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Macht, Bürokratisierung — und neue Einheit

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Die Entwicklung der Wissenschaft ruht auf zwei Voraussetzungen: der rationalen Weise zu denken und der Beziehung des Subjekts zum Objekt, dem Staunen, aus dem der Versuch, das Neue zu erfahren, entstand. Oder, noch schärfer ein in sich Geschlossenes in zwei Begriffe zerlegt: auf der Methode und dem Material.

Solange „Wissenschaft“ nichts anderes war als die erste, stammelnde Zwiesprache des Menschen mit der Welt oder der Versuch, die Vernunft an alten Bildern zu üben, blieb sie verborgen. Das Machtstreben der Menschen bediente sich der mythischen Beeinflussung und der ewig wirksamen Methoden der Tyran-nis. Im selben Moment aber, da die rationale Methode zu einem beherrschbaren Instrument geworden war, trat sie hervor und wurde ihrerseits wieder zur Beherrschung der Menschen verwendet. Die wissenschaftliche Ideologie, die logische Begründung, umspann den Ahnungslosen (den allezeit Ahnungslosen), durchtränkte sein Denken, durdisetzte seine Träume. Sie wurde zum vollkommenen Machtinstrument.

Aber nicht nur die rationale M e-t h o d e, auch die Ansammlung der Kenntnisse trug bittere Frucht:

Als man genug wußte, um einen Teil der Dinge beherrschen zu können, verwendete man diese Möglichkeit sofort wieder, um die Menschen zu beherrschen. Elektrizität, die Kräfte der Atome wurden zu handlichen Instrumenten der Macht wie ehemals die Donnerkeile des Zeus.

Dies also ist der eine Grundzug der modernen Wissenschaft. Er wird verstanden als Zug von der Beschaulichkeit zur Aktivität, von der Freude an den Dingen zur Beherrschung der Dinge, von der Mitteilung zur Beherrschung der Mitmenschen.

Hieher gehört die bewußte Fälschung und das Verschweigen von Tatsachen (etwa in der politischen Geschichtsschreibung aller Länder).

Hieher gehört die Verschmelzung politischer Machtmittel und wissenschaftlicher Erkenntnis (etwa im Falle der russischen Genetik, der deutschen Rassentheorie).

Hieher gehört der Einsatz ungeheurer technischer und organisatorischer Mittel, um bestimmte, für den Machtanspruch entscheidende Zweige der Wissenschaft tu fördern (etwa die Organisation der Atomphysik in den Vereinigten Staaten).

Hieher gehört der Verzicht auf reine Erkenntnis und die Betonung des praktischen, handgreiflichen Zweckes der Forschung (so die immer deutlicher werdende Abhängigkeit der Wissenschaft von Industrien statt von Mäzenen und kulturell interessierten Gruppen).

Spezialisierung Solange das Gewußte überschaubar war, hatte es organischen Zusammenhang und im Teil war immer das Ganze sichtbar gegenwärtig. Darum haben für • uns die wissenschaftlichen Leistungen vergangener Jahrhunderte, etwa R ö s e 1 von Rosenhofs Tierbeobachtungen, Goethes Grundlegung der Morphologie oder Keplers und Newtons astronomische Untersuchungen, noch immer den Zauber großer Ereignisse und lebensnaher, grundsätzlicher Taten des menschlichen Geistes, in denen das überhaupt verfügbare Material noch lebendig miteinander verknüpft war. Je mehr aber das Material des Gewußten wuchs, desto schwieriger wurde seine Uberschaubar keit, um irgendwann im 19. Jahrhundert in fast allen Zweigen der Wissenschaft eine solche Fülle erreicht zu haben, daß die Beziehung zum Wissensstoff als Ganzem (und auch nur eines Teilgebietes) verlorenging. Wohl ist uns die Möglichkeit zur Synthese, meist auf Grund genialer Vereinfachungen, noch gegeben. Und in den Ideen großer Genies, eines Planck und Einstein, lebt die Faszination der Ganzheit wieder auf, erhöht durch die abstrakte Mechanik moderner Denkweisen.

Aber dies kann den Verlust der breiten, lebendigen Beziehung zur ganzen Fülle des Materials, die Rösel von Rosenhofs, Goethes, Keplers Werk durchpulste, nicht ersetzen.

Die ungeheure Aufstapelung des Wissensstoffes in Büchern schafft Literaturprobleme besonderer Art.

Sich durchzuarbeiten zu jenem Punkt, wo das Unbekannte anfängt, also zu wissen, was bekannt ist, erfordert immer mehr Mühe und Spezialisierung. Das Ganze des Wißbaren wird aufgeteilt in kleine Parzellen. Und je breiter das intellektuelle Streben wird und je zahlreicher die Untersuchungen, desto un-wiederholbarer, unkontrollierbarer wird die Arbeit des einzelnen. Dies vor allem in den neu entstehenden Zweigen der Feldforschung, wie zum Beispiel der Ökologie, wo Phänomene in ihrer natürlichen Umwelt studiert werden und also die Wiederholung einer Beobachtung unter ganz gleichen Umweltsbedingungen im strengen Sinn nicht möglich ist.

Der einzelne baut auf Arbeiten anderer, da er nicht mehr alles übersieht; er ist also von der Gewissenhaftigkeit dieser anderen abhängig. Irrtümer können sich unerkannt durch Arbeiten hindurchziehen und in das Endergebnis eingehen. Im Ganzen der Wissenschaft steigt das Maß der Verantwortung und die Möglichkeit zu schaden.

Aus diesem Spezialistentum entsteht zweierlei: Einmal der Stand des intellektuellen Fließbandarbeiters, der an einem kleinen Bestandteil arbeitet, ohne das Ganze zu kennen, dessen Teil er ist. Vielleicht wiederholt sich hier also auf intellektuellem Gebiet dasselbe, was wir auf industriellem beim Übergang von der Handarbeit zur maschinellen Massenproduktion schon erlebt haben. Symbole hiefür sind jene wissenschaftlichen Institute, deren Arbeitsweise eine durchaus industrielle geworden ist, vor allem solche, die sich mit den Forschungen für die Kriegsindustrie beschäftigen.

Zum zweiten entsteht aber durch reine Erkenntnis die Möglichkeit der Macht, da der Spezialist im Extremfall so souverän wird, daß ihn niemand mehr zu kontrollieren vermag. Ein Präludium hie-zu mögen die Versuche Paul Kammerers in Wien gewesen sein, der durch Fälschungen versuchte, eine wissenschaft-lrche Hypothese (die Vererbung erworbener Eigenschaften) zu stützen.

Dies alles brauchen nicht Anzeichen eines „Niederganges“ zu sein, sind aber auf jeden Fall Anzeichen der totalen Bürokratisierung.

Nun gibt es aber noch eine dritte Tendenz in der modernen Wissenschaft. Und zwar, scheinbar paradoxerweise, den Ansatz zu einer neuen Vereinheitlichung.

Diese erwächst aus der Tatsache, daß die Möglichkeit rationaler Beziehungen ins Unermeßliche gewachsen ist. Wir wissen bereits so viel, daß die Knotenpunkte der Erkenntnis immer deutlicher und zahlreicher hervortreten. So erleben wir diesen Zug in der Physik von Maxwell und Robert Mayer bis E i n-stein. In der Biologie nähern sich die Gebiete der Genetik und Stammesgeschichte, die Gehirnphysiologie stellt Verbindungen zur Psychologie her und noch vieles mehr.

Dies schafft ungeheure neue Möglichkeiten. Abgesehen von der materialen Erweiterung unserer Kenntnisse, wird dem Geist die Möglichkeit einer höheren Zusammeaschau von Beziehungen eröffnet, die ihm die farbige Zusammenschau der Dinge ersetzen mag. Vielleicht wird uns so, nachdem wir die Naivität der Anschauung besessen und sie dann verloren haben, diese auf neuer und höherer Ebene wiedergegeben: wie das Kleist in seinem berühmten Aufsatz über die Marionetten beschreibt. Dies zeigt sich im Auftreten von synthetischen Richtungen und Denkweisen in vielen Wissenschaftszweigen, so den verschiedenen „Gestalt'-Theorien oder in der Biologie im Wechsel von der mechanistischen oder vitalistischen Grundauffassung des Lebens zu einer „organismischen“ (Bertalanffy, V. v. Weizsäcker).

Es sei auch daran erinnert, daß sich die Ereignisse oft in kleinen Symptomen andeuten: So setzt sich in der Biologie das Binokular mehr und mehr dem Mikroskop als gleichberechtigtes Instrument zur Seite. Das Mikroskop ist aber das Instrument der Zergliederung, der analytischen Durch sieht, das Binokular das der A n-sicht, durch das die Betrachtung, der Zauber der reinen Anschauung wiederersteht. Wer jemals mit Hilfe eines Binokulars die Mikroweit eines Wassertropfens aus einem Tümpel beobachtet hat, der wird zugeben, daß sich hier in Betrachtung der sich entfaltenden mikrokosmischen Welt der Geist Rösel von Rosenhofs, Sybille Merlans, Goethes und Fabres auf neuer Ebene, mittels und durch das technische Instrument wiederholt.

Ein zweites Symptom mag die immer entscheidendere Rolle sein, die die Ökologie, die Lehre von den Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umwelt, zu spielen beginnt. Fast scheint es, als wäre dem analytischen Blick des Anatomen der anschauende und zusammenschauende des Ökologen zur Seite gesetzt worden, um die alte Einheit der Natur auch im System der Wissenschaft wiederherzustellen.

So spielt alles durcheinander: Macht, Bürokratisierung und die Idee einer neuen Einheit.

Alle Elemente künftiger Entwicklungsmöglichkeiten liegen vor uns.

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