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WISSENSCHAFT - TELEGEN

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Nicht alle Zweige der Wissenschaft können ihre Probleme auf dem Bildschirm für den Beschauer interessant demonstrieren. Die Sprödigkeit mancher Themen oder gar die Unmöglichkeit, wesentliche Vorgänge photographisch zu erfassen, stehen allen noch so bemühten Regieeinfällen oder Bildgestaltungen entgegen. In den letzten Wochen wurden wir nun Zeugen bildlicher Visionen über den Menschen, die einen infolge ihrer photographischen Verfremdung durch Zeitraffer oder Zeitlupe zuerst in oft amüsiertes Erstaunen setzten, zuweilen aber sogar schockierten. Und es gab und gibt viele, die sich durch die bildlich oder dem Kommentar angestellten Vergleiche mit Vorgängen im Tierreich sowie die in stets neuen Varianten auftretenden Beziehungen zu den

Abstammungsthesen Darwinscher Herkunft in ihrer Menschenwürde zumindest angetastet, wenn nicht gar verletzt fühlten. Nun sind Wissenschaftler, die sich der vergleichenden Verhaltensforschung verschrieben haben, oft derartigen Vorwürfen ausgesetzt und wissen sie zu tragen. Aber die vielumstrittene Lehre von der Evolution ist nun einmal die Basis aller naturwissenschaftlichen Forschungen der Gegenwart, wenn auch die Geisteswissenschaft dieser These nur zögernd zu folgen vermag. Nicht unbedeutend scheint uns in diesem Zusammenhang die Meinung der katholischen Kirche, die Professor Dr. G. Scherer in einem Artikel mit folgenden Worten umreißt:

„Nach dem heutigen Stand der Forschung scheint eines wohl sicher zu sein: Der Mensch und die heute lebenden Affen gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück. Dieser selbst ist aber ausgestorben. Es ist also genauer, wenn man sagt: Der Mensch hat tierische Vorfahren, die mit den heutigen Menschenaffen Formverwandtschaften haben. In dieser Feststellung liegt weder eine Beleidigung der Menschenwürde noch auch des menschgewordenen Jesus Christus. Denn Gott läßt Seine Geschöpfe bei Seinem Schaffen mitwirken. So hat auch die ganze Schöpfung und auch das Tier seinen Beitrag zum Werden des Menschen leisten dürfen. So konnte auch die Schöpfung daran mitwirken, daß jenes Geschöpf entstand, in welchem Gott selbst in Seine Schöpfung eingehen wollte, eben der Mensch. In dieser Annahme hegt keinerlei Schwierigkeit für den Glauben und keine Irrlehre, gegen die wir uns wenden müßten. Eine Irrlehre liegt erst dann vor, wenn behauptet wird, der Mensch habe sich aus dem Tierreich so entwickelt, daß er nur ein Produkt dieses Tierreiches, nicht aber ein Geschöpf Gottes ist. Entwicklung und Schöpfung schließen sich aber gegenseitig nicht aus. Gott schafft vielmehr den Menschen, indem Er die Entwicklung jene materiellen, biologischen und vital-seelischen Gegebenheiten zusammentragen läßt, die Er mit Seinem allmächtigen Schöpferwort umgreift. Wir dürfen nicht sagen: Schöpfung oder Entwicklung, ja noch nicht einmal Schöpfung und Entwicklung, sondern Schöpfung in Entwicklung. Damit ist nicht angetastet, daß der Mensch gegenüber dem Tier etwas völlig Neues und Höheres ist. Diese Würde des Menschen zu verteidigen, wird allerdings immer ein Hauptanliegen christlichen Denkens sein müssen.“

Die vorstehenden Gedanken wurden mit Blick auf jene Sendereihe „Wir Menschen“ des Dr. Hans Hass entwickelt, die auch den Anstoß zu unseren Betrachtungen gab. Wobei es uns entscheidend darauf ankam, „sine ira et studio“1 nüchtern und sachlich festzustellen, was sich eigentlich der Schöpfer und Gestalter dieser 13 Sendungen umfassenden Femsehreihe bei ihrer Entstehung gedacht hat

Dr. Hass folgte dabei dem Grundsatz, daß er als Biologe — im Gegensatz zu den Geisteswissenschaftlern — den Menschen nicht ausklammert, der für ihn der erstaunlichste Teil der gesamten Abstammungslehre ist. Anstoß und Motiv zur Gestaltung dieser neuen Sendereihe — die darin verwendeten Aufnahmen sind dabei nur ein Bruchteil des rund 35.000 Meter Schmalfilm umfassenden Materials für Forschungszwecke — sind eigentlich die gleichen, die ihn auch 25 Jahre hindurch bewogen haben, in die Tiefen tropischer Meere vorzudringen: das Durchforschen einer unbekannten Welt. Und dann vergleicht er die Vorgänge auf einem Korallenriff mit den Ereignissen in einer Großstadt. So wie er dort den Krebsen und Fischen nachspürte, beobachtet er nun das Phänomen „Mensch.“ Nüchtern will er ihn in all seinen Regungen sehen, gleichsam mit den Augen eines Wesens von einem anderen Stern, das keine Ahnung hat von unseren durch Tradition, Erziehung, Politik, Religion geformten und bestimmten Lebensäußerungen.

Um nun die Vorgänge in und um den Menschen, die wir als etwas Alltägliches, Selbstverständliches betrachten, deutlich zu machen, bedient er sich jener durch Verschnellung und Verlangsamung bestimmten Aufnahmetechniken. Auch hier folgt er einer Methode, die er beinahe stets bei seinen Unterwasseraufnahmen anwandte. Denn fast alle wurden mit Zeitlupe aufgenommen. Sie gestattet es zum Beispiel, die Vorgänge im menschlichen Gesicht länger zu betrachten, um dann daraus die entsprechenden Schlüsse ziehen zu können. Sieht man dagegen den Menschen in seinen Handlungen um das zwölffache beschleunigt, so tritt in diesem verfremdeten

Zeitrhythmus vieles klarer in Erscheinung als bei normalem Ablauf. Diese Zeitveränderung und das Unbeobachtetsein der jeweiligen gefilmten „Objekte“, wenn man den Menschen in diesem Zusammenhang so nennen darf, erscheinen ihm als unbedingt notwendige Voraussetzung für diese detaillierten Studien des menschlichen Verhaltens. Im übrigen ist das Zeitempfinden äußerst relativ. Insekten zum Beispiel können in einer Sekunde viel mehr wahrnehmen als der Mensch oder andere Lebewesen auf dieser Erde. Die bewußte Zeitveränderung ist also keineswegs eine ,,1'art pour Part“-Spie-lerei, um partout originell sein zu wollen, wie manche Betrachter dieser Filme glauben, sondern dient entscheidend der Aufklärung uns sonst alltäglich scheinender Vorgänge.

So wird zum Beispiel durch Verschnellung die Gleichartigkeit der Auf gabenteilung beim Beladen einer Dschunke in Hongkong und der beinahe präzisionsartigen Bewegung beim Fischtöten an Bord eines norwegischen Fischkutters deutlich. Und das genormte Zusammenwirken von Mensch und technischen Hüfsmitteln tritt einem klar und übersichtlich bei der Autofabrikation am Fließband entgegen. Zu dem Prinzip der Ordnung gehören auch die uns etwas seltsam anmutenden Formen der Höflichkeit in Japan, in die der dortige Mensch schon von Kindheit an hineingepreßt wird.

Dem Vorwurf, daß er in seinen Programmen eigentlich längst bekannte und primitive Binsenwahrheiten verzapfe, tritt Dr. Hass mit dem Argument entgegen, daß er sich bemühe, die in diesen Sendungen enthaltenen philosophischen und soziologischen Gedanken möglichst zu vereinfachen und auf die großen Stränge des Essentiellen zurückzuführen. Eine Aufgabe, die auf jeden Fall bedeutend schwieriger ist, als eine breit angelegte und gescheit anmutende Diskussion wissenschaftlicher Probleme zu bieten. Schließlich wolle er doch möglichst viele Schichten des bildungsmäßig überaus amorphen Femsehpublikums fesseln. Jedenfalls scheinen die Ergebnisse der deutschen Infratests, die allen Sendungen hinsichtlich ihrer Beliebtheit bei den TV-Konsumenten nachspüren, sein Wollen zu unterstützen. Seine Sendungen liegen auf der zwischen minus 10 und plus 10 rangierenden Beliebtheitsskala mit plus 4 nicht schlecht. Das Programm „Die künstlichen Organe“ erreichte sogar plus 7, eine Ziffer, die sonst nur Fußball- oder Skiwettkämpfe für sich buchen können.

Es ist auch nicht seine Absicht, seine Mitmenschen belehrend oder dozierend auf die Erfahrungen der Ethnologie, der Verhaltensforschung hinzuweisen. Er will nur die Menschen an die Probleme heranführen. Das Problem aber ist unser Dasein, dessen vielfältige Hintergründe nur unzureichend wissenschaftlich durchleuchtet werden. Zumeist dienen doch alle technisch-wissenschaftlichen Fortschritte der Erhöhung unserer Macht, nicht aber der Erforschung des Daseins. Diese Fernsehserie ist darauf ausgerichtet, die Erkenntnisse des Rätsels „Mensch“ zu erweitem und dem Rätsel „Natur und Welt“ näherzukommen. Dieses Wollen aber ruht auf zwei Grundpfeilern: der Tatsache der Abstammung, wie Darwin sie darstellte, und auf der Klärung der Frage: wie kam es zu dieser Evolution? Für letztere ist die Selektion der Hauptmotor, bei der unter anderem Naturkatastrophen ebenso ihre Funktion ausüben wie früher die Kriege. Die fortschreitende Technisierung hat freilich den einstigen Selektionswert verloren, ihn sogar in ein Negativum verkehrt. Denn es ist durchaus nicht immer der Stärkste, Kühnste und Intelligenteste, der sich im Kampf behauptet.

Nach den praktischen Auswirkungen seiner Aufnahmen befragt, meinte Dr. Hass, daß ihn diese eigentlich nur am Rande interessierten. So wird Professor Ploog vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München gewisse Schlüsse für die Behandlung von Geisteskranken daraus ziehen. Auch Professor Lorenz vom Wiener Max-Planck-Institut für Verhaltensforschung wird sich das reichhaltige Material für seine vergleichenden Studien von Mensch und Tier zunutze machen. Der wesentliche Wert aller von Dr. Hass filmisch festgehaltenen menschlichen und tierischen Regungen und Aktionen im Vergleich zu ähnlichen Untersuchungen liegt in der Ursprünglichkeit der Aufnahmen. Das Unbeobachtetsein ist das große und wertvolle Novum der Hass'schen Arbeit, die er zusammen mit Dr. Eibl-Eibesfeld oft unter größten Schwierigkeiten leistete. Vor allem bei den Naturvölkern mit ihrem großen Mißtrauen war das unbemerkte Filmen sehr schwer. Erstmalig wird damit dem Ethnologen und anderen Wissenschaftlern ein völlig unverfälschtes Material geboten. Die Aufnahmen werden damit zu wirklichen Dokumenten des menschlichen Daseins.

Wohl hatten sich die beiden Forscher gemeinsam mit Prot Lorenz vor ihren Reisen, die sie kreuz und quer rund um unseren Erdball führten, gewisse Themen ausgesucht und Grundkonzepte für ihre Filmarbeit festgelegt. So hatten sie von vornherein die Absicht, menschliche Mimik, Reaktionen des Ärgers, der Freude und ähnliche Emotionen mit der Kamera festzuhalten, ohne freilich zu wissen, wo und wie ihnen dies gelingen würde. Die Themen aber haben sich eigentlich erst am Schneidetisch ergeben. Bewußt hat Doktor Hass bei seinen Programmen auf jeden klanglichen Effekt, sei es Musik oder Geräusch, verzichtet, um zu verhindern, daß bei den Zuschauern falsche Assoziationen hervorgerufen werden. Trotzdem entstand eine auch den Laien fesselnde Serie, von der Dr. Hass hofft, daß sie die Abstammungslehre einem „breiten Publikum“ erläutert und überdies dazu beitragen könnte, die vorherrschende Besorgnis wegen einer Entwertung des Menschen durch Ergebnisse der Forschung zu vermindern.

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