere Ausstellung will zur gegenseitigen Achtung der .Einzelmenschen sowie der kleinen und großen menschlichen Gemeinschaften erziehen. Damit weist sie den Weg zum familiengleichen Zusammenschluß der gesamten Menschheit.

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